Brain Drain aus dem Iran

Ein Land verliert seine Elite

22:17 Minuten
Eine Frau steht auf einer Rolltreppe in einer Mall in Teheran. Sie fährt abwärts und hinter einer Mauer ragt nur ihr Kopf hervor.
Junge Berufstätige und Studenten verlassen in Scharen das Land, in der Hoffnung auf bessere Jobs, mehr Geld, Gleichberechtigung, eine Zukunftsperspektive. © picture alliance / NurPhoto / Morteza Nikoubazl
Von Jagoda Rahmini |
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Politisch keine Perspektive, wirtschaftlich desolat - vor allem junge Menschen verlassen den Iran. Seit 1979 sind 3,1 Millionen Iranerinnen und Iraner gegangen, Tendenz steigend. Und niemand glaubt, dass sich das unter Präsident Raisi ändern wird.
Setoreh, die 38-jährige Hausfrau aus Teheran, macht sich an die Zubereitung des Abendessens. Auf dem Boden ihrer Küche im Bezirk Sarsabs im Osten Teherans hat sie eine Plastiktischdecke ausgebreitet und dann seufzend eine große Plastiktüte voll grüner Kräuter darauf geschüttet.
Noch nie war die Essenszubereitung im Iran so zeitaufreibend und anstrengend wie in diesen Tagen. Noch vor zwei Jahren hat Setoreh die beliebten Kräuter, die auf keinem iranischen Tisch fehlen dürfen, bei afghanischen Straßenhändlern gekauft. Sie waren sauber zusammengebunden und sehr frisch.
Heutzutage kann sie sich die teure Ware nicht leisten und kauft die Kräuter als B-Ware durcheinandergemischt und säckeweise bei einem Gemüsegroßhändler im benachbarten Bezirk. Die Hälfte der Kräuter ist dann schon verdorben und Setoreh braucht über eine Stunde, um sie zu säubern.

Sparen geht nicht

Das Grünzeug muss heute makellos sein, da Setorehs Mutter zum Essen kommt. Die Kräuter sind von schlechter Qualität. Dafür sind sie viermal billiger. Das ist das Einzige, was zählt, sagt Setoreh. "Hygieneprodukte, Essen, alles ist sehr teuer geworden. Auch der Milchpreis ist enorm gestiegen. Die Milch hatte früher 3000 Tuman gekostet, jetzt kostet sie 20.000 Tuman. Oder Hühnchenfleisch – es kostete vor zwei Jahren 8000 Tuman, jetzt 50.000 Tuman." Gleichzeitig seien die Löhne nur um etwa 20 Prozent gestiegen. "Die Lebenshaltungskosten sind so hoch, dass man nur den täglichen Bedarf decken kann. Sparen, das geht gar nicht. Wir müssen oft mit sehr wenig auskommen, um ein normales Leben zu führen.  Die Inflation hat den Wert unseres Geldes gemindert."

Die Inflation galoppiert

Das heißt: Im heutigen Iran kostet ein Liter Milch umgerechnet 80 Cent. Der Preis ist so hoch wie in Deutschland bei einem iranischen Durchschnittslohn von etwa 150 Euro. Die Preise der Lebensmittel sind in den letzten zwei Jahren um das Drei- bis Achtfache gestiegen.
Frauen stehen vor einem mit Wurstwaren gefüllten Kühlregal in einem Supermarkt.
Den Einkauf in den modernen Supermärkten, wo auch verpackte, importierte Ware aus der Türkei oder Europa zu finden ist, kann sich kaum jemand leisten. Die Inflation galoppiert.© AFP / Morteza Nikoubazl
Die Inflation im Iran galoppiert, seitdem Ex-US-Präsident Trump nach dem Platzen des Atomdeals im Jahr 2018 Sanktionen gegen das Land verhängt hat. Diese blockieren den iranischen Ölexport, das Bankensystem und den Handel mit ausländischen Staaten, vor allem den mit Europa und den USA.
Setorehs Mann, Dariusch, der im Bürgeramt eines Teheraner Stadtbezirks arbeitet, muss seine vierköpfige Familie allein ernähren. Er bekommt neun Millionen Tuman, das sind umgerechnet etwa 300 Euro im Monat. Heute ist er nicht zu Hause.

Was kann sich eine Familie noch leisten?

Um die Familie irgendwie durchzubringen, muss er als Uber-Fahrer Überstunden schieben. Setoreh macht sich Sorgen: Der Wagen der Familie, ein 20- jähriger Paykan, eine iranische Eigenmarke, hat erst vor ein paar Monaten schlappgemacht. Was wenn er wieder kaputtgeht? Ein neues Auto kann sich die Familie nicht leisten. "Ein Auto wie zum Beispiel der französische Peugeot 206, den Frauen hier gerne fahren, hat früher 25 Millionen Tuman gekostet. Jetzt kostet er 200 Millionen Tuman."
Eine Schlange hat sich vor einer Bäckerei gebildet.
Eine Schlange beim Bäcker in dem Teheraner Bezirk Tehranpars im Westen der Metropole. Selbst die Brotpreise haben sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt.© Deutschlandradio / Jagoda Rahmani
Wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse im Land möchte Setoreh unbedingt, dass ihre 13-jährige Tochter Mahbubeh zum Studium ins Ausland geht. Sie glaubt, dass sie dort bessere Chancen haben wird. Mahbubeh soll in vier Jahren, wenn sie die iranische Oberschule absolviert hat, so wie viele junge Menschen den Iran verlassen.
"Zurzeit wollen hier alle nur weg, vor allem die Studenten", erzählt Setoreh. "Auch mein Cousin, ein Ingenieur für Elektrotechnik, hat sich in Deutschland und Kanada für eine Weiterbildung beworben. Alle wollen gehen, und zwar in der Hoffnung auf mehr Geld. Es gibt auch hier gute Universitäten, aber es ist unmöglich, danach einen adäquaten Job zu finden."

Die Wirtschaftskrise trifft auch Besserverdiener

Aufbruchsstimmung ist auch bei Sarah in ihrer schicken Villa, im noblen Bezirk Lavasan, im Norden Teherans zu spüren. Die 42-jährige, immer geschmackvoll gekleidete Frau ist Akademikerin und Englischlehrerin.
Ihr Mann betreibt eine Rasierklingenfabrik. Trotzdem muss Sarah jeden Tuman zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgibt. Die Wirtschaftskrise hat auch die relativ gut situierten Menschen im Iran nicht verschont. "Wenn wir früher einen Monatseinkauf machten, zwei Einkaufswagen voll mit Essen und Hygieneprodukten, dann kostete der Einkauf 500.000 Tuman." Auch Olivenöl, Weinessig und ausländisches Shampoo hätte sie sich gönnen können. "Einen Monat später sind wir einkaufen gegangen. Ich habe nur iranische Produkte gekauft – und unser Einkauf hat schon sechs Millionen Tuman gekostet."

"So vieles ist von Grund auf kaputt"

Sechs Millionen Tuman sind umgerechnet etwa 200 Euro. Doch für Sarah sind es nicht nur ökonomische Gründe, die sie motivieren, nach Kanada zu emigrieren, wie es ihre Cousine vor zwei Jahren getan hat. "Niemand hat hier die Hoffnung, dass sich die Situation verbessert. So vieles ist kaputt, und zwar von Grund auf.  Ich bin so alt wie die Revolution, also 42 Jahre."
Ihr ganzes Leben lang habe sie gedacht, die Mullahs würden spätestens in zwei Jahren gehen, und es werde alles wieder gut. "Ich habe mich getäuscht", meint Sarah. Und selbst wenn es doch zu einem Machtwechsel komme, werde niemand da sein, um das Land zu reformieren. "Im Iran bleiben jetzt nur Menschen, die auch hier nicht fähig sind, richtig zu arbeiten. Das sind definitiv keine Menschen, die die Zukunft dieses Landes sein könnten. Ich habe wirklich Angst davor, dass das alles zur Lasten meiner Tochter geht."

Vetternwirtschaft als verbreitetes Phänomen

Die Zukunft ihrer achtjährigen Tochter Parvoneh, vor allem ihre berufliche Zukunft, bereitet Sarah regelrecht schlaflose Nächte. Es gebe hier keine guten Stellen. "Selbst, wenn sie in allem hervorragend wäre, würde sie nur die Hälfte des Lohnes eines Mannes bekommen." Sie würde im Job ausgenutzt werden.
"Wenn man jetzt mit den Studenten spricht – sagen sie, dass alle guten Berufe in den Händen derjenigen sind, die Beziehungen zur Regierung haben. Es wurde sogar ein Gesetz erlassen: Wenn der Vater ein staatliches Amt bekleidet, können seine Kinder dieses Amt erben." Das nenne man schlicht Vetternwirtschaft.

Heuchelei in der Islamischen Republik

Setoreh, die sehr viel Zeit und Geld in Parvonehs Ausbildung investiert hat, vor allem in einen privaten Englischkurs, ist fest entschlossen, den Iran zu verlassen.
Nicht zuletzt wegen der Heuchelei, die in der Islamischen Republik die Oberhand gewonnen habe. „Ich will nicht, dass meine Tochter mit Lügen aufwachsen muss“, sagt sie. "Meine Tochter hat angefangen, Fragen zu stellen: Wieso soll ich meine Haare verstecken? Wieso muss ich Kopftuch tragen? Ich würde ihr so gerne aufrichtig antworten. Aber soll ich sagen: ‚Ich bin damit auch nicht einverstanden?‘ Das darf ich doch nicht. Hier wird sie von Anfang an lernen, dass die freie Meinung überhaupt keinen Wert hat."

Was tun, wenn das einzige Kind das Land verlässt?

Mohammad, ein 75-jähriger Rentner aus Teheran, hat heute gemeinsam mit seiner Frau Zubejde und seiner Familie seinen Geburtstag gefeiert. Die Dreizimmerwohnung im Stadtteil Punak, etwa 40 Minuten Autofahrt von Sarahs Villa in Lavasan entfernt, wird jetzt still.
Der fröhliche Trubel, die Kinderstimmen sind verstummt. Alle Gäste sind gegangen, darunter auch Mohammads Tochter, die 27-jährige Rosa, Studentin und alleinerziehende Mutter der sechsjährigen Mehnusch.
Rosa bereitet dem alten Ehepaar gerade Sorgen. Sie plant, das Land zu verlassen – notfalls auch illegal. Ihren Eltern graut vor der Emigration der Tochter. Was wird aus ihnen, wenn das einzige Kind das Land verlässt? Wer wird ihnen helfen, wenn sie im Alter Hilfe brauchen werden, fragt sich die 65-jährige Zubejde.
"Wir würden sie sehr vermissen. Wir erlauben nicht, dass sie geht."
"Und wo will sie überhaupt hin? Es gibt keinen Ort, an dem sie erwartet wird."
"Sie wünscht es sich so sehr."
"Außerdem, hat sie sich doch hier an der Uni eingeschrieben und studiert und mehrere Bücher gekauft."
"Die Bücher haben 15 Millionen Tuman gekostet."
"Und 20 Millionen haben die Studiengebühren gekostet. Jetzt wo sie hier studiert, ändert sie vielleicht ihre Meinung. Ich weiß nicht."
"Nein, sie will weg."

Emigration als gesellschaftliches Problem

Traditionell leben im Iran mehrere Generationen unter einem Dach zusammen. Altersheime gibt es kaum, auch nicht in der Metropole Teheran. Es schickt sich hier nicht, die Eltern oder Großeltern „abzugeben“.
Aber was, wenn die Kinder außer Landes leben? Mit dem Anstieg der Emigration aus dem Iran wird das zum echten Problem. Auch wenn das Durchnittssalter in der vergleichsweise jungen iranischen Gesellschaft momentan nur knapp 30 Jahre beträgt, ist der Alterungsprozess unübersehbar. 
1976 zum Beispiel lag der Schnitt noch bei 23 Jahren. Mohammad und Zubejde wären nach der Emigration ihres Einzelkindes praktisch auf sich alleine gestellt.
"Unsere Tochter sagt, die Umstände hier seien sehr schlecht. Das Leben im Iran insgesamt sei schlecht, und sie habe Angst um die Zukunft ihres Kindes.  Aber ich bin nicht damit einverstanden, dass sie illegal auswandert, mit einem Boot oder so."
"Illegal, das geht gar nicht. In Griechenland ertrinken doch alle in den Booten. Jetzt, wo sie das Geld für die Universität ausgegeben hat, geht sie vielleicht doch nicht. Es wäre schade um das Geld."
"Nein, sie hatte immer gesagt, egal ob Sturm oder Hagel, wir müssen gehen. Aber ich habe zu ihr gesagt: Tu das nicht."
"Die Menschen haben Angst davor, was hier im Iran passiert."

Besonders die Jugend verlässt das Land

Nicht nur Studenten, wie Rosa, auch junge Berufstätige verlassen in Scharen das Land, in einem Ausmaß wie nie zuvor. Statistiken gibt es hierzu kaum. Einer Studie der Universität Stanford aus dem Jahr 2020 zufolge  haben seit dem Revolutionsjahr 1979 rund 3,1 Millionen Iraner das Land verlassen. Das entspricht rund 3,7 Prozent der aktuellen Bevölkerung.
Eine Straßenverkäuferin sitzt neben ihrer Auslage, ineinander gestapelte Töpfe.
Viele Iraner verkaufen ihr Hab und Gut oder bieten einfache Dienstleistungen an, um etwas dazuzuverdienen.© Deutschlandradio / Jagoda Rahmani
Reza glaubt, dass in Wirklichkeit viel mehr gegangen sind. Der 28-Jährige ist sehr schüchtern, sitzt mit verschränkten Armen auf der Bettkante im Kinderzimmer in der Wohnung seiner Eltern im Bezirk Tehransar.
Er hat Chemie studiert und arbeitet in einem medizinischen Labor im Zentrum Teherans. Der junge Mann würde gerne auf eigenen Füßen stehen, doch sein Lohn erlaubt es ihm nicht einmal, eine eigene Wohnung zu mieten.
"Ich arbeite schon einige Zeit, aber ich verdiene hier sehr wenig. Ja, wirklich das Leben ist hart geworden."
"Das Geld ist der Grund, weswegen du ins Ausland gehen willst?"
"Ja, überwiegend deswegen."
"Könntest du hier mit deinem Gehalt ein Haus bauen?"
"Nein, das geht gar nicht. Okay, es geht, aber es würde sehr lange dauern, 20 oder 30 Jahre. Wenn man das Geld gar nicht anfassen würde, würde es 30 Jahre dauern. Das kommt ja nicht infrage. Für die gleiche Arbeit in einem anderen Land würde ich viel, viel mehr bekommen. Jeder, der in meinem Beruf arbeitet, wandert aus, sobald er die Gelegenheit hat."

2016 als Jahr der Hoffnung in Teheran

Ein Hochhausgebäude in der Ferdowsi-Straße. Hier befinden sich die Büroräume einer Firma, die früher Windkraftanlagen und die dafür notwendigen Technologien importiert hat.
Als der 57-jährige Ahmad im Jahr 2016 sein Unternehmen für grüne Energie gründete, war er voller Zuversicht. Es war ein paar Monate nach dem historischen Atomabkommen, die meisten Sanktionen waren aufgehoben worden.
Hochrangige Politiker und mit ihnen Wirtschaftsvertreter vor allem aus Europa, pilgerten nach Teheran, um neue Deals abzuschließen. Die erneuerbaren Energien, das Hauptgebiet von Ahmads Firma, lag schon damals voll im Trend. "Als die Atomverträge unterschrieben wurden, waren die wirtschaftlichen Beziehungen mit den europäischen Ländern und Amerika sehr gut", erzählt Ahmad. "Die blockierten Gelder wurden freigegeben, die Wirtschaft blühte auf."
Vor allem im Bereich erneuerbare Energien seien die Beziehungen prima gewesen. "Viele europäische Firmen wollten im Iran investieren. Sauberer Strom ist im Iran einfach zu erzeugen. Wind und Sonne, davon haben wir hier im Überfluss. Doch leider konnten wir nach der Aufkündigung der Verträge durch den damaligen US-Präsidenten Trump diese Arbeit nicht fortsetzen."

Donald Trump als Sündenbock

Ahmad, der vor den Trümmern seiner Existenz steht, gibt die Schuld für das Scheitern der Verträge, wie die meisten Iraner, vor allem einer Person – Donald Trump. Jetzt sind die Büroräume seiner Firma verlassen und die Kisten mit den Firmenordnern zusammengepackt. Die Bürostühle, die noch in Fabrikfolie verpackt sind, werden verscherbelt, sagt Ahmad wehmütig. "Die Pleite unserer Firma war unmittelbare Folge der Sanktionen." Am stärksten seien die hochentwickelten Technologien betroffen gewesen.
"In unserem Bereich sind wir auf ausländische Investitionen angewiesen. Die Investoren haben keine Lust, ihr Geld in ein Land zu bringen, in dem es keine garantierte Sicherheit dafür gibt. Sanktioniert wurde zum Beispiel die Einfuhr großer Konverter für Windkraftanlagen aus den USA, weil man sie auch in anderen Branchen verwenden kann." Zum Beispiel beim Militär, erklärt Ahmad.
"Viele Unternehmen wie zum Beispiel Siemens dürfen uns keine Einzelteile schicken, weil die USA sie mit Sanktionen belegt haben. Auch Banken, die mit uns arbeiten wollen, müssen mit Sanktionen rechnen. So wurden wir gezwungen, unsere Mitarbeiter zu entlassen. Jetzt haben wir den Punkt erreicht, an dem die Firma aufgelöst wird."
Eine breite, verzierte Treppe führt in ein Atrium in der Iran Mall.
Die Iran Mall ist ein riesiges, luxuriöses Einkaufszentrum im Nordwesten von Teheran. Nur wenige Iraner können die Restaurants besuchen oder in den Geschäften einkaufen.© Deutschlandradio / Jagoda Rahmani
Ahmad, das stolze Familienoberhaupt, der bis jetzt kaum finanzielle Probleme hatte, ist nun verschuldet. Es gab auch Monate, in denen sich der einst erfolgreiche Geschäftsmann Geld bei Bekannten leihen musste. "Das Leben kostet hier sehr viel. Ich besitze ein Haus, in dem ich mit meiner Familie wohnen kann, ohne Miete zu zahlen. Aber die Lebenshaltungskosten sind so hoch, dass ich sehr bald einen Job finden muss. Und sobald sich eine Möglichkeit ergibt, werde ich nach Europa auswandern."

Der Traum von der Ausreise

Dena, 41 Jahre alt, promovierte Sportmedizinerin, feiert heute ihren großen Tag. Sie hat viele Freunde in den Garten ihrer Eltern im Norden Teherans geladen. Dena selbst wohnt im Süden der Hauptstadt, wo die Mieten noch bezahlbar sind.
Die Wissenschaftlerin verlässt den Iran. Endlich geht es ab ins Ausland, in die Schweiz. „Ich habe es geschafft – mein großer Traum geht in Erfüllung“, sagt sie und freut sich. "Ich habe ein Stipendium in Europa. Dort mischt sich keiner ein. Ich kann anziehen, was ich will. Dort ist wichtig, was ich kann, und nicht was ich trage."
Sie war schon immer politisch aktiv. Sie nahm an den Protesten der „Weißen Mittwochs“ teil, bei denen Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gingen, obwohl ihnen Gefängnisstrafe und Peitschenhiebe drohten.
Sie setzte sich für Frauenrechte im Iran ein, organisierte Fahrradcorsos, bei denen sie mit Gleichgesinnten auf dem Rad durch Teheran fuhr, obwohl Frauen das laut einer Fatwa des religiösen Führers Chamenei nicht dürfen.
Doch jetzt hat Dena keine Kraft mehr, sie will einfach nur weg. "Ich wollte einen guten Job für mein Land tun, ein bestimmtes Medikament entwickeln. Doch dann merkte ich, dass sie mich hier nicht wollen. Für sie ist es nicht wichtig, dass ich das Know-how habe. Also wieso sollte ich in diesem Land bleiben?"

"Manche Internetseiten sind für uns gesperrt"

Die Wissenschaftlerin mit Haut und Haar ist wütend. Der Staat mische sich überall ein. Auch bei der Internetnutzung, einer Informationsquelle, die wichtig sei, um mit Kolleginnen und Kollegen vernetzt zu sein und Zugang zu den neuesten Veröffentlichungen zu haben.  
Doch das passe dem autokratischen Staat nicht, sagt sie. "Manche Internetseiten sind für iranische Nutzer gesperrt. Ich muss meinen Professor im Ausland bitten, dass er den Download für mich macht und mir schickt. Man hat dann das Gefühl, allein zu sein. Als ob man von der Welt ausgeschlossen wird, weil man im Iran lebt."
Die Führer dieses Landes hätten die Macht, die Menschen keinen Einfluss. "Die da oben sind die Starken. Ich weiß nicht, was sie sich denken. Dass diese Erde ihnen gehört? Sie wollen die ganze Welt an sich reißen."

Auswandern als Flucht vor Unterdrückung

Dena hat mehrere Jahre lang für ihr Stipendium gekämpft, hat selbst den Kontakt mit einer Universität in Zürich geknüpft und einfach auch Glück gehabt. Nicht viele bekommen diese Chance. Grund sei die Vetternwirtschaft in ihrem Land, so Dena. "Diejenigen, die Beziehungen zur Regierung oder dem Parlament haben, bekommen die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und ihre Kinder zum Studium nach Europa zu schicken."
Das sei ungerecht. "Denn wir haben viele fähige, kluge Studenten, die eigentlich diese Chance, die ein Stipendium bietet, verdient haben. Viele meiner Freunde denken: ‚Wenn bloß die Zustände sich änderten, würde ich nirgendwohin gehen.‘ Aber wir werden unterdrückt und so entscheiden sie sich auszuwandern."

900 Universitätsdozenten verließen 2020 den Iran

Tatsächlich sind auch die iranischen Machthaber mittlerweile wegen des Braindrain, der Abwanderung von Talenten aus dem Iran, beunruhigt. Rund 900 Universitätsdozenten haben das Land im Jahr 2020 verlassen. Das gab Ende März Mansour Gholami, der damalige Minister für Wissenschaft, Forschung und Technologie, bekannt.
Doch wenn sich die wirtschaftliche und politische Lage nicht verbessert, werden noch mehr junge Arbeitskräfte das Land verlassen. Seit August amtiert ein neuer Präsident. Ebrahim Raisi, ein Hardliner und Vertrauter des religiösen Führers Chamenei. Dena glaubt nicht, dass er den Iran für die Akademiker attraktiver machen wird.

Keiner glaubt den Politikern mehr

Ob sich sonst etwas mit der Regierung Raisi verändern wird? Ihr sei es egal, sagt Dena. "Ich zerbreche mir darüber nicht mehr den Kopf. Denn ich hatte schon beim Amtsantritt der letzten zwei Präsidenten Hoffnung. Sonst wäre ich schon früher gegangen."
Jetzt interessiere sie das alles nicht mehr. "Ich möchte auch nicht mehr hoffen. Ich hatte meinen Doktor gemacht und war zuversichtlich, dass sich die Situation im Iran verbessern würde. Aber es ist noch schlimmer geworden, sehr viel schlimmer." Jetzt hätten die Menschen keine Hoffnung mehr.
"Es gibt im Iran eine Redensart über einen lügnerischen Schäfer, dem keiner mehr glaubt." Genauso ergehe es den heutigen Politiker. "Selbst, wenn sie jetzt die Wahrheit sagen würden, es glaubt ihnen keiner mehr."
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