"Staatlich oder privat? Wie der pädagogische Nachwuchs denkt" - Hören Sie hier zum Thema auch eine Reportage von Manuel Waltz:
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Die Mittel- und Oberschicht setzt sich ab
Die Zahl privater Schulen steigt. Vor allem in Ostdeutschland zeichnet sich dieser Trend deutlich ab - zumindest unter jenen, die es sich leisten können. Der Soziologe Marcel Helbig sieht in dieser Abschottung eine Gefahr für demokratische Prozesse.
Vor fast 17 Jahren, kurz nach der Schuleinführung meiner Tochter Clara: "Hier steht doch ‚weg‘, ne!?", fragt sie mich. "Weit", antworte ich. Sie weiter: "Weit... draußen...".
Wir üben lesen. Auch wenn es ein wenig mühsam ist und nicht ohne einige Flüche auf beiden Seiten abgeht. Es wird nicht lange dauern, da liest Clara Bücher.
Soziale Trennung beginnt mit dem Wohnort
Lesen, Schreiben, Rechnen lernt meine Tochter in einer städtischen Grundschule mit Montessori-Anleihen. Ihre Schule ist nicht weit entfernt, sechs Minuten zu Fuß. Wohnung wie Schule liegen im Erfurter Süden. Lockere Bebauung mit stolzen Bürgerhäusern der vorletzten Jahrhundertwende, Villen, Einfamilienhäuser. Hier wohnt die Mittelschicht. Und das merkt man auch in der Schule: Problemkinder gibt es kaum. Die Elternabende sind gut besucht.
Von Claras Mitschülern gehen fast alle aufs Gymnasium. Weil fast alle Eltern Akademiker sind. Dabei haben sie und ich unsere Kinder nur auf die zuständige Grundschule geschickt. Völlig typisch, findet der Soziologe Marcel Helbig, der eine Professur für "Bildung und soziale Ungleichheit" an der Universität Erfurt innehat:
"Dadurch, dass die Grundschulkinder dahin zur Schule gehen sollen, wo sie auch wohnen, haben wir schon eine dermaßen hohe Spaltung innerhalb der Grundschulen. Und das beobachten wir in all den Städten, wo es eine starke soziale Separierung gibt. Und da sind die ostdeutschen Städte heute sehr stark dabei."
Beschleunigte Segregation in ostdeutschen Städten
Im vergangenen Jahr hat Helbig am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung eine Studie veröffentlicht, die die soziale Durchmischung in deutschen Städten für die Jahre 2005 bis 2014 untersucht. Ergebnis: Die Segregation hat sich beschleunigt. Immer seltener wohnen Arbeiter und Akademiker, Hartz IV- Empfänger und gut Verdienende, Arm und Reich Tür an Tür. Immer seltener begegnen sie sich überhaupt. Am deutlichsten ist das nicht etwa in München oder Hamburg ausgeprägt, sondern im Osten.
Am extremsten in Rostock, Schwerin, Potsdam, Halle, Weimar und eben in Erfurt. In Städten, wo es große Plattenbausiedlungen in der Peripherie der Kernstädte gibt.
"Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, will in die schön gemachten Altstädte. Der Rest muss sehen, was übrig bleibt. Es ist uns auf jeden Fall die soziale Mischung abhandengekommen. Und ich glaube, das geht auch schnell mit einem gegenseitigen Nicht-mehr-verstehen-Können einher:
Wenn ich die ganze Zeit in meiner Blase lebe, in der der nächste Bio-Laden wichtiger ist als alles andere, und wir auf der anderen Seite ganz andere Problemlagen haben, wo es darum geht: Wo kriege ich genug Essen für meine Kinder her, ohne zur Tafel gehen zu müssen? Wenn sich dies völlig entmischt, dann ist das nicht gut für demokratische Prozesse."
Wo es Kinderarmut gibt, gibt es kaum Privatschulen
Wie viele ihrer Freundinnen besucht meine Tochter das katholische Gymnasium. Zwar waren wir Eltern uns nicht ganz einig darüber, ob es eine konfessionelle oder eine staatliche Schule sein sollte, aber letztlich haben wir uns so entschieden. Wie auch die Nachbarn und viele Bekannte. Das Gymnasium liegt auch recht nah. Für den Bildungsforscher Marcel Helbig keine Überraschung.
"Wenn man sich das vor allem in den ostdeutschen Städten anguckt, sieht man, dass das oft auch mit den sozialen Grenzen zusammenhängt. Da, wo wenig Kinderarmut ist, sind die Privatschulen. Und da, wo viel Kinderarmut ist, hat man kaum Privatschulen."
In den vergangenen Jahren hat im Osten Deutschlands eine dramatische Verschiebung in der Bildungslandschaft stattgefunden hat: Gab es noch 1990 keine Privatschulen, so lernt jetzt jeder zehnte ostdeutsche Schüler außerhalb des staatlichen Bildungssystems. Nach knapp 30 Jahren Zeit zum Aufholen liegt der Anteil der privat Beschulten im Osten damit über dem im Westen.
Noch deutlicher ist der Unterschied, wenn man den Bildungsstand betrachtet: Im Westen besuchen 17 Prozent der Kinder aus Akademikerelternhäusern eine Privatschule, im Osten aber 23 Prozent.
Hohe Hürden für ärmere Haushalte
Meine Tochter erzählt mir, dass die Eltern ihrer Mitschüler "Ärzte, Anwälte, Richter, Minister" waren. Immer wenn ich von jemandem Wichtiges erzählt habe, den ich interviewt hatte, sagte sie mir: "Ah, da ist der Sohn oder Tochter bei mir in der Klasse" oder "… in der Schule".
"Das war eigentlich relativ normal für mich", erzählt Clara. "Ich habe ja nie was anders mitbekommen. Aber ich war sehr glücklich auf der Schule. Aber ich weiß auch nicht, wie es auf einer anderen, staatlichen Schule gewesen wäre. Ich habe mich jetzt deshalb aber auch nicht elitär gefühlt oder so."
Helbig erkennt hier eine Absetzbewegung der Mittel- und Oberschicht. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Zwar verbietet das Grundgesetz die "Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern", jedoch würden Privatschulen meist wenig Anstrengungen unternehmen, auch den Kindern aus einem Hartz IV-Elternhaus den Besuch zu ermöglichen.
"Wenn ich ein Kind mit SGB II-Bezug habe, dann hat das kein Schulgeld zu zahlen", sagt Marcel Helbig. "Weil: Das ist sofort die Hürde, dass das Kind da nicht hingehen wird! Wir sehen aber ganz viele Privatschulen, die genau an der Stelle sagen: Denen nehmen wir trotzdem 15 oder 20 € ab! Und damit ist die Geschichte für die meistens schon gegessen."
Rechtliche Privilegien für Internationale Schule in Weimar
Noch problematischer, was gleiche Zugangschancen angeht, sieht er internationale Schulen, die eigentlich für Kinder von zeitweise in Deutschland arbeitenden Eltern gedacht sind, in der Realität aber auch exklusive Bildung für einen exklusiven Kreis anbieten. "Bildung ist in Thüringen käuflich" zitierte ihn jüngst eine Zeitung. Monatliche Gebühren von 700-800 € etwa an der Weimarer International School schlössen die meisten automatisch aus.
"Dessen ist man sich im Bildungsministerium auch vollkommen bewusst, denn man hat extra reingeschrieben, dass diese Schule sich nicht ans Grundgesetz halten muss. An Ergänzungsschulen darf man normalerweise nicht die Schulpflicht erfüllen und man wird nicht vom Land gefördert. Beides steht aber im Privatschulgesetz extra drin und wird nur auf diese eine Schule angewendet, dass man die Schulpflicht eben an dieser Schule erfüllen kann.
Man hat ihr quasi diese Rechte zugesprochen, ohne dass sie die Pflicht hätte, sozial für alle zugänglich zu sein. Das sehe ich eigentlich als klaren Grundgesetzverstoß an."
An der Internationalen Schule Weimar selbst sieht man das anders: Sie ist erst auf Initiative des Landes Thüringen eingerichtet worden, um die Anwerbung internationaler Unternehmen und Fachkräfte zu erleichtern. Die staatliche Unterstützung sei geringer als die für Privatschulen, also müssen man höhere Gebühren verlangen. Herbert Stütz, der Vorstandsvorsitzende des Trägervereins der Internationalen Schule Weimar:
"Die Schule kostet Geld. Meines Erachtens ist es auch die teuerste Schule in Thüringen. Das hat mit zwei Parametern zu tun: Das sind die Klassenstärken; die größte Klassenstärke, die wir anstreben, ist 22. Das ist eine luxuriöse. Das ist zu diskutieren! Hier könnten wir an der Kostenstelle schrauben. Und es ist der Fördermittelanteil des Landes. Bei uns an der Internationalen Schule ist der Fördermittel-Anteil 64% von dem, was ein Kind an Förderung erfährt, wenn es an eine staatliche Schule geht."
Private Lösung statt Auseinandersetzung mit der Politik
Marcel Helbig kritisiert die rechtlichen Privilegien für die Internationale Schule. Aber jenseits von diesem Beispiel warnt er vor allem vor den Konsequenzen der zunehmenden Privatisierung in der Grundschule:
"Im Grundgesetz hat man es so festgehalten, dass vor allem die Grundschulen als Schutzraum, als Schule für alle gelten. Man hat ein Stück weit an den Erfahrungen aus der Zeit vor der Weimarer Republik angeschlossen, dass man gesagt hat: Im Grundschulbereich sind wir zurückhaltend im privaten Bereich!
Am krassesten ist es nun in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hat es einen so krassen Anstieg gegeben, dass wir mittlerweile bei knapp 20% privaten Grundschulen sind, die sich dann aber auch in den größeren Städten extrem ballen - für eine bestimmte Klientel.
Das Schlimme daran ist eigentlich, dass die politisch mächtigste Gruppe, vor allem Akademiker-Eltern, jetzt gar nicht mehr mit Politik diskutieren, ob sie das Schulsystem in Mecklenburg-Vorpommern nun gut oder schlecht finden. Sondern sie haben einfach ihren Weg gefunden - und den haben sie über die privaten gefunden."