Botho Strauß: "Oniritti Höhlenbilder"

Der Bedeutungsarmut des Alltags entfliehen

Felsmalereien in der sogenannten Foggini-Mestekawy-Höhle
Felsmalereien in der sogenannten Foggini-Mestekawy-Höhle © picture alliance / dpa / Matthias Tödt
Von Jörg Magenau |
Mal Zufluchtsstätte, mal Enge, mal Horizontlosigkeit spiegeln die Höhlen, die Botho Strauß in seinem Essay "Oniritti Höhlenbilder" erforscht. So werden sie zum Gleichnis für das Leben überhaupt - jenseits der Oberflächlichkeit der Alltagswelt.
"Oniritti" ist eine Wortneuschöpfung von Botho Strauß. Er leitet es vom griechischen oneiros, Traumgesicht ab und kreuzt diesen in europäische Sprachen nur zögerlich vorgedrungenen Begriff mit "Graffiti". So werden aus Traumbildern "Bildschriften auf den Höhlenwänden der Nacht", skizzenhafte Notate, die schon im Schreiben zu verblassen drohen. Und es entstehen kleine Textfragmente, die aus dem Grenzbereich zwischen Traum und wachem Entwurf, zwischen Empfangen und Entwerfen hervorgehen. "Oniritti Höhlenbilder" – man muss sehr genau hinschauen in diesem Buch, in dem ein fortwährendes Halbdunkel herrscht, um etwas zu erkennen.
Da sitzt zunächst eine einzelne Figur auf der hell erleuchteten Bühne, eingesperrt in schwarze Finsternis, und beginnt zu sprechen. Die Herkunft des Autors Botho Strauß vom Theater klingt darin nach. Der Schauspieler ist der erste Höhlenbewohner. Von hier aus treibt Strauß seine Stollen in die Tiefe, oder, wie er das formuliert, er bohrt sich mit "poetischem Vortrieb" durchs "Gesinnungsgebirge".

Nicht mit der Bedeutungsarmut des Alltags abfinden

Die Höhlen, die er erforscht, sind ambivalent in ihrer Bedeutung: Zunächst einmal sind sie als Tiefe und dunkles Geheimnis der Oberflächlichkeit des Tages entgegengesetzt. Zu jeder Handlung hier oben gibt es ein Unten, ein "Hadesäquivalent", denn wie könnten wir leben, fragt er, "ohne dass nicht tief unten über unser Gelächter zumindest verzeihend gelächelt wird?" Mit Esoterik hat diese Zweiweltenlehre nichts zu tun. Es ist vielmehr die Fortsetzung seines literarischen Großversuchs, sich nicht einfach mit der Bedeutungsarmut des Alltagslebens abzufinden. Die Höhle ist nur eine neue Metapher für diese Suchbewegung und den Willen zur Transzendenz.
Doch auch Platons Höhlengleichnis gehört in diesen Bedeutungsbereich – und damit die Höhle als Ort der Unwissenheit, der Unmündigkeit. Diesen Aspekt der individuellen Beschränktheit entwickelt Strauß aus dem "Novum organum" des mittelalterlichen Philosophen Francis Bacon, der in seiner Idolen-Lehre Höhlenbilder als "Idole jedes einzelnen Menschen" gedeutet hat. Jeder steckt demnach in seiner eigenen Höhle des Nichtwissens, die "das Licht der Natur bricht und verdirbt".

Interpret der unergründlichen Liebesdynamik

So ist die Strauß'sche Höhlenwelt also mal Zufluchtsstätte, mal bloße Enge und Horizontlosigkeit – und wird in diesem Changieren zum Gleichnis für das Leben überhaupt. Gut deshalb, dass Strauß seine Metapher nicht zu Tode reitet, sondern bald dazu übergeht, kleine Geschichten, Beobachtungen, Gedankensplitter, Traumskizzen zu notieren, ein Verfahren, das sich von seinen vorigen Prosabüchern allenfalls durch die zunehmende Schemenhaftigkeit unterscheidet.
Am stärksten ist er immer da, wo er Paare in den Blick nimmt, eine Sie und ein Er im Gespräch, oder die wankelmütige Cécile und ein "Ich", das ihm, dem Autor, durchaus ähnelt. Strauß ist seit seiner Frühzeit ein Spezialist für "Paare, Passanten", ein genauer Interpret der unergründlichen Liebesdynamik und aller zugehörigen Abgründe, und darin durchaus ein psychologischer Autor – wenn auch gegen den eigenen Willen, denn nichts läge ihm ferner als "Psychologie". Die subtile Präzision seiner Beobachtung von Paar-Situationen macht ihn aber doch zu einem Analytiker. Das entschädigt für manche Dünkelhaftigkeit und die straußübliche, gelegentlich etwas angestrengt zur Schau getragene Gegenwarts- oder Massenkulturverachtung.

Botho Strauß: Oniritti Höhlenbilder
Hanser Verlag, München 2016
278 Seiten, 22,00 Euro

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