Botho Strauß: Der Fortführer
Rowohlt Verlag; Reinbek 2018
202 Seiten; 20,00 Euro
Entführung in ein entlegenes Reich
Botho Strauß hielt der Gesellschaft in seinem Schriften oft einen entlarvenden Spiegel vor. Doch in "Der Fortführer" gelingt ihm das nicht, bemängelt unser Kritiker. Er nimmt den Leser mit in ein magisches Früher - doch dort erstarrt seine Erzählung.
"Der Fortführer" heißt dieses neue Buch von Botho Strauß. Fortgeführt wird hier vor allem das Schreiben: Es handelt sich um ein sich ständig neu erweiterndes Labyrinth aus vierzehn Kapiteln und einem programmatischen Schluss. Aber fortgeführt wird auch der Leser, er wird entführt in ein entlegenes Reich, das mit der allzu rasch verfliegenden Gegenwart nichts zu tun hat.
So wie der erst neuerdings wieder salonfähig gewordene Rudolf Borchardt seinerzeit einem idealen deutschen Kaiserreich hinterhersann, einem mittelalterlichen Innehalten abseits aller verderblichen Zeitläufte, so kreist auch sein Bündnisgenosse Botho Strauß um ein magisches "Früher". Dieses braucht zeitlich nicht genau bestimmt zu werden, scheint aber ein hoher Maßstab zu sein.
Jeder Abschnitt besteht aus wenigen Sätzen, und die einzelnen Kapitel sind abgetrennt durch ein graues, in seiner Grauheit würdig und weise erscheinendes bedeutungsvolles Blatt. Die hier fallenden Worte sind genauso kostbar wie die Aufmachung des gesamten Bändchens. Ein bisschen preziös wirken sie, ein bisschen gestelzt, selbst simpelste Wahrnehmungen werden in einem hochgestimmten Ton festgehalten, der über diese Wahrnehmungen offenkundig hinausweisen und an etwas Eigentliches rühren möchte. Das geht zum Beispiel so: "Wer ist vorübergegangen? Wir oder an uns ein Leben? Fahren wir, oder fährt der Zug auf dem anderen Gleis?"
Provokativ ein altes Deutsch benutzt
Bevor man jetzt in allzu langes Grübeln verfällt, hier der allererste Satz des Buches, er setzt auch gleich ein Signal: "Eines Tages heißt es sich bücken auf der Rolltreppe nach der Münze, die auf die ruhende Schuhspitze fiel." Der Gedankengang ist damit natürlich noch nicht zu Ende, es folgt ein weiterer, durch einige Nebensätze gegliederter Satz, der mehr ins Philosophische verweist, als dass er einen bestimmten Vorgang nacherzählen möchte. Aber jedes einzelne Adjektiv möchte dabei wie ein Edelstein sein und smaragden funkeln.
Nur vereinzelt verselbständigen sich die Sätze und überspitzen wie in scharf konturierten Theaterszenen das Banale und Absurde unserer Existenz, ohne stilistisches Steinmeißeln. Aber der spröde bröckelnde Marmor dieses Alterswerks kündet insgesamt von etwas Anderem - wie wenn ein Altphilologe aus dem 19. Jahrhundert inmitten seines Bücherstaubs ewige Werte und Zeitlosigkeit beschwört. Die krude Gegenwart ist eine Last: "Man harrt im Schneetreiben vieltausendjähriger Reste" heißt es einmal, und ein andermal verblasst das Wörtchen "zeitgenössisch" neben dem ersehnten "seinerzeitgenössisch". Eine Anrufung wie "Oh ihr vögelsprudelnden Bäume" evoziert mindestens Hölderlin, und mit Wörtern wie "Burgfräulein", "Maid" oder "Herdsasse" wird dem schnöden Jetzt provokativ ein altes Deutsch entgegengehalten, das programmatisch einen höheren Wert darstellen soll.
Gern fällt ab und zu auch ein lateinisches Wort, aber das hat hier nichts elegant Beschwingtes, sondern erinnert eher fatal an Heinrich Manns Professor Unrat. Schade. Botho Strauß war oft in der Lage, den Dekadenzerscheinungen unserer Gesellschaft einen entlarvenden Spiegel vorzuhalten. Jetzt nimmt er die erstarrte Pose eines Dichterfürsten ein, der den deutschen Geist weniger souverän-erhaben als vielmehr bizarr und geradezu gerhart-hauptmännisch verkörpert.