Boris Palmer: Merkel hält sich beim Atomausstieg Hintertüren offen
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und Mitglied im Parteirat der Grünen, befürchtet, dass die Bundesregierung es mit dem Atomausstieg nicht ernst meint.
Gabi Wuttke: Erst war man verdutzt – inzwischen ist keiner mehr verwundert, dass jeder in Deutschland so tut, als hätte er sie schon immer gewollt, die saubere Energie. Vor 30 Jahren säten die Grünen aus, und innerhalb weniger Wochen fuhr Angela Merkel die ganze Ernte ein – das ärgert die Fundis, schürt aber auch bei den Realos der Partei Zukunftsängste. Ich begrüße jetzt Boris Palmer am Telefon - der Oberbürgermeister von Tübingen sitzt seit einem halben Jahr auch im Parteirat der Grünen. Guten Morgen, Herr Palmer!
Boris Palmer: Guten Morgen, Frau Wuttke!
Wuttke: Die Bundesregierung wird jetzt von den Grünen gepiesackt, der Ausstieg sei schon 2017 möglich. Warum stellt sich Ihre Parteiführung nicht einfach hin und sagt, ohne uns gäbe es nicht mal 2022?
Palmer: Wir sagen ja, dass der Atomausstieg seit 30 Jahren unser identitätsstiftendes Parteiziel ist, das weiß auch jeder. Die Diskussion geht doch aber jetzt eher um die Frage: Können wir dem, was vorgelegt wird, zustimmen oder nicht? Und da muss ich sagen: Auch ich bin enttäuscht über das, was die Bundesregierung derzeit vorschlägt.
Wuttke: Aber wir haben noch nicht mal 80 Stunden, seitdem verkündet wurde, dass es 2022 nun endgültig werden soll. Wir können uns also nach so vielen Jahren, in denen ja auch gerade die Grünen geschrubbt haben und es dieses Boot des Atomausstiegs gar nicht gäbe, doch irgendwie auch einfach mal hinstellen und sagen: "Wir können uns ein glückliches Volk nennen." Warum denn gleich wieder draufhauen und sich nicht erst mal hinstellen und sagen: "Liebe Leute, ohne uns wäre das alles nicht möglich gewesen?"
Palmer: Das tun wir. Ich finde auch die Zahl 2022 nicht das große Problem, da unterscheide ich mich vielleicht von manchem, für den 2017 jetzt das Maß der Dinge ist. Die Schwierigkeit ist der Weg dahin. Deswegen meine ich auch, wir sollten klar sagen, so geht es nicht, aber Frau Merkel ist aufgefordert, ihr Angebot nachzubessern, denn ein Konsens tatsächlich über alle Parteien hinweg ist erstrebenswert. Wir sollten dafür sorgen, dass es nicht in ein paar Jahren wieder losgeht mit der Debatte über den Atomausstieg. Genau das befürchte ich aber, weil sich die Kanzlerin Hintertüren offenhält.
Wuttke: Sie müssen entschuldigen, dass ich trotzdem jetzt noch mal da raufharke, weil es irgendwie für mich nicht wirklich zu verstehen ist: Sie sagen, es sei jetzt wichtig, ins Detail zu gehen – das ist es sicherlich in der kommenden Zeit, aber irgendwie wirken die Grünen jetzt ziemlich selbstbezogen und wie eingeschnappt, wozu es doch gar keinen Grund gibt. Warum können wir nicht mal gelassen diese große Zäsur in Deutschland mit einem Aufatmen hinnehmen?
Palmer: Bezogen auf das Jahr 2022 könnte ich das tun. Wenn ich aber Sorge habe, dass es gar nicht das Ende ist, sondern dass es weitergehen soll, dann muss man darüber diskutieren. Ich sage Ihnen meine drei größten Probleme: Erstens, dass die sogenannte Kaltreserve selbst die Kraftwerke, die jetzt vom Netz gehen sollen, möglicherweise wieder ans Netz bringt. Zweitens, dass es keinen echten Ausstiegsfahrplan gibt, sondern dass alle anderen Kraftwerke möglicherweise bis 2021 weiterbetrieben werden können und damit dann auf einen Schlag in zehn Jahren die gleiche Debatte wie heute ansteht, können wir die überhaupt abschalten. Und drittens, dass Fukushima eigentlich gar keinen Effekt hätte, wenn das jetzt genauso beschlossen wird, weil dann schlicht der rot-grüne Atomausstieg von 2000 wieder in Kraft gesetzt wird. Ich finde, das ist zu wenig, da muss die Kanzlerin einsehen: Wer die Grünen dabeihaben will, der muss einen anspruchsvolleren Fahrplan vorlegen.
Wuttke: Aber Sie geben zu: Ohne die Konservativen kann kein Thema in Deutschland zum Mainstream und damit zum Konsens werden?
Palmer: Ja, wir brauchen eine Definition des Begriffs Mainstream, da sind wahrscheinlich die Konservativen dann mit dabei, wenn sie alle im Boot haben wollen, natürlich. Aber das muss ja dann auch für die Grünen tragbar sein. Und da meine ich: Was vorgelegt ist, ist nicht gut genug.
Wuttke: Aber müssten die Grünen denn nicht, nachdem Sie sagen können, wir haben das Boot gebaut, in dem diese Gesellschaft zusammen mit den Volksparteien jetzt sitzt, sich mit einem neuen Zukunftsthema beschäftigen, nämlich den großen Bogen zu spannen, indem nun wieder neue Wählerkreise auch zu erschließen sind? - Denn, ich habe es ja anfangs gesagt, es gibt natürlich jetzt Zukunftsängste, was die Grünen anbelangt, denn dieses Thema, das sie gestemmt haben, ist jetzt Mainstream geworden.
Palmer: Ja, das macht mir aber keine Sorgen, denn mit dem Ausstieg alleine ist es nicht getan, es muss ja auch der Einstieg folgen. Und da ist übrigens das Paket der Bundesregierung noch schwächer, denn wenn man sich klarmacht, dass trotz des Atomausstiegs die Anforderungen an den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht erhöht werden sollen – der Anteil der Erneuerbaren soll genauso hoch werden bis 2022, als wenn es keinen Atomausstieg gegeben hätte –, dann merkt man, dass dieser Ausstieg auf Kosten des Klimas gehen soll. Und da haben wir als Grüne noch eine große Aufgabe vor uns, zu zeigen, wie Atomausstieg und Klimaschutz zusammengehen. Um uns als Partei mache ich mir dabei keine Sorgen.
Wuttke: Und wie sollen diese Pläne der Nachhaltigkeit konkreter werden?
Palmer: Wenn es Investitionssicherheit gibt, wenn klar ist, die Kraftwerke gehen regelmäßig Jahr für Jahr vom Netz, dann kommt der Ausstieg auch mit dem Einstieg zusammen. Und wir haben natürlich noch große Möglichkeiten beim Energieeinsparen, da wird leider so gut wie gar nichts gemacht. Energieeffizienz ist die größte Kraftwerksquelle, die wir derzeit erschließen könnten.
Und selbstverständlich kann man nicht, so wie die Bundesregierung es vorsieht, Bayern und Baden-Württemberg durch Kürzen der Vergütungen für Windenergie und andere erneuerbare Energieformen, die Chance nehmen, jetzt endlich nachholend auch in der Windkraft und in anderen Formen der erneuerbaren Energien richtig zu investieren. Wenn man das richtig macht, wenn man auch den Vorschlag streicht, dass die erneuerbaren Energien nichts mehr zusätzlich kosten sollen, nicht mehr als heute, dann können wir die Energiewende wirklich packen.
Wuttke: Trotzdem ist ja weiterhin die Frage: Haben Sie für Ihre Partei einen wirklichen Blick in die Zukunft, oder werden die Grünen auch eben in den 30 Jahren in den Nebenlinien ihres Stammthemas weiter zugange sein?
Palmer: Das werden wir ganz sicher. Die Atomausstiegsfrage ist nämlich so, wie die Kanzlerin es vorbereitet, nicht erledigt, sondern die Konzerne werden versuchen, wie sie es schon mal gemacht haben, wieder ins Spiel zu kommen. Deswegen braucht es weiterhin die Grünen. Und ich meine auch, dass wir deutlich machen müssen, dass wir sehr interessiert daran sind, dass die Frage abschließend im Konsens aller Parteien geklärt wird, weil es um Investitionssicherheit geht. Diese Frage würde besser jetzt geklärt als weiterhin im Streit. Das ist eine Verantwortung, die die Grünen haben. Aber die andere Seite ist derzeit noch nicht bereit, diese Verantwortung ebenfalls wahrzunehmen.
Wuttke: Die Bündnisgrünen und die Energiewende, dazu im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur Boris Palmer, Mitglied im Parteirat und grüner Oberbürgermeister von Tübingen. Vielen Dank und schönen Tag!
Palmer: Vielen Dank, ebenso!
Boris Palmer: Guten Morgen, Frau Wuttke!
Wuttke: Die Bundesregierung wird jetzt von den Grünen gepiesackt, der Ausstieg sei schon 2017 möglich. Warum stellt sich Ihre Parteiführung nicht einfach hin und sagt, ohne uns gäbe es nicht mal 2022?
Palmer: Wir sagen ja, dass der Atomausstieg seit 30 Jahren unser identitätsstiftendes Parteiziel ist, das weiß auch jeder. Die Diskussion geht doch aber jetzt eher um die Frage: Können wir dem, was vorgelegt wird, zustimmen oder nicht? Und da muss ich sagen: Auch ich bin enttäuscht über das, was die Bundesregierung derzeit vorschlägt.
Wuttke: Aber wir haben noch nicht mal 80 Stunden, seitdem verkündet wurde, dass es 2022 nun endgültig werden soll. Wir können uns also nach so vielen Jahren, in denen ja auch gerade die Grünen geschrubbt haben und es dieses Boot des Atomausstiegs gar nicht gäbe, doch irgendwie auch einfach mal hinstellen und sagen: "Wir können uns ein glückliches Volk nennen." Warum denn gleich wieder draufhauen und sich nicht erst mal hinstellen und sagen: "Liebe Leute, ohne uns wäre das alles nicht möglich gewesen?"
Palmer: Das tun wir. Ich finde auch die Zahl 2022 nicht das große Problem, da unterscheide ich mich vielleicht von manchem, für den 2017 jetzt das Maß der Dinge ist. Die Schwierigkeit ist der Weg dahin. Deswegen meine ich auch, wir sollten klar sagen, so geht es nicht, aber Frau Merkel ist aufgefordert, ihr Angebot nachzubessern, denn ein Konsens tatsächlich über alle Parteien hinweg ist erstrebenswert. Wir sollten dafür sorgen, dass es nicht in ein paar Jahren wieder losgeht mit der Debatte über den Atomausstieg. Genau das befürchte ich aber, weil sich die Kanzlerin Hintertüren offenhält.
Wuttke: Sie müssen entschuldigen, dass ich trotzdem jetzt noch mal da raufharke, weil es irgendwie für mich nicht wirklich zu verstehen ist: Sie sagen, es sei jetzt wichtig, ins Detail zu gehen – das ist es sicherlich in der kommenden Zeit, aber irgendwie wirken die Grünen jetzt ziemlich selbstbezogen und wie eingeschnappt, wozu es doch gar keinen Grund gibt. Warum können wir nicht mal gelassen diese große Zäsur in Deutschland mit einem Aufatmen hinnehmen?
Palmer: Bezogen auf das Jahr 2022 könnte ich das tun. Wenn ich aber Sorge habe, dass es gar nicht das Ende ist, sondern dass es weitergehen soll, dann muss man darüber diskutieren. Ich sage Ihnen meine drei größten Probleme: Erstens, dass die sogenannte Kaltreserve selbst die Kraftwerke, die jetzt vom Netz gehen sollen, möglicherweise wieder ans Netz bringt. Zweitens, dass es keinen echten Ausstiegsfahrplan gibt, sondern dass alle anderen Kraftwerke möglicherweise bis 2021 weiterbetrieben werden können und damit dann auf einen Schlag in zehn Jahren die gleiche Debatte wie heute ansteht, können wir die überhaupt abschalten. Und drittens, dass Fukushima eigentlich gar keinen Effekt hätte, wenn das jetzt genauso beschlossen wird, weil dann schlicht der rot-grüne Atomausstieg von 2000 wieder in Kraft gesetzt wird. Ich finde, das ist zu wenig, da muss die Kanzlerin einsehen: Wer die Grünen dabeihaben will, der muss einen anspruchsvolleren Fahrplan vorlegen.
Wuttke: Aber Sie geben zu: Ohne die Konservativen kann kein Thema in Deutschland zum Mainstream und damit zum Konsens werden?
Palmer: Ja, wir brauchen eine Definition des Begriffs Mainstream, da sind wahrscheinlich die Konservativen dann mit dabei, wenn sie alle im Boot haben wollen, natürlich. Aber das muss ja dann auch für die Grünen tragbar sein. Und da meine ich: Was vorgelegt ist, ist nicht gut genug.
Wuttke: Aber müssten die Grünen denn nicht, nachdem Sie sagen können, wir haben das Boot gebaut, in dem diese Gesellschaft zusammen mit den Volksparteien jetzt sitzt, sich mit einem neuen Zukunftsthema beschäftigen, nämlich den großen Bogen zu spannen, indem nun wieder neue Wählerkreise auch zu erschließen sind? - Denn, ich habe es ja anfangs gesagt, es gibt natürlich jetzt Zukunftsängste, was die Grünen anbelangt, denn dieses Thema, das sie gestemmt haben, ist jetzt Mainstream geworden.
Palmer: Ja, das macht mir aber keine Sorgen, denn mit dem Ausstieg alleine ist es nicht getan, es muss ja auch der Einstieg folgen. Und da ist übrigens das Paket der Bundesregierung noch schwächer, denn wenn man sich klarmacht, dass trotz des Atomausstiegs die Anforderungen an den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht erhöht werden sollen – der Anteil der Erneuerbaren soll genauso hoch werden bis 2022, als wenn es keinen Atomausstieg gegeben hätte –, dann merkt man, dass dieser Ausstieg auf Kosten des Klimas gehen soll. Und da haben wir als Grüne noch eine große Aufgabe vor uns, zu zeigen, wie Atomausstieg und Klimaschutz zusammengehen. Um uns als Partei mache ich mir dabei keine Sorgen.
Wuttke: Und wie sollen diese Pläne der Nachhaltigkeit konkreter werden?
Palmer: Wenn es Investitionssicherheit gibt, wenn klar ist, die Kraftwerke gehen regelmäßig Jahr für Jahr vom Netz, dann kommt der Ausstieg auch mit dem Einstieg zusammen. Und wir haben natürlich noch große Möglichkeiten beim Energieeinsparen, da wird leider so gut wie gar nichts gemacht. Energieeffizienz ist die größte Kraftwerksquelle, die wir derzeit erschließen könnten.
Und selbstverständlich kann man nicht, so wie die Bundesregierung es vorsieht, Bayern und Baden-Württemberg durch Kürzen der Vergütungen für Windenergie und andere erneuerbare Energieformen, die Chance nehmen, jetzt endlich nachholend auch in der Windkraft und in anderen Formen der erneuerbaren Energien richtig zu investieren. Wenn man das richtig macht, wenn man auch den Vorschlag streicht, dass die erneuerbaren Energien nichts mehr zusätzlich kosten sollen, nicht mehr als heute, dann können wir die Energiewende wirklich packen.
Wuttke: Trotzdem ist ja weiterhin die Frage: Haben Sie für Ihre Partei einen wirklichen Blick in die Zukunft, oder werden die Grünen auch eben in den 30 Jahren in den Nebenlinien ihres Stammthemas weiter zugange sein?
Palmer: Das werden wir ganz sicher. Die Atomausstiegsfrage ist nämlich so, wie die Kanzlerin es vorbereitet, nicht erledigt, sondern die Konzerne werden versuchen, wie sie es schon mal gemacht haben, wieder ins Spiel zu kommen. Deswegen braucht es weiterhin die Grünen. Und ich meine auch, dass wir deutlich machen müssen, dass wir sehr interessiert daran sind, dass die Frage abschließend im Konsens aller Parteien geklärt wird, weil es um Investitionssicherheit geht. Diese Frage würde besser jetzt geklärt als weiterhin im Streit. Das ist eine Verantwortung, die die Grünen haben. Aber die andere Seite ist derzeit noch nicht bereit, diese Verantwortung ebenfalls wahrzunehmen.
Wuttke: Die Bündnisgrünen und die Energiewende, dazu im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur Boris Palmer, Mitglied im Parteirat und grüner Oberbürgermeister von Tübingen. Vielen Dank und schönen Tag!
Palmer: Vielen Dank, ebenso!