Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc."
Aus dem Englischen übersetzt von Tanja Handels
Klett-Cotta, Stuttgart 2021 (erscheint am 23.Januar)
512 Seiten, 25 Euro
"Ich ändere das Establishment von innen"
14:53 Minuten
Ihren Schreibstil nennt sie "Fusion-Fiction". Für den Roman "Mädchen, Frau etc." über zwölf sehr unterschiedliche Frauen bekam Bernardine Evaristo als erste Schwarze Autorin den Booker-Preis. Der habe ihre Karriere "revolutioniert".
Andrea Gerk: Der britische Booker Prize wurde 2019 aufgeteilt – übrigens nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte, weil die Juroren sich nicht einigen konnten. Also bekamen gleich zwei Autorinnen diese wichtige Auszeichnung: die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood und die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Bernardine Evaristo.
Evaristos Vater stammt aus Nigeria, ihre Mutter ist Engländerin, sie ist die erste Schwarze Autorin, die diesen Preis bekommen hat. Der Roman, für den sie ausgezeichnet wurde, erscheint jetzt in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Mädchen, Frau etc.".
Er spielt in England, vor allem in London, und es geht einerseits um die Teilhabe von Migranten aus Afrika an der britischen Gesellschaft, aber auch – das deutet ja schon der Titel an – um Gendergerechtigkeit und Diversität.
Frau Evaristo, Ihr Buch beginnt mit Emma, eine der Hauptfiguren. Sie ist eine Aktivistin; sie hat früher im Theater Aufführungen unterbrochen, die ihr politisches Empfinden gestört haben – bis der Mainstream dann geschluckt hat, was mal radikal war und Emma auf einmal auch hoffte, Teil davon zu werden, heißt es im Roman. Haben Sie selbst denn auch das Gefühl, mit dem Booker Prize jetzt endgültig Teil des Establishments geworden zu sein?
Bernadine Evaristo: Ich würde sagen, ich war schon eine Weile auf dem Weg, Teil des Establishments zu werden. Ich habe ja schon lange im Theaterbereich gearbeitet, habe Theaterstücke geschrieben seit 1982.
Ich war in dem Bereich immer eine Art Außenseiterin und nicht ganz akzeptiert vom Kunstestablishment oder vom kulturellen Establishment, aber man muss bedenken, dass ich ja auch schon seit einigen Jahren Universitätsprofessorin bin, dass ich Vorsitzende einer literarischen Gesellschaft bin, dass ich für verschiedene Zeitungen schreibe. All das deutet ja eigentlich darauf hin, dass ich Teil des Establishments bin.
Der Unterschied zu anderen Leuten ist bei mir, dass ich nach meinen eigenen Regeln Teil des Establishments geworden bin, auf meinem eigenen Weg. Ich habe den Booker Prize gewonnen für ein Buch über verschiedene Schwarze Frauen und nicht für ein Buch, was jetzt übliche, immer wieder erzählte Geschichten wiederholen würde. Ich ändere das Establishment von innen, das ist das, was ich zurzeit tue.
Viele unterschiedliche Erfahrungen Schwarzer Frauen
Gerk: Es sind ganz verschiedene Frauen in Ihrem Buch, in deren Erzählen oder Bewusstsein man als Leser hineingezogen wird. Es gibt sehr junge Frauen, mittelalte, ganz alte; sie kommen aus ganz verschiedenen Ländern und kulturellen Hintergründen. Wie hängen für Sie deren Geschichten zusammen? Ist das für Sie gewissermaßen eine Geschichte?
Evaristo: Nicht wirklich. Die Idee dahinter ist eher, dass es eben keine einzige Geschichte gibt, dass es eben so viele Geschichten und Erfahrungen von britischen Schwarzen Frauen gibt, also sehr viele unterschiedliche Geschichten. Mein Ehrgeiz bei dem Buch war, zu erforschen, was für eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten es gibt, wer wir sind in dieser Gesellschaft.
Und auch die weißen Menschen, die in meinem Buch auftauchen, definieren ja nicht das Weißsein, sie stehen nicht dafür, ebenso wenig wie die Schwarzen das Schwarzsein definieren. Ich zeige nur, wer wir waren, wer wir sind und wer wir in dieser Gesellschaft sein können.
"Fusion Fiction"
Gerk: Ihr Schreibstil ist ziemlich ungewöhnlich. Es gibt ganz wenig Satzzeichen. Dafür machen Sie Absätze und es gibt viel Dialogisches, fast Dramatisches, würde ich sagen mit dem Wissen, dass Sie auch fürs Theater geschrieben haben. Sie haben Ihren Stil selbst mal "Fusion Fiction" genannt, was meinen Sie damit?
Evaristo: "Fusion Fiction" ist die Beschreibung, die ich für diesen Roman benutze. Und das ist mir eingefallen, als ich über die Form nachgedacht habe.
Es gibt ja in dem Buch kaum Punkte am Satzende, und auf diese Art und Weise konnte ich viele Elemente in die Figuren einführen, ihnen viele Aussagen geben, die dann dafür sorgen, dass es sich so anfühlt, als würde man es jeweils in der ersten Person lesen, als würden die Personen über sich selber sprechen – obwohl ich das Buch in der dritten Person geschrieben habe. Es ist so, als ob man in den Kopf und in das Herz der Figuren eindringen kann und gleichzeitig aber noch einen Blick von außen hat.
Ich zeige von den Figuren ja auch die Vergangenheit, ich gehe bis in ihre Kindheit zurück und schlage einen Bogen bis in die Gegenwart, und das vermittelt einem dann auch das Gefühl, in ihrem Unterbewusstsein zu sein.
All das ist möglich wegen dieses fusionsartigen Stils. Ich nenne das "Fusion Fiction", und das ist ähnlich wie Lyrik, aber es ist nicht wirklich Lyrik. Es gibt in meinem Roman eine Anzahl verschiedener Charaktere, gleichwertiger Charaktere, deren Leben über verschiedene Grade der Trennung zusammengebracht wird.
"Es ist aus mit herausgeflossen"
Gerk: Ihre Schreibweise erzeugt jedenfalls einen ungeheuren Sog, man fühlt sich richtig in die Geschichten, in das Leben dieser unterschiedlichen Frauen hineingezogen, und es wirkt fast so, als sei das so aus Ihnen herausgeflossen, was ich mir aber wiederum bei so einem komplexen Text gar nicht vorstellen kann. Wie haben Sie das geschrieben?
Evaristo: Es stimmt, was Sie sagen, dass es irgendwie aus mir herausgeflossen ist, zumindest für den ersten Arbeitsteil kann man das so sagen. Es kam wirklich sehr natürlich für mich, dieses Buch zu schreiben. Wenn ich eine Figur, deren Geschichte geschrieben habe, dann floss das tatsächlich aus mir heraus, und das war eine wirklich tolle Schreiberfahrung.
Nachdem mir klar war, dass ich die Punkte am Satzende weglassen konnte, habe ich damit auch irgendwie meine Fantasie befreit. Das hat mir ganz andere Möglichkeiten gegeben, und das war der Spaßanteil des Schreibens.
Schwieriger wurde es dann mit der Überarbeitung, als ich dann hinterher noch mal durchgegangen bin. Die Satzzeichen dienen in der englischen Sprache ja als strukturgebende Elemente, und als die dann weg waren, war es schwieriger, den Roman strukturell zu überarbeiten, weil es schwer zu sehen war, wo ich genau war und was ich genau gemacht hatte.
Intersektional, weil das Buch das Leben abdeckt
Gerk: Die Frauen in Ihrem Roman – Sie haben das ja auch schon gesagt – verkörpern nicht nur Migrationsgeschichte, sondern auch eine britische Sicht auf die Welt und noch ganz viele andere Perspektiven. Könnte man sagen, dass es Ihnen um einen Blick aus dem Innern der britischen Gesellschaft geht unter der Perspektive von Intersektionalität?
Evaristo: Ja, ich wollte mal einen anderen Aspekt der britischen Gesellschaft zeigen. Es gibt ja wirklich wenig Schwarze Frauen in England, die schreiben oder damit in der Öffentlichkeit erscheinen. Wir sind praktisch im Literaturbereich nicht anwesend – das ist etwas, worauf ich schon lange Zeit lautstark hinweise. Das ändert sich auch, aber mir ging es um die Perspektive dieser zwölf Figuren, dieser zwölf Frauen, zwölf meist Schwarzer Frauen.
Dieses Buch ist intersektional, nicht weil ich es mit der Absicht geschrieben habe, ich schreibe jetzt ein intersektionales Buch, sondern weil es eben alle Bereiche des Lebens dieser Frauen abdeckt, die zusammenspielen, um ihre Identität zu bilden, ihre Sicht auf die Welt: Sie sind einmal Frauen. Die meisten sind Schwarze Frauen, manche sind queer, viele haben einen Arbeiterklassehintergrund. Manche sind Einwanderer, manche nicht – viele nicht.
Und all das spielt eben zusammen. Es gibt noch eine nicht binäre Figur, und all diese Aspekte von Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Sexualität, all das bestimmt das Leben dieser zwölf Charaktere auf sehr unterschiedliche Art und Weise.
Netzwerke junger Frauen
Gerk: Sie haben ja mehrere Jahre an diesem Buch geschrieben und mal gesagt, dass Sie, als Sie damit angefangen haben, noch gegen den Zeitgeist angeschrieben hätten. Dann kam #MeToo und vieles hat sich geändert. Wie sehr haben denn #MeToo und Black Lives Matter Ihnen und Ihrem Roman geholfen?
Evaristo: Als ich anfing, das Buch zu schreiben, gab es eigentlich kaum Interesse am Schreiben britischer Schwarzer Frauen, es gab nur wenige Ausnahmen, aber dann kam #MeToo und plötzlich wurde man ein wenig aufmerksamer. Dann kam die erste Black-Lives-Matter-Bewegung, und das Thema Ethnizität erreichte einen Platz in der Öffentlichkeit, zumindest auch in den USA und in Großbritannien. In dieser Zeit erschien dann mein Buch über Schwarze Frauen: Das heißt, das war natürlich eine andere Voraussetzung.
Ein anderer Punkt ist, dass junge Frauen zunehmend auch die Kontrolle für sich selbst in sozialen Medien übernehmen und untereinander kommunizieren, Netzwerke aufbauen, die an den Mainstream-Medien komplett vorbeigehen, damit nichts zu tun haben. Inzwischen sind natürlich die Mainstream-Medien darauf aufmerksam geworden, aber trotzdem war das etwas, was unabhängig entstanden ist. Diese und besonders die Schwarzen Frauen in den sozialen Medien nutzten eben auch diese als Mittel, das Gute in der Welt zu fördern, und sie haben eben auch mein Buch unterstützt.
"Booker Prize hat meine Karriere revolutioniert"
Gerk: Hat denn der Booker Prize an Sie als Schwarze Frau dem Ganzen auch noch mal richtig Auftrieb verschafft?
Evaristo: Das ist noch eine Untertreibung. Meine Karriere ist über Nacht revolutioniert worden mit dem Booker Prize. Ich habe dadurch praktisch alles erreicht, was ich mir jemals als Autorin hätte erträumen können. Das Buch ist in 35 Sprachen übersetzt worden, und jetzt werden auch ältere Titel von mir übersetzt. Es gibt Optionen auf Film- und Theaterproduktionen für dieses Buch.
Das war wirklich ein unglaubliches Jahr für mich. Ich habe unglaublich viel Publicity bekommen und sehr, sehr viele Gelegenheiten, mich als Autorin zu äußern, Interviews, Gespräche, das erschien mir vorher komplett unerreichbar.
Ich habe mich sozusagen entwickelt von einer irgendwie bekannten, relativ erfolgreichen Autorin hin zu jemandem, der jetzt im Zentrum der Literatur in Großbritannien steht.
Ich verkaufe natürlich jetzt auch viel mehr Bücher, knapp eine Million von diesem Buch. Es war, glaube ich, letztes Jahr das zweitmeist verkaufte Buch in Großbritannien überhaupt. Vorher war das so, dass ich vielleicht ein paar Tausend Exemplare verkauft habe, und es gab insgesamt von allen Büchern, von sieben Büchern davor nur vier verschiedene Übersetzungen – ins Ungarische, Italienische, Mandarin und Tschechische. Das ist ein Riesenunterschied, und ich bin sehr glücklich darüber.
Viele junge Leute nach Brexit engagiert
Gerk: Mrs. Evaristo, wie schauen Sie in die Zukunft jetzt mit dem Brexit und was erwarten Sie von der Politik da in Sachen Gerechtigkeit?
Evaristo: Das ist tatsächlich die erste Brexit-Frage, die ich aus Deutschland gestellt bekomme. Ehrlich gesagt versuche ich, nicht an den Brexit zu denken, so wenig wie möglich, denn es ist so eine erschreckende Realität, es ist einfach grauenvoll.
Es gibt keinen Grund, Europa zu verlassen. Es basiert auf einer Kampagne von Lügen. Boris Johnson ist praktisch unser Donald Trump, er ist nicht ganz so schlimm, aber er arbeitet sich schon an Donald Trump ran.
Ich denke trotzdem, dass es auch eine starke Lobby in England gibt, die sich für eine gleichwertige, gerechte, faire Gesellschaft einsetzt, die die großen Diskriminierungen, die immer noch an der Tagesordnung sind, in Angriff nimmt, die dagegen kämpfen möchte. Und das sind oft besonders viele junge Leute.
Ich glaube, gerade weil wir Europa verlassen haben, sind viele junge Leute sehr wütend und werden sich jetzt vielleicht noch mehr um eine gerechtere Gesellschaft kümmern, als sie es getan hätten, wenn es diesen Austritt nicht gegeben hätte. Das sind viele junge Leute, die noch nicht mit abstimmen durften, aber auch andere, die dagegen gestimmt haben.
Wir durchlaufen gerade wirklich eine sehr schwierige Zeit. Wir haben einerseits die Pandemie, und dann haben wir mit dem Austritt auch noch einen wirklich finanziellen und bürokratischen Albtraum, verbunden mit einem kulturellen Desaster, das auf uns wartet. Ich finde es nach wie vor unglaublich, dass dieses fantastische Land – denn auf viele Arten und Weisen ist es ein fantastisches Land – dass Großbritannien das gemacht hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Übersetzung: Marei Ahmia