Boris Sawinkow: "Das fahle Pferd"
Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Alexander Nitzberg
Galiani Verlag, Berlin 2015
304 Seiten, 22,99 Euro
Terrorist aus Leidenschaft
Der Russe Boris Sawinkow war als Terrorist zum Tode verurteilt, flüchtete nach Paris - und wurde Autor. Sein neu übersetzter Roman "Das fahle Pferd" aus dem Jahr 1908 ist ein beeindruckendes Dokument über das Innenleben eines Mannes, der im Terror seine Berufung sah.
"Wenn ich könnte, würde ich alle Oberen und alle Herrschenden töten. Ich will kein Knecht sein. Und ich will nicht, dass andere Menschen Knechte sind."
Mit diesen Worten begründet der Erzähler in Boris Sawinkows Roman seinen Plan, den Generalgouverneur in Moskau zu ermorden. George nennt sich dieser Erzähler, er gibt sich als Engländer aus und hat vier Mittäter um sich geschart: Wanja predigt Christentum und Nächstenliebe, Erna, die Bombenbauerin, ist in George verliebt, Heinrich hat sein Studium abgebrochen, um für den Sozialismus zu kämpfen und Fjodor, ein ehemaliger Schmied, brennt darauf, zu töten: "So ein Bömbchen hätten sie alle verdient, klare Sache." Diese Attentäter streifen durch Moskau, spähen den Gouverneur aus, folgen ihm bis nach St. Petersburg. Mehrmals schlagen ihre Anschläge fehl, die Polizei ist ihnen auf den Fersen, aber sie lassen nicht von ihrem Ziel ab.
Einblicke in die Gedankenwelt der Attentäter
Als Boris Sawinkow 1908 seinen Roman verfasste, war er kein Unbekannter: Kurz zuvor war der Sohn eines Staatsanwalts und einer Schriftstellerin wegen der Beteiligung an zwei Mordanschlägen in Russland zum Tod verurteilt worden, er war aus dem Gefängnis in Odessa nach Paris geflohen, wo er in russischen Emigrantenkreisen und Literatenzirkeln verkehrte. Der Terrorist wurde als romantische Figur wahrgenommen, seine Prosa mit der Dostojewskis verglichen. Und auch wenn "Das fahle Pferd" keine Autobiografie ist, so erlaubt der Roman doch Einblicke in die Gedankenwelt der Attentäter, die bis zu einem gewissen Grad heute noch Gültigkeit haben. Wenn George nachdenkt, warum ihn der Terror so sehr anzieht, wenn er zu seiner Geliebten, der verheirateten Jelena, von der reinigenden Kraft des Blutvergießens spricht oder wenn Wanja Liebe und Tod in einen direkten Zusammenhang stellt, dann könnten diese Sätze auch von Islamisten stammen, die Anschläge gegen sogenannte "Ungläubige" planen.
So entsteht in der Neuübersetzung von Alexander Nitzberg ein beeindruckendes Dokument: die Stimme eines Mannes, der im Terror seine Berufung sah. "Sawinkow war Terrorist aus Leidenschaft", schreibt der Historiker Jörg Baberowski im Anhang. "So sehr gefiel ihm, was er tat, dass es ihm einerlei war, in wessen Auftrag er welche Menschen tötete." Diese Haltung durchzieht auch Sawinkows Roman: Keiner der Attentäter zweifelt an der Notwendigkeit seines Tuns, nur einmal stellt sich Wanja gegen George, als dieser den Palast mitsamt den Kindern des Gouverneurs in die Luft sprengen will. Es ist ein oft zynischer Text, in dem sich reale Ereignisse spiegeln: Im Attentat auf den Generalgouverneur ist der Mord an Großfürst Sergej Romanow 1905 zu erkennen, die Chemikerin Erna entspricht der Sprengstoffexpertin Dora Brilliant, George trägt nicht nur Sawinkows Züge, sondern auch jene des Terroristen und Dichters Iwan Kaljajew. So ist "Das fahle Pferd" nicht nur ein Zeitdokument, sondern auch eine Studie, ein Einblick in die Köpfe der Terroristen, der auch mehr als 100 Jahre später kaum etwas von seiner Aktualität verloren hat.