Das Stigma und Trauma von Rostock-Lichtenhagen
Vor 25 Jahren brannte das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Wie gehen Opfer und Täter, Polizei und Schaulustige heute damit um?
Ein Besuch vor Ort.
Montagfrüh: Polizeiinspektion Rostock. Polizeidirektor Michael Ebert lässt sich telefonisch mit allen Revieren zusammenschalten. Die Morgenlage nach einem Wochenende mit vielen Einsätzen.
"Okay, herzlichen Dank, Herr Richter." - "Gut, dann machen wir weiter mit dem Revier Lichtenhagen." - "Ja, guten Morgen. Wir haben insgesamt 23 Anzeigen aufgenommen."
Sicherheits- und kriminalpolitisch falle das Revier Lichtenhagen nicht aus dem Rahmen. Zumindest nicht im Vergleich zu den anderen Rostocker Plattenbausiedlungen, sagt Michael Ebert später. Doch eines werde sich für wohl nie ändern:
"Mich ergreift dieses Thema ständig. Spätestens, wenn ich privat unterwegs bin nach Warnemünde und hier vorbeifahre - man guckt automatisch hin. Man guckt auf diesen Giebel. Man schaut auf diese Sonnenblumen, und man ist sofort wieder in den Erinnerungen dessen, was hier passiert ist."
Was "hier passiert" ist, liegt 25 Jahre zurück. Michael Ebert erlebte es als Gruppenführer einer Ausbildungshundertschaft.
"Wir waren immer irgendwie auf Distanz zu dem Haus in hundert, zweihundert, dreihundert Metern Entfernung. Wir haben, wenn ich das heute richtig verstehe, die Taktik und Strategie des damaligen Polizeiführers, versucht, erst mal den Mob auf Distanz zum Objekt zu halten. Und es war natürlich für uns in keiner Weise nachvollziehbar, warum wir dann irgendwann hier weg mussten, hier abgezogen wurden."
Wie sich alles aufschaukelte
Rückblende: Der 22. August 1992 ist ein warmer Sommersamstag mitten in Mecklenburg-Vorpommerns Ferienzeit. Doch im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen ist die Stimmung alles andere als entspannt:
"Ich bin nicht ausländerfeindlich. Aber wie die sich hier bewegen, das geht doch gegen jede deutsche Norm. Da sind wir Deutschen ganz anders für Sauberkeit für Ehrlichkeit."
Dieser Mann lebt in dem langgestreckten Zehngeschosser mit dem markanten Sonnenblumenmosaik in der Mecklenburger Allee. Wie viele andere Lichtenhäger hat er sich vor dem Aufgang Nr. 18 eingefunden. Hier betreibt Mecklenburg-Vorpommern seine Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, kurz: ZAST.
Doch die ist hoffnungslos überfüllt. Seit einigen Monaten campieren sogar hunderte Menschen im Freien ohne jede Verpflegung, Waschgelegenheiten, Toiletten, und täglich kommen mehr. Es sind vor allem Sinti und Roma. Schon lange beklagen die Anwohner Dreck, Lärm, Gestank, Diebstähle. Aber:
"Keiner hilft uns. Wir haben in Hausversammlungen gefordert, dass die Vertreter dieser Verantwortlichen mal herkommen. Kein Mensch hilft uns. Schlimm, dass wir diesen Bürgern, die heute hier randal---, äh, die heute ihren Protest zeigen, Recht geben müssen. Ist schlimm!"
Obwohl die Stadt an diesem Samstagvormittag die Freiflächen räumen lässt und die Asylbewerber anderenorts unterbringt, schaukelt sich die Stimmung am Nachmittag auf. Etwa 150 Jugendliche beginnen, Steine aus Gehwegen und Gleisbetten zu brechen. Hassparolen wie "Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!" und "Wir kriegen euch alle!" ertönen.
"Dreckschweine, die scheißen und pissen um unseren Block"
Gegen 21 Uhr mischt sich Wolfgang Zöllick unter die wütenden Anwohner. Der Senator für Jugend, Gesundheit und Soziales und Stellvertreter des urlaubenden Oberbürgermeisters wohnt selbst im Stadtteil Lichtenhagen. Ein NDR-Kamerateam filmt, was sich vor dem Sonnenblumenhaus abspielt:
"Für uns im Block sind das zu Deutsch gesagt Dreckschweine. Die scheißen und pissen um unseren Block. Die liegen in jeder Ecke…" - "Und bumsen ---" - "…und bumsen uff der Wiese. Man kann hier nachts überhaupt nicht mehr das Fenster aufmachen. Das stinkt hier an allen Ecken und Enden."
"Aber das sind doch Menschen, die hier sind." - "Menschen? Raus mit dem Scheiß!"- "Wie auch immer sie sich verhalten – es bleiben doch Menschen." -"Das sind doch keine Menschen!" – "Die sollen ihren Scheiß wegräumen!" – "Blutsauger sind das." – "Das sind Diebe!" - "Wenn Sie mich fragen, sind sie ---- Nach den gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen ist jeder ausländische Bürger, der Deutschland betritt, berechtigt…" - "Sie haben doch keine Ahnung, Mann! Raus mit dem Scheißdreck, Mann!" - "Ja, dazu müssen wir die Gesetze ändern..."
"Wenn man die Bilder sieht, wenn man die Filme sieht - unter dem Beifall von Leuten, die sich das angeguckt haben. Tja, schlimm. Schlimm. Es ist wirklich schlimm gewesen. Nicht jeder hat zu Steinen gegriffen, aber genügende haben dazu gegriffen."
Tatsächlich werfen an diesem Abend rund 400 Jugendliche Steine und Brandflaschen gegen die Zentrale Aufnahmestelle und auf Polizisten – unter dem enthemmenden Einfluss von Alkohol, Gruppendynamik und etwa eintausend applaudierenden Schaulustigen.
"Angst? Ich war mit bei! Ich hab' zu einem Polizisten gesagt: 'Mein 14jähriger Sohn hat auch da gestanden. Sie können machen, was Sie wollen. Wenn mein Sohn jetzt 'nen Stein nimmt und schmeißt, und der trifft jetzt meinetwegen keinen Polizisten, aber einen von den Asylanten - ich würde noch mithelfen!"
Nichts entschuldigen, aber sich in die Nachwendezeit zurückversetzen
Wolfgang Zöllick ist weit davon entfernt, die ausländer- und übrigens auch extrem polizeifeindliche Stimmung von damals zu entschuldigen. Doch wenn er nach Erklärungen dafür sucht, dass ausgerechnet die schon zu DDR-Zeiten relativ internationale Hansestadt Rostock 1992 zu einem Synonym für Fremdenhass geworden ist, dann versetzt er sich zurück in die unmittelbare Nachwendezeit mit all ihren Hoffnungen, Brüchen, neuen Gesetzen und mit diversen Verwaltungsstrukturen im Aufbau.
"Da gab es weder Erfahrungswerte von denen, die hier schon immer gelebt haben, wozu ich ja auch zähle, noch von denen, die im Zuge der Hilfe für die Verwaltung aus dem Westen kamen. Und jetzt war platziert worden die Zentrale Aufnahmestelle des Landes mitten in einem Stadtteil, der zum damaligen Zeitpunkt viele soziale Brennpunkte hatte. Wenn ich nur an den Schiffbau denke, an die Zulieferindustrie dort, dann waren das nicht zwanzig, dreißig Leute, die ihre Arbeit verloren hatten, sondern ganze Familien, in denen der Vater, der Sohn keine Arbeit mehr hatten. Die Arbeitslosigkeit war sprunghaft angestiegen. Auf der anderen Seite waren Konsummöglichkeiten da in ungeahntem Ausmaß."
Frust und Konfliktpotential sind im Sommer 1992 also reichlich vorhanden, als nun auch noch die Zustände vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber aus dem Ruder laufen und weder Stadt noch Land auf die berechtigen Klagen der Anwohner reagieren, sagt der damalige Bürgermeister.
Die Gewalt setzt sich in den nächsten Tagen fort - mit Brandflaschen, Steinen und Feuerwerkskörpern. Am dritten Abend brennen nicht mehr nur Funkstreifenwagen und Privat-PKW, sondern auch Wohnungen. Da hat sich der inzwischen von angereisten Neonazis aus dem Westen gesteuerte Mob auf den Nachbaraufgang im "Sonnenblumenhaus" verlegt.
Dort wohnen rund 300 Vietnamesen, die in den 80er Jahren als Gastarbeiter auf dem Rostocker Seehafen beschäftigt waren und sich nach der Wende vor allem als Händler durchschlagen. Viele sind mit Polizeischutz bereits in Notunterkünfte gebracht worden. Doch 22 Vietnamesen harren in dem Glauben aus, dass die Deutschen sie auch weiterhin nicht mit den osteuropäischen Asylbewerbern verwechseln werden. Son Hyunh denkt zurück:
"Also damals hat er nur vom Fenster gesehen eine Masse Leute unten. Sie haben auch gesagt, sie sind gegen die Asylbewerber." Der heute 59jährige ergänzt, "die Asylbewerber von nebenan" seien tatsächlich "sehr unordentlich" gewesen. Als sich später die von inzwischen zugereisten Neonazis koordinierten Angriffe auch gegen die Vietnamesen richteten, "waren wir alle geschockt", sagt Herr Huynh.
Wie weiter leben nach dem Anschlag?
Wie die meisten Vietnamesen aus dem Sonnenblumenhaus lebt Herr Hyunh heute im Nachbarbezirk Lütten Klein - mit seiner Frau und den drei in Rostock geborenen Söhnen.
"Also, er ist in einem Hafen in Vietnam geboren, und jetzt er liebt sehr den Hafen und deshalb bleibt er in Rostock."
Zudem seien seine drei Söhne hier geboren und verwurzelt. Alle tragen übrigens einen vietnamesischen und einen deutschen Vornamen. Auch Martin Huynh, der älteste Bruder, möchte in Rostock bleiben, an der Uni Maschinenbau studieren. Dabei fällt der Schatten von Lichtenhagen '92 beinahe täglich auf sein Alltagsleben, obwohl er sechs Jahre später geboren wurde.
"Ich darf jetzt wegen dem Vorfall auch nicht wirklich lange draußen bleiben. Das heißt, ich kann, wenn es Abend wird, bis spätestens 18 Uhr. Andere Freunde können bis 20 Uhr oder länger draußen bleiben. Ich muss eben bis 18 Uhr wegen dem Vorfall." - "Wie alt bist Du?" - "Ich werde dieses Jahr 19." (lacht) - "Dann kannst Du ja selber entscheiden." - "Genau, aber trotzdem. Die machen sich zu doll Sorgen, und ich komme immer pünktlich nach Hause." - Er werde auch grundsätzlich von Freunden nach Hause begleitet. - "Die wissen halt, dass meine Eltern übervorsichtig sind."
Was genau seine Eltern vor 25 Jahren im Sonnenblumenhaus erlebt haben, weiß Martin allerdings nicht. Die Eltern reden nicht darüber, andere Verwandte auch nicht.
"In der Familie wird es gar nicht angesprochen. In der Schule haben wir´s mal gehört ab der 6. Klasse und dann wollte ich mal nachfragen. Aber es wurde verschwiegen. Nie 'ne Antwort."
Belagert von Schlägertrupps und Neonazis
Auskunft geben können auch die Reportagen jenes ZDF-Teams, das am Abend des 24. August 1992 mit den Vietnamesen und dem Rostocker Ausländerbeauftragten Wolfgang Richter in den oberen Etagen Schutz vor dem Feuer sucht.
"Wir schauen mit den Vietnamesen hinunter und erblicken blanken Hass und blinde Wut. Zunächst noch gegen die Polizisten. Die ziehen sich aber zurück. Das ist die Chance für die Schlägertrupps. Sie stürmen das Ausländerheim. Wir selbst sind die Belagerten geworden."
"Ich alleine und meine Landsleute sind total am Ende. Wir können das gar nicht begreifen, warum mit solchen Ausmaßen gegen Ausländer. Und damit sind wir Vietnamesen auch gemeint." - "Von der Polizei immer noch keine Spur, und wir sitzen in der Falle."
Kein Wunder, denn an diesem Abend müssen sich die Polizisten zurückziehen. Darunter Michael Ebert, damals Gruppenführer einer Ausbildungshundertschaft:
"Ja, das ist erschreckend, ne? Das ist natürlich nicht unser Selbstverständnis, dass Häuser brennen, Menschen in Not geraten, während wir eigentlich in der Nachbarschaft in Bereitschaft sitzen. Ich weiß nicht, ob das jemals genau aufgeklärt werden kann, wer damals wann welche Weisung gegeben hat. Es haben sich Untersuchungsausschüsse damit beschäftigt. Eine – ja, ich möchte fast sagen - organisierte Unverantwortlichkeit."
Die Polizeiführung habe eine Mitverantwortung dafür getragen, dass sich der Mob über Tage und Nächte hinweg so gewalttätig austoben konnte. Pures Glück, dass die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen keine Toten forderten, sagt Michael Ebert. Er ist heute Rostocks Polizeichef und findet, dass die Polizei aus Lichtenhagen vor allem eines gelernt habe: Bereits vorausschauend aktiv zu werden, etwa wenn die Migrantenströme deutlich zunehmen.
Aktives Bürgerengagement gegen Rechts
Beispiel 2015/Anfang 2016, als tausende Asylsuchende, die per Fähre nach Skandinavien übersetzen wollten, in der Hansestadt strandeten. "
Wir haben zu jeder Unterkunft - ob es eine Turnhalle war oder ein Hotel, ob es eine Pension war oder eine Schule - Sicherheitsgutachten geschrieben. Wir haben in dieser Stadt keine weiteren Brandanschläge nach 1992 auf Flüchtlingsunterkünfte gehabt."
Das hänge auch damit zusammen, dass sich nach Lichtenhagen '92 viele Vereine und Initiativen gegründet haben, darunter "Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach" oder "Bunt statt Braun", sagt Wolfgang Zöllick. Mittlerweile denkt der damalige CDU-Bürgermeister und heutige Rentner nur noch dann an die Gewaltexzesse von vor 25 Jahren, wenn die berüchtigten Hansa-Rostock-Ultras mit brutaler Gewalt gegen die Polizei vorgehen.
Ansonsten gehe es ihm wie vielen Rostockern. Wenn er an dem Sonnenblumenhaus vorbeikomme, passiere bei ihm:
"Nach so vielen Jahren nichts mehr. Also das muss man deutlich sagen. Das Leben hat sich ja danach sehr schnell auch wieder normalisiert. Die heute dort wohnen, fühlen sich eigentlich recht wohl, und es erinnert eigentlich nichts mehr daran außer, dass das Haus noch steht und eine Sonnenblume an der Seite ist. Aber das ist mehr als Schmuck zu sehen. Nein, da empfindet man nicht mehr direkt etwas. Es sei denn, man spricht über das Thema. Das ist eine ganz andere Geschichte."
Kunst, Gedenkfeier und Aufarbeitung
Genau das geschieht schon die ganze Woche über, auch dank der städtischen Arbeitsgruppe "Gedenken – Rostock erinnert sich". Polizeidirektor Michael Ebert engagiert sich dort ebenso wie Gudrun Heinrich von der Universität Rostock. Spätestens dann, wenn sich wieder ein runder Jahrestag anbahnt, suchen sie einen passenden Umgang mit jenen Geschehnissen, die viele als Pogrom bezeichnen. Ein umstrittener Begriff, aber - so die Extremismusforscherin.
"Der Begriff 'Pogrom' geht davon aus, dass es eine breitere Tätergruppe ist, die - in der Gesellschaft verankert - über mehrere Tage hinweg sich gegen ein Minderheit richtet und es auch kein staatliches Einschreiten dagegen im schnelleren Sinne gibt. Wir haben mehrere tausend Schaulustige, die die Ausschreitungen auch unterstützt haben. Die Umstehenden haben die Jugendlichen angespornt, doch Molotowcocktails zu werfen, sie teilweise auch damit versorgt. Und vor allen Dingen die konkrete Situation, als es in dem Haus der vietnamesischen Vertragsarbeitnehmer gebrannt hat, kam die Feuerwehr nicht an das Haus, weil Schaulustige das verhindert haben. Von daher ist in dem Fall der Begriff sicherlich nicht unumstritten, aber 'Pogrom' nicht unumstritten. Aber meiner Ansicht nach passt er hier."
Noch bis zum morgigen 26.08. führt die Hansestadt eine Gedenkwoche durch. Unter dem Titel "Gestern – heute – morgen" wird täglich ein anderes Objekt der Künstler Alexandra Lotz und Tim Kellner aufgestellt. Darunter die Skulptur "Staatsgewalt" vor der Polizeiinspektion Rostock, "Medien" vor dem Verlagsgebäude der "Ostseezeitung", "Selbstjustiz" vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen.
Derweil blieben am Dienstagabend zur Eröffnungsgedenkfeier mit der Ministerpräsidentin und dem Vorsitzenden des Zentralverbandes der Sinti und Roma viele Sitze in der Rostocker Marienkirche leer. Desinteresse? Überdruss? Gudrun Heinrich glaubt, dass die Geschehnisse von vor 25 Jahren sehr wohl viele Rostocker bis heute bewegen. Das merke sie unter anderem bei den Schülerprojekten, die sie zu diesem Thema durchführt.
"Was mir immer wieder auffällt: Wie eng verwoben das Thema 'Lichtenhagen' in der Stadtgesellschaft ist. Also dann kommen Schüler und erzählen 'Also mein Großvater hat auch zugeguckt.' Der nächste sagt: 'Ja, mein Vater war im Knast, weil er an der Linken-Demo teilgenommen hat.' Und die anderen erzählen: 'Meine Mutter war in Tränen aufgelöst, denn sie schämt sich, dass sie damals nicht eingeschritten ist.' Also, dieses Narrativ 'Lichtenhagen' ist ein Trauma und ein Stigma für die Stadt Rostock zugleich. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in die Aufarbeitung gehen."