Ein letzter Tabubruch zur Unzeit
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Die Grünen sind im Umfragehoch. Das Kanzleramt scheint greifbar. Die Partei steht geschlossen da. Doch die neuerliche Provokation von Boris Palmer und die Diskussion über das grüne Wahlprogramm könnten den Erfolg gefährden, sagt Albrecht von Lucke.
Das war vielleicht ein Tabubruch zu viel, den sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer in den sozialen Medien geleistet hat. Für Winfried Kretschmann, den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, ist das Fass jedenfalls nun endgültig übergelaufen, wie er erklärte. Sein Landesverband hat nun Palmers Ausschluss aus der Partei eingeleitet.
Vorausgegangen war ein Facebook-Post. In diesem hatte Palmer geschrieben, der Fußballspieler "Aogo ist ein schlimmer Rassist. Hat Frauen seinen N*- Schwanz angeboten". Das N-Wort hat Palmer dabei ausgeschrieben. Er hat sich dabei auf eine unbelegte Behauptung einer Facebook-Userin bezogen und dabei den Wortlaut des (mittlerweile gelöschten) Originalkommentars benutzt, allerdings ohne das Zitat kenntlich zu machen. Die Authentizität der Userin ist fraglich.
Parteichefin Annalena Baerbock, die die erste grüne Kanzlerin werden will, verurteilte die Äußerung auf Twitter.
"Es ist die Spekulation mit dem Posten eines Sarrazins innerhalb der Grünen", meint der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. Seiner Meinung nach handelt es sich hier um eine gezielte Provokation:
"Das kann ich nur als eine ganz systematische Ansage begreifen, die eigentlich in dem Wissen geschieht – und das ist so ironisch –, dass er wahrscheinlich sowieso 2022 seinen Posten als Oberbürgermeister verloren hätte. Die Grünen haben sich längst gegen ihn ausgesprochen."
Doch der neuerliche Tabubruch kommt zur Unzeit, wie von Lucke erklärt. Erst vor ein paar Tagen sorgte eine Gruppe von 300 Mitgliedern für Aufsehen, weil sie das Wort "Deutschland" aus dem Titel des grünen Bundestagswahlprogramms streichen lassen wollen, der da lautet "Deutschland. Alles ist drin": "Allein das ist natürlich eine Infragestellung der Verantwortungsfähigkeit der Partei im Kanzleramt." Im Juni soll das Programm verabschiedet werden.
Und ausgerechnet jetzt komme ein Boris Palmer um die Ecke, geriere sich als eine Art Luther und stelle den Liberalismus der grünen Partei infrage. "Das ist natürlich für diese Partei fatal, weil der Eindruck entsteht: Wir haben es mit der alten Chaostruppe zu tun."
Insofern schade Palmers Verhalten der Partei insgesamt, weil es das mühsam aufgebaute Image der Geschlossenheit zerstöre: "Wenn die Grünen jetzt nicht unter Beweis stellen, dass sie seriös genug sind, das Kanzleramt zu führen, dann wird es ihnen, glaube ich, sehr schwer fallen, diese hohen Prozentzahlen zu halten. Und das ist die große Herausforderung für Baerbock: jetzt deutlich zu machen, dass wir es mit einer verantwortungsvollen Partei in Gänze zu tun haben."
(ckr)