Boulevard und Sexualisierung

Wenn Hitlers Hoden Politik machen

Von Bodo Morshäuser · 08.06.2016
Der Minister trägt eine allzu modische Brille? Hitler hatte nur einen Hoden? Erdogan und Ziegen? Die zunehmende Boulevardisierung führt dazu, dass die eigentliche Politik unsichtbar wird und ernste Themen nicht mehr besprochen werden, kritisiert der Schriftsteller Bodo Morshäuser.
Politiker und ihre Berater achten peinlichst darauf, dass ihr persönliches Auftreten nicht mit sexuellen Konnotationen in Berührung kommt. Politik ist in aller Regel ein durch und durch entsexualisierter Bereich.
Deshalb sehen wir reihenweise schlecht geschnittene Männerjacketts, deshalb tragen Politikerinnen meistens Hosenanzüge. Politiker verkleiden sich nicht, wie Schauspieler, für irgendeine Rolle. Politiker spielen die Rolle, sie selbst zu sein. Ihr höchstes Ziel ist es, authentisch rüberzukommen.
Fällt einer oder eine von ihnen aus dieser Rollenzuteilung heraus, wirft das sofort Fragen nach der Seriosität ihrer Politik auf. Die zu nerdige Brille von Alexander Dobrindt, ein zu modischer Anzug von Gerhard Schröder verunmöglichen es dann für eine Weile, dass man, wenn man sie sieht, an die Maut oder an soziale Reformen denkt.
Etwas Schlimmeres kann einem Politiker, der auf Authentizität aus ist, kaum passieren. Denn: Politik ist Politik, und Boulevard ist Boulevard.

Knopfleisten statt Komplexität

Einmal wollte ein berühmter Schauspieler Präsident der USA werden. Das wurde hierzulande nicht politisch, sondern unter Aspekten des Showgeschäfts wahrgenommen. Ronald Reagan wurde dann tatsächlich amerikanischer Präsident.
Im Moment wird der Präsidentschaftskandidat Donald Trump auf ähnliche Weise unter Aspekten des Boulevards beschrieben. Nicht Schauspieler, sondern Milliardär, ein sexy Ex-Model an seiner Seite, wieder so eine Story. Und dann diese Frisur. Sowas lässt sich super erzählen, jeder versteht es.
Welche Mühe macht es dagegen, jene Amerikaner zu beschreiben oder zu verstehen, die von Politik-Politikern wie den Clintons komplett enttäuscht sind. Es ist viel lustiger, Angela Merkels Frisur, Knopfleiste oder Schweißflecken anstelle ihrer Politik zu thematisieren.
Im Fernsehen gibt es Filme über "Hitlers Frauen" und "Hitlers Friseure", vielleicht auch über Hitlers Hosen demnächst. Hitlers Hoden waren auch schon in der Zeitung.
Dieses beliebte Spiel heißt Entpolitisierung und Boulevardisierung. Man personalisiert Politiker auf markige oder süffisante Art und macht ihre Politik damit unsichtbar. Entpolitisierung und Boulevardisierung, das heißt: Es werden Geschichtchen erzählt anstelle von Geschichte, die alle angeht, und es werden Ressentiments verbreitet anstelle von Argumenten.

Hinter den Skandalen verschwindet die Politik

Seit kurzem interessiert uns die Frage, ob man sagen darf, dass der türkische Präsident es mit Ziegen und Schafen treibt und dass er Mädchen schlägt. Außerdem wurden einige Gerüchte über die Beschaffenheit seines Geschlechtsteils in die Welt gesetzt.
Ob das nun lustig ist oder nicht – man bespricht nicht mehr die ernsten Themen, die Gerüchte über Waffenlieferungen an den Islamischen Staat, den Krieg gegen das kurdische Volk im eigenen Land, das Zusammenknüppeln demonstrierender Frauen oder das Wegsperren missliebiger Journalisten.
Vor Wochen ließ Erdogan deutsche Diplomaten vorsprechen, unter anderem wegen eines Beitrags in der Satiresendung "Extra 3". Gegenstand der Satire war Erdogans repressive Politik gegen Andersdenkende. In der Öffentlichkeit sprach man über diese Satire ebenso wie über Erdogans Politik und sein unsouveränes Auftreten nach dem "Extra 3"-Beitrag.
Seit der berühmten Böhmermann-Sendung ist Erdogan in erster Linie ein Politiker, der sich mit juristischen Mitteln gegen eine persönliche Beleidigung zur Wehr setzt. Jetzt ist der demokratisch gewählte Semi-Diktator Erdogan sexualisiert und entpolitisiert. Das ist der Skandal, der hinter der Klamotte fast verschwindet.

Bodo Morshäuser wurde 1953 in Berlin geboren und lebt dort als Schriftsteller. Er hat etliche Romane, Gedichte und Erzählungen veröffentlicht, beispielsweise: "Und die Sonne scheint" (Hanani-Verlag) und "In seinen Armen das Kind" (Suhrkamp). Zudem beschäftigt er sich mit dem Thema Rechtsextremismus.


© M. Maurer
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