Brasiliens Minen-Desaster

Brumadinho und die Folgen

22:57 Minuten
Nach dem Dammbruch von Brumadinho am 25. Januar 2029 hinterließ die Schlammlawine eine Schneise der Verwüstung.
Nach dem Dammbruch von Brumadinho am 25. Januar 2019 hinterließ die Schlammlawine eine Schneise der Verwüstung. © imago / Fotoarena / Cadu Rolim
Von Burkhard Birke · 24.01.2023
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Am 25. Januar 2019 brach der Damm einer Eisenerzmine in der Nähe der brasilianischen Stadt Brumadinho und mehr als 270 Menschen kamen ums Leben. Bis heute leidet die Bevölkerung unter den Folgen.
Eine Hügelkette, darunter ein breites Tal, das am Rande einige Häuser und Farmen säumen. In der Mitte befindet sich ein riesiges Areal, in dem Bagger und Planierraupen Erde und Geröll bewegen dort, wo einst Installationen der Eisenerzmine des Bergbaukonzerns Vale standen. Das Areal ist eingezäunt – Zutritt verboten.
Noch immer ist der Boden verseucht hier in Córrego do Feijao, etwa 30 Autominuten von der schmucklosen Kleinstadt Brumadinho entfernt. Dort treffe ich Gleison Welbert Pereira. Der Ingenieur arbeitete früher bei Vale, wohnt in Córrego do Feijao, für unser Treffen bevorzugt er jedoch das Haus seiner Schwiegereltern am Ortsausgang von Brumadinho, der Stadt am Paraoebafluss, die dem Unglück den Namen gegeben hat.
„Ich bete zu Gott, dass das der letzte Dammbruch war, aber ich befürchte sehr, dass es weitere geben wird“, sagt Gleison.

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Er gehört zu den Glücklichen, die die Katastrophe vom 25. Januar 2019 überlebt haben. Er war zur Mittagszeit mit seinem Kleinlaster unterwegs zur Schranke an der Eisenerzmine Córrego do Feijao, als das Rückhaltebecken barst. 11,7 Millionen Kubikmeter Schlamm und toxische Schwermetallrückstände stürzten über Verwaltungsgebäude und die gut besuchte Cafeteria hinab ins Tal.
„Als ich an die Schranke kam, sah ich, wie eine fünf bis sechs Meter hohe Schlammlawine über die Menschen rollte, Carlinho rief: Der Damm ist gebrochen, schnell weg!! Ich habe den Pick-up gedreht und Gas gegeben, zum Glück war die Schlammlawine etwas langsamer, da wo ich war.“

Die Ereignisse verfolgen ihn bis in den Schlaf

Mit seinem Pick-up hat Gleison noch einige Arbeitskollegen aufgelesen und ihnen so das Leben gerettet. Für viele ist er deshalb ein Held. Lange Zeit konnte und wollte er nicht über jenen schicksalsträchtigen Tag sprechen. Die Ereignisse verfolgen ihn noch immer im Traum.
Die Erinnerung an die geliebten Menschen und Freunde, mit denen er zusammengearbeitet hat, ist allgegenwärtig.
„Reinaldo, Wagner, Cristiane, die im Bus immer neben mir saß.“
Schier unendlich wirkt die Liste der Kollegen und Freunde, die Gleison verloren hat. Erst kurz vor Weihnachten wurden jetzt die Überreste von Cristiane gefunden und anhand einer DNA-Analyse identifiziert. Noch immer wird nach den Überresten einiger der Opfer gesucht, die die Schlammlawine unter sich begrub.
Gleison selbst, der eigentlich als Ingenieur und Aufseher bei Vale tätig war, hat eineinhalb Jahre lang für Vale nach Opfern gesucht – gemeinsam mit Feuerwehrleuten und Militärs. Anders als letztere bekam er jedoch weder Schutzkleidung noch psychologische Betreuung. Von Vale ist er enttäuscht. Mit dem Bergbaukonzern, der ihm das Studium finanziert und mehr als zwei Jahrzehnte Arbeit gegeben hat, will er nichts mehr zu tun haben.
Rein äußerlich wirkt der stämmige Mittvierziger mit dem vollen schwarzen Haar ruhig, man spürt aber, wie sehr die Erinnerung noch immer an ihm zehrt. Ihm hilft es, darüber zu sprechen. Gewünscht hätte er sich dauerhafte psychologische Betreuung nach dem durchlebten Trauma – so wie viele Menschen in Brumadinho.

Menschen haben Depressionen und begehen Suizid

„Ich wache auf und denke ich sei im Dammbruch und es gibt Tage, da schaffe ich es nicht, die Kinder zur Schule zu bringen.“
Flavia, eine groß gewachsene Mittdreißigerin, hat an jenem 25. Januar ihren Vater und viele Freunde verloren und ist bis heute traumatisiert. Erste Erhebungen von Ärzten und sozialen Diensten haben ergeben: Circa ein Fünftel der Bevölkerung in der Gegend um die 40.000 Einwohnerstadt Brumadinho leidet an Depressionen, doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt. Ungewöhnlich hoch ist auch die Selbstmordrate in der Region: 
„Zuletzt gab es vier Selbstmorde und zwei Selbstmordversuche binnen 60 Tagen hier in der Gemeinde. Die Menschen führen das auf das Verbrechen des Dammbruchs zurück. Es gibt mehr psychische Erkrankungen und die Leute nehmen sich das Leben, weil Ihnen niemand hilft“.
Die Bergbaumine des Konzerns Vale nahe der Stadt Brumadinho: Zerstörte Häuser und Baracken in einer Mine, nachdem eine meterhohe Schlammlawine sich darüber gewälzt hat.
Eine meterhohe Schlammlawine hatte sich nach dem Dammburch über Baracken und Häuser gewälzt und begrub etliche Minenangestellte unter sich. © imago / Agencia EFE / Antonio Lacerda
Valeria spricht ganz bewusst von Verbrechen, denn die Firma Vale hätte das Risiko des Dammbruchs bewusst in Kauf genommen und Menschenleben gefährdet, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann und anderen hatte sich die heute 54-jährige eine kleine ökologische Landwirtschaft unweit von Brumadinho aufgebaut. Sie ist eigens aus der Großstadt aufs Land gezogen. Der Dammbruch und vor allem die Spätfolgen haben ihren Lebenstraum zerstört.
„Ich betreibe noch Landwirtschaft, kann aber die Produkte nicht mehr verkaufen. Die Menschen haben Angst, sie seien verseucht. Mein Mann leidet an Depression, meine Töchter sind krank vor Angst und ich auch. Sie wissen, dass ihre Mutter bedroht wird, und bitten mich, dass ich nicht weiter jeden Tag rede. Als sie wussten, dass ich zu diesem Gespräch gehe, haben sie gesagt, ich solle das nicht tun, sonst würde ich noch sterben.“
Allen – meist anonymen – Drohungen zum Trotz redet Valeria, macht ihrem Unmut Luft. Vor allem nach den Überschwemmungen vor einem Jahr sind die Böden auf einer erweiterten Fläche mit Schwermetallen verseucht worden. Am 8. Januar 2022 stieg der Pegel des Paraopeba-Flusses binnen 48 Stunden auf 9,50 Meter an. Der toxische Schlamm, der sich nach dem Dammbruch auf dem Grund des Flusses abgelagert hatte, wurde großflächig verteilt und hat die Böden auf einer enormen Fläche verseucht.
Selbst in 300 Kilometer Entfernung macht sich jetzt die Verunreinigung von Wasser und Böden bemerkbar. Seit den Überschwemmungen häufen sich Durchfallerkrankungen, Fieber, Allergien und Hautausschläge bei den Anwohnern. Nur 22 Gemeinden, weniger als die Hälfte der betroffenen, werden von Vale mit Trinkwasser beliefert: In anderen bleibt den Bewohner keine andere Wahl als möglicherweise verseuchtes Wasser zu trinken oder teures Mineralwasser zu kaufen.

Im Wasser und in dem Schlamm wurden Eisen, Mangan und Aluminium in bis zu sechsfach erhöhten Konzentrationen gefunden. Dieses Wasser kann nicht mehr für die Bewässerung genutzt werden. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass diese Stoffe schon im Blut gefunden wurden. Sie können die Nerven angreifen, das Immunsystem und die Leber.

Cristiano Silva

Erläutert der für die Risikobewertung im Rathaus von Brumadinho zuständige Cristiano Silva. Er und seine Mitarbeiter tun, was sie können. Zwar wurden einige Arbeitskräfte zur medizinischen und sozialen Betreuung zusätzlich eingestellt: Angesichts der Dimension des Problems fühlt man sich hier in der Gemeinde wie in der gesamten betroffenen Gegend jedoch weitgehend alleingelassen. Es existiert noch nicht einmal eine umfassende Schadensanalyse.

Die Bevölkerung wird mit Problmen allein gelassen

Forscher von Fiocruz, der Fundacao Oswaldo Cruz, und der Bundesuniversität von Rio de Janeiro haben letztes Jahr eine sehr begrenzte Pilotstudie mit 3297 Personen durchgeführt. Untersucht wurden die Lebensbedingungen, Gesundheit und Arbeitssituation der Bevölkerung in Brumadinho.
Das Ergebnis: Abgesehen von verstärkten psychischen Belastungen, der gestiegenen Selbstmordrate von durchschnittlichem einem pro Woche wurden bei einem Drittel der Probanden erhöhte Arsenwerte im Urin, bei 37 Prozent Mangan im Blut gefunden. Konsequenzen aus den Erkenntnissen gab es bisher so gut wie keine! Da wundert es nicht, wenn Menschen wie Valeria und Flavia verzweifelt sind. Der Dammbruch von Brumadinho hat ihr Leben zerstört.
„Vale ist ein mörderisches Unternehmen, das den Fluss zerstört und Tier und Mensch umbringt.“
Denn Profit wird über Menschenleben gestellt, sagt Inhana Olga, Koordinatorin bei Renser, Regiao Episcopal Nossa Senhora do Rosario, einer katholischen Hilfsorganisation. Renser kümmert sich um viele der Opfer, leistet die Arbeit, die eigentlich der Bergbaukonzern Vale oder staatliche Stellen erbringen müssten. Vale hat im Zuge der Ermittlungen den Vorwurf eines willkürlichen Verbrechens natürlich von sich gewiesen. Zur aktuellen Situation äußert man sich trotz zahlreicher Anfragen nicht.
Fotos von toten Menschen liegen auf dem Rasen. Eine trauernde Person kniet daneben.
Mehr als 270 Menschen haben 2019 bei dem Dammbruch ihr Leben verloren. Bis heute sind nicht alle Opfer aus dem Schlamm geborgen.© imago / Agencia EFE / Antonio Lacerda
Viele der Opfer und Geschädigten haben sich indes zu einem Kollektiv zusammengeschlossen: zu AVABRUM – (Associacao dos Familiares de Vitimas Pelo Rompimento da Barragem Mina Córrego do Fejao) – der Assoziation der Angehörigen und Opfer des Dammbruchs. Deren Zielsetzung war und ist klar:
„Jede Familie hat ein Recht darauf, die Überreste ihrer Angehörigen zu bekommen, damit sie ordentlich beerdigt werden können. Keines der Opfer verdient es, im Schlamm begraben zu bleiben. Wir halten auch die Erinnerung aufrecht, damit die Opfer nicht vergessen und sie geehrt werden. Schließlich haben 272 Menschen ihr Leben verloren. Wir kämpfen aber auch, damit sich so etwas nicht wiederholt!“, sag Alexandra Andrade Goncalves Costa, die Präsidentin der Organisation.
Sie trägt ein weißes T-Shirt mit den Konterfeis aller 272 Opfer in Passfotogröße auf der Vorder- und Rückseite. Natürlich kämpft AVABRUM auch für Gerechtigkeit und Entschädigung, bislang mit eher mäßigem Erfolg.

Welche Schuld trägt der deutsche TÜV Süd?

In Brumadinho hat AVABRUM immerhin in einem Haus ein kleines Zentrum einrichten können, wo in begrenztem Rahmen medizinische Betreuung und Aktivitäten für Kinder angeboten werden. Ein Tropfen auf den heißen Stein? Die Menschen sind enttäuscht und verängstigt, zumal auch jetzt immer wieder neue Lizenzen für den Bergbau in der Gegend erteilt werden. 2017 bereits, also zwei Jahre vor der Katastrophe, hatte Vale, der Betreiber der Eisenerzmine von Córrego do Feijao eine Risikoanalyse durchgeführt.
„Die Studie war sehr gut gemacht: Die Katastrophe ist genauso abgelaufen wie analysiert. Die Schlammlawine ist über die Verwaltung und die Kantine gerollt, wo die Beschäftigten beim Mittagessen waren. Vale, der Betreiber, kannte das Risiko und hat darauf gewettet, dass der Damm hält. Leider mit dem Resultat, dass viele sterben mussten“, sagt Lucas Ragazzi, Co-Autor des Buches „Brumadinho, Orchestration eines Verbrechens“, und zwar eines, für das auch der TÜV Süd aus Deutschland vor Gericht zur Rechenschaft gezogen wird.
Dessen Experten sollen wider besseres Wissen den Damm des Rückhaltebeckens als sicher eingestuft haben – angeblich, um vom Vale Konzern andere Beratungsaufträge zu erhalten. Das legen Untersuchungen von Staatsanwaltschaft und parlamentarischen Ausschüssen nahe, deren Ergebnisse Lucas Ragazzi einsehen konnte:
„Es gibt stichhaltige Beweise: einen Mailverkehr zwischen dem TÜV Süd und Vale. Daraus geht hervor, dass der TÜV über den schlechten Zustand im Bild war, den Damm aber dennoch als stabil einstufte.“
Nun müssen sich die deutschen Prüfer in insgesamt 35 verschiedenen Prozessen vor dem Landgericht München verantworten. Im größten Prozess klagen mehr als 1000 Opfer und Hinterbliebene? Sie fordern 440 Millionen Euro Schadensersatz. In Brasilien laufen ebenfalls Prozesse gegen den TÜV und vor allem den Bergbaukonzern Vale.
„Der Bundesstaat Minas Gerais und Vale haben sich auf eine Schadensersatzsumme von knapp acht Milliarden Euro geeinigt. Die Gemeinde Brumadinho wollte bei den Verhandlungen dabei sein, wurde aber vom Gericht ausgeschlossen und bekommt jetzt 300 Millionen Euro von der Gesamtsumme“, sagt Decio Junior, Pressesprecher der Gemeinde Brumadinho.

Weitere Dammbrüche drohen

In hübschen Videos preist der Bergbaukonzern Vale seine vom Umfang eher bescheidenen Reparationsprojekte. Zu einer Stellungnahme war er wie erwähnt nicht bereit. Der Konzern, der im Jahr 2021 satte 25 Milliarden Euro Gewinn erzielt hat, zahlt darüber hinaus auch vielen Betroffenen noch immer monatlich 1000 Reais, circa 200 Euro, fast einen Mindestlohn, allerdings nach undurchsichtigen Kriterien, sagen Kritiker.
Brumadinho ist trotz der widrigen Lebensbedingungen seit dem Dammbruch um 5000 Einwohner auf 40.000 gewachsen. Für die Aufräumarbeiten wurden zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. Neue Jobs sind entstanden. Zugenommen haben aber auch Unsicherheit, Kriminalität und Prostitution, berichten Betroffene wie Valeria und Flavia.

Das Geld, das Vale als Entschädigung zahlt, ist leicht verdientes Geld. Das hat dazu geführt, dass es mehr Verbrechen hier gibt. Wenn ich mit meinen Mädchen rausgehe, dann sehe ich viele Fremde, Drogenabhängige, es wird in die Häuser eingebrochen, und die Menschen bemühen sich nicht mehr, ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Art und Weise zu verdienen.

Flavia

Die Region lebt vom Bergbau, Vale und andere Konzerne bilden die wirtschaftliche Lebensader von Minas Gerais.
Die größte Sorge ist, dass sich eine solche Katastrophe jederzeit wiederholen könnte. Nach den Unglücken von Mariana und Brumadinho gab es Überprüfungen: 39 Rückhaltebecken des Typs von Brumadinho gelten in Brasilien nach Aussage von Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten als riskant, drei davon als extrem gefährdet und hätten längst abgewickelt werden müssen.
„Die Gesetze wurden zwar verschärft, geben den Menschen mehr Rechte und schützen die Umwelt besser, aber sie werden nicht eingehalten.“
Im Zweifel, so Menschenrechtsanwalt Danilo Chammas, zahlen die Bergbaukonzerne lieber eine Strafe als marode Dämme stillzulegen oder nachzurüsten. 

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