Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie"
Carl Hanser Verlag, München 2021
156 Seiten, 22 Euro
Sprachmagischer Liebeskummer
05:09 Minuten
Kummervoll umkreist eine Verlassene ihren ehemaligen Geliebten. Das ist nicht neu. Mythos und Literaturgeschichte schwingen mit in ihren Klagen. Botho Strauß hat ein anspielungsreiches Gewebe geflochten, für das sich einige Anstrengung lohnt.
Eine Geschichte, wie man sie tausendfach gelesen und gehört hat: Eine Frau trauert ihrem Geliebten nach, der sie schnöde verlassen hat, und versucht ihren Schmerz auszuhalten, indem sie nach Worten sucht, um ihn wieder und wieder zu beschreiben.
Und doch wird aus diesem x-beliebigen Stoff ein einzigartiger, unerhörter Text, sobald ein Sprachmagier wie Botho Strauß sich seiner annimmt.
An einem leicht nachzuerzählenden Plot hat dieser Autor bekanntermaßen kein Interesse. "Ohne Stoff oder Thema" soll seine Prosa auskommen und sich "anstelle von Handlung, Geschichte, Linienführung" wie ein "Fleck" auf den Seiten ausbreiten.
"Verlassenste aller je Verlassenen"
Gertrud Vormweg, Lyrikerin ihres Zeichens, heißt Botho Strauß’ Verlassene, die mal in der Ich-, mal in der Sie-Form Zeugnis von dem ablegt, was sie mit dem abtrünnigen, Lionardo genannten Mann verband. Von den ersten Zeilen an freilich legt sich eine zweite Ebene über dieses assoziationsreiche Protokoll einer Lebenszäsur.
Gertrud nennt sich Elissa, Alternativname der Prinzessin Dido, die der Legende nach Karthago begründete und, Vergils "Aeneis" zufolge, eine verbotene Liebe mit Aeneas, dem Sohn der Venus, einging. Doch dieser bleibt nicht bei ihr, bricht nach Rom auf und macht Dido/Elissa zur "Verlassensten aller je Verlassenen".
Sprachzauber ohne Selbstzweck
Botho Strauß geht, wie man es von ihm gewohnt ist, ein sprachlich hohes Risiko ein, wenn er nach neuartigen Bildern sucht, um die "blasphemische Zweihaftigkeit", die Elissa und Lionardo verband, festzuhalten.
Obwohl Elissa durch Vergil (und die vielen Adaptionen des Stoffes) "vom Anfang bis zum Ende" bereits erzählt sei und sie so der "fertigen Geschichte" hinterher lebe, gewinnt sie bei Strauß eine ganz eigene Statur.
Zu tun hat das damit, dass der Text, um Kummer und Leid darzustellen, sich gegen "unsere alles aussprechende Sprache" wendet, nach "Chiffren" und "Zeichen der Geheimhaltung" sucht.
Es geht um den Zauber der Sprache, und nicht verwunderlich ist es, dass Strauß die Literaturgeschichte dafür nach Leitbildern abtastet und vor allem bei Lyrikern wie Eichendorff, Hölderlin, Swinburne, Char oder Valéry fündig wird. So entsteht ein dichtes, anspielungsgetränktes Gewebe, das dennoch zu keinem Selbstzweck wird.
Zerschnittener Roman
So sehr sich Botho Strauß – hier in enger Verwandtschaft mit Peter Handke – bemüht, die Geschichte von Elissa, einer "Eckensteherin der Gegenwartskünste", und dem "Migranten" Lionardo symbolisch zu überhöhen und in einen mythischen Kontext zu stellen, so eindringlich sehen wir die "blöde Verlassene" in all ihrer Verzweiflung vor uns.
"Nicht eine einzige Erzählung, wie es wirklich war", will Elissa glücken, und so setzt sich der Text aus vielen, oft nur wenige Zeilen umfassenden Absätzen zusammen. Diese Fragmentstruktur macht erneut Anleihen bei der Erzählung Didos.
Wie diese einst, als ihr vom Numiderkönig so viel Land zugestanden wurde, wie sie mit einer Kuhhaut umspannen könne, zu einem Trick griff und die Kuhhaut in dünne Streifen schnitt, so handelt Botho Strauß’ Dido: "Also zerschnitt ich den stolzen Roman, den ich mit dem Migranten hatte, in unzählige schmale Zeilen und steckte damit das Reich ab, auf dem ich meine Verlassenheit gründete."
Die Leserinnen und Leser werden somit genötigt, selbst Zusammenhänge herzustellen und sich einen eigenen Reim zu machen – eine Anstrengung, die sich lohnt.