Brasilien

Das Vertrauen in das Bildungssystem verloren

Besonders für arme Familien sind private Schulen in Brasilien unbezahlbar.
Besonders für arme Familien sind private Schulen in Brasilien unbezahlbar. © dpa / Peter Kneffel
Von Victoria Eglau |
Staatliche Schulen haben einen schlechten Ruf in Brasilien, doch private sind für die meisten viel zu teuer. Es krankt an vielen Stellen im Bildungssystem und die Bürger sind wütend, dass so viel Geld in die Ausrichtung der WM fließt, anstatt an ihre maroden Schulen. Daran haben sich die landesweiten Proteste entzündet - doch langsam tut sich etwas.
Rio de Janeiro, im wohlhabenden Stadtteil Gávea. Eine stark befahrene Straße, eine hohe, weiße Mauer. Darauf steht in grüner Schrift Escola Parque – Parkschule. Hinter dem kleinen Tor in der Mauer beginnt ein abschüssiger Weg, über den Kinder ihre rollenden Schulrucksäcke ziehen. Die Erwachsenen, die sie begleiten, sind Eltern oder Kindermädchen. Der Weg führt zu einem Ensemble moderner, lichter Schulgebäude, die in üppige, tropische Vegetation eingebettet sind. In der Bibliothek mit mehreren Computer-Arbeitsplätzen arbeitet Mateus Goncalves. Der schlaksige, dunkelhaarige 17-Jährige macht im nächsten Jahr Abitur.
Mateus Mutter ist Lehrerin an der Escola Parque, deswegen hat er ein Stipendium. Für seine Mitschüler kostet der Besuch der Privatschule umgerechnet zwischen 500 und 600 Euro im Monat.
"Dies ist eine teure Schule, aber sie bietet so viel, dass sich die Ausgabe lohnt. Für viele Eltern ist das eine große finanzielle Anstrengung, aber sie ergibt Sinn. Es ist eine Investition."
Die Räume der Park-Schule, in denen die Schüler vom Kindergarten-Alter bis zum Abitur spielen und lernen, sind hell, freundlich und blitzen vor Sauberkeit. Patricia Konder gehörte vor mehr als vierzig Jahren zu den Mitgründern der Escola Parque.Sie ist fast siebzig, hat blaue Augen, einen blonden Pagenkopf und arbeitet als pädagogische Direktorin der Schule.
"Alle sagen, dass unsere Schule anders ist. Meiner Meinung nach ist der Unterschied zu anderen Schulen wirklich groß. Bei uns sollen die Schüler lernen zu denken. Sie sollen kein Wissen auswendig lernen, sondern fähig sein, darüber nachzudenken. Wichtig ist nicht, was ihr Gedächtnis speichert - wichtig ist, dass sie die Welt interpretieren, Probleme lösen und Herausforderungen bestehen können."
Die private Escola Parque gilt als Bildungs-Oase. Denn in der Regel heißt Schule in Brasilien: stures Auswendiglernen, überforderte Lehrer, unmotivierte Schüler. Wer dieser Bildungsmisere an den staatlichen Schulen ausweichen will, schickt seine Kinder auf Privatschulen. Leisten können sich das nur wohlhabende Familien.
Das Vertrauen in das staatliche Bildungssystem verloren
"Die Schüler lieben unsere Schule, sie kommen gerne hierher - deswegen wollen so viele Eltern ihre Kinder hier anmelden. Der Run auf Privatschulen ist aber nicht neu in Brasilien - die Mittelklasse schickt ihre Kinder schon seit zwei Generationen nicht mehr auf staatliche Schulen."
Brasiliens Mittel- und Oberschicht hat seit langem das Vertrauen in das staatliche Bildungssystem verloren. Deshalb ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Schüler, die auf Privatschulen gehen, stetig gewachsen - seit 2007 um 24 Prozent. Fast ein Fünftel der brasilianischen Kinder und Jugendlichen besucht inzwischen private Bildungseinrichtungen.
Von seinem Büro im dreizehnten Stock hat Simon Schwartzman einen der schönsten Blicke von Rio de Janeiro. Er sieht den azurblauen Atlantik und den Zuckerhut. Der Soziologe leitet das unabhängige Institut für Studien über Arbeit und Gesellschaft.
"Brasiliens junge Bevölkerung kann heute in der Regel lesen und schreiben. Das Problem ist nicht ihr Zugang zur Bildung, sondern die schlechte Unterrichtsqualität in den staatlichen Schulen. Das Niveau hat sich in den letzten Jahren kaum verbessert – mit der gravierenden Folge, dass viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Sie halten den Schulbesuch für sinnlos. Und selbst diejenigen, die die Schule zu Ende bringen, sind in der Regel nicht gut ausgebildet."
Rund sechzig Prozent der Brasilianer machen das Abitur. Wer das nicht schafft, ist prädestiniert für unqualifizierte, schlecht bezahlte Jobs. Oder er fasst überhaupt nicht Fuß auf dem Arbeitsmarkt. Simon Schwartzman findet das staatliche Schulsystem viel zu starr – es fehlten Wahlmöglichkeiten.
Schlecht bezahlte Lehrer sorgen für Frust
"In den meisten Ländern können sich Jugendliche entscheiden zwischen einer akademischen und einer praktischen Ausbildung. Innerhalb der akademischen Ausbildung können sie individuelle Schwerpunkte setzen. Nicht so in Brasilien. Hier ist der Lehrplan vollgestopft mit Fächern, die alle bestehen müssen. Wer möglichst viel behalten und reproduzieren kann, schafft es. Doch es gibt keine Möglichkeit der Wahl und der Vertiefung."
Das ist ein Grund für Schulfrust. Ein anderer sind schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Lehrer, sagt Simon Schwartzman. Das treffe sowohl für Grundschul- als auch für Fachlehrer zu.
"Die Studenten kommen schlecht vorbereitet von der Schule an die Uni. Dort studieren sie vor allem Pädagogik. Um ganz ehrlich zu sein, sind viele dieser künftigen Grundschullehrer weder in Sprache, noch in Mathematik und Naturwissenschaften vernünftig ausgebildet. Und was die Fachlehrer angeht: Chemie- oder Biologielehrer wird, wer es nicht geschafft hat, Chemiker oder Biologe zu werden. Das ist auch ein Problem."
Mehr als achtzig Prozent der brasilianischen Kinder und Jugendlichen haben keine Alternative zum staatlichen Bildungssystem. Dass in den Schulen so viel im Argen liegt, war einer der Gründe, weshalb es vor einem Jahr zu Massenprotesten kam. Ja zu Gesundheit und Bildung – Nein zur Fußball-WM, stand auf den Plakaten der empörten Demonstranten, oder: Wir wollen Schulen und Krankenhäuser.
Genau wie viele staatliche Hospitäler sind in Brasilien auch viele Schulen in schlechtem Zustand. Aber das Problem sind nicht nur heruntergekommene Gebäude, sondern auch Gewalt im Klassenzimmer und häufiger Unterrichtsausfall wegen Streiks der unterbezahlten Lehrer.
Das Colegio Estadual Julia Kubitschek befindet sich mitten in Rio de Janeiro. Es gehört zu den wenigen staatlichen Schulen der Stadt, die einen guten Ruf genießen.
Lohanes Schultag dauert elf Stunden
Das ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Der kastenförmige Bau steht abseits des quirligen Zentrums in einer Straße mit Eisenwarenhändlern und Handwerksbetrieben. Hinter der schmutzigen Siebziger-Jahre-Fassade versteckt sich aber ein recht gepflegtes Schulgebäude mit vielen Grünpflanzen. Lohane de Castro, eine schmale 17-Jährige mit langem, dunklem Haar, nimmt täglich einen weiten Weg auf sich, um die Julia-Kubitschek-Schule zu besuchen.
"Ich hatte gehört, dass diese Schule gut organisiert ist und dass kein Lehrermangel herrscht. Also habe ich mich eingeschrieben, obwohl ich weit weg wohne, in einem Vorort. Ich fahre mit dem Bus oder Zug und gehe morgens um halb fünf aus dem Haus. Aber es lohnt sich. Früher war ich auf einer miserablen Schule. Die Schüler bekamen keine Orientierung, die Lehrer waren unmotiviert und glaubten nicht an ihre Schüler. Hier dagegen ermutigen uns Schulleitung und Lehrer, an uns und unsere Fähigkeiten zu glauben."
Lohane de Castros Schultag ist lang: er beginnt um 7 Uhr morgens und endet um 18 Uhr. Eigentlich bereitet die Schule auf ein Lehramts-Studium vor – doch rund die Hälfte der Schüler ergreift später einen anderen Beruf. Sie besuchen die Einrichtung nur wegen ihrer guten Unterrichtsqualität.
Die Schülerin Lohane de Castro sitzt in ihrem Klassenraum. Gerade hat sie eine anstrengende Prüfung hinter sich gebracht. Gutes Schulmanagement hin oder her – sie meint, der brasilianische Staat müsse viel mehr Geld in die Bildung stecken.
"Wir haben tolle Lehrer, aber unser Schulgebäude hat doch einige Mängel. In einigen Klassenräumen wird es im Sommer unerträglich heiß. In anderen bröckelt die Decke herunter und fällt uns auf das Pult. In staatlichen Schulen ist oft das Essen knapp. Wir haben den ganzen Tag Unterricht, und manchmal reicht das Mittagessen nicht für alle. Daran ist nicht unsere Schulleitung schuld, sie tut ihr Bestes, um die Normalität aufrechtzuerhalten. Es fehlt an Investitionen. Und ein Schüler, der hungrig ist, kann nicht gut lernen."
Ein schlicht möbliertes Büro in der Elf-Millionen-Metropole Sao Paulo. Hier sitzt die Nationale Kampagne für ein Recht auf Bildung ein Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Studentengruppen. Im Vorraum zum Arbeitszimmer von Daniel Cara, dem Koordinator der Kampagne, hängt eine aus roter Pappe ausgeschnittene Zehn an der Wand. Zehn Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts soll nach dem Willen des Bündnisses in Bildung fließen – zur Zeit sind es gut fünf Prozent. Der neue Nationale Bildungsplan, den Brasiliens Kongress diskutiert, wird diese Forderung aller Voraussicht nach berücksichtigen. Daniel Cara freut sich auch noch über einen anderen Erfolg.
Die Proteste haben etwas bewirkt
"Die sozialen Proteste im vergangenen Juni, an denen wir beteiligt waren, haben bewirkt, dass ein Gesetzentwurf für die Bildungsfinanzierung durch Öl-Einnahmen geändert wurde. Es gibt in Brasilien einen Sozialfonds, in den Geld aus der Ölförderung vor unserer Küste fließen wird. Präsidentin Dilma Rousseff wollte nur ein paar Millionen pro Jahr für die Bildung abzweigen. Aber durch die Demonstrationen haben wir erreicht, dass die Hälfte des Sozialfonds in die Verbesserung des Bildungssystems investiert wird. Das heißt, etwa zehn Milliarden Euro jährlich - ab 2020, wenn die Förderung des Offshore-Öls beginnen soll."
Nach den Massenprotesten des vergangenen Sommers sah sich Brasiliens Regierung gezwungen, der Bildung höhere Priorität einzuräumen. Dennoch habe Bildung bis heute keinen großen Stellenwert in Brasilien, meint Daniel Cara.
"Da ein großer Teil der Brasilianer selbst keinen Zugang zu guten Schulen hatte, spielt Bildung in der Gesellschaft keine wichtige Rolle. Zwar wird die Verbesserung des Bildungssystems langsam zur politischen Priorität, aber es fehlt noch viel. Und vielen Familien gelingt es nicht, ihren Kindern zu vermitteln, dass Lernen und zur Schule gehen wichtig sind."
In der Privatschule Escola Parque in Rio de Janeiro spielen ein paar Jugendliche Basketball. An Holztischen auf einem überdachten Platz essen Schüler zu Mittag. Dort sitzt auch Direktorin Patricia Konder. Sie teilt die Ansicht, dass Bildung in Brasiliens Gesellschaft kein hoher Wert ist. Dabei sei Bildung entscheidend, um etwa die verbreitete Gewalt und Kriminalität zu verringern – Gewalt, die sich zum Teil auch in den staatlichen Schulen entlädt, vor allem in Problembezirken der Großstädte.
"Nicht mit höheren Gefängnisstrafen oder einem Herabsetzen der Strafmündigkeit bekommt man die Gewalt in den Griff. Nein, mit besseren Schulen! Ein großer Teil der jungen Brasilianer wird nicht vernünftig ausgebildet. Sie werden erwachsen und fallen aus dem System. Wie kann es also sein, dass die Gesellschaft nicht ihre ganze Energie in eine große Anstrengung für bessere Bildung steckt?"
Anders als staatliche Schulen haben staatliche Universitäten in Brasilien keinen schlechten Ruf – sie genießen mehr Ansehen als Privat-Unis. Aber wer an einer staatlichen Hochschule studieren will, muss bei der Zulassungsprüfung gut abschneiden. Privatschüler sind besser auf solche Anforderungen vorbereitet als diejenigen, die aus dem öffentlichen Schulsystem kommen.
Viel Fleiß und Einsatz gefordert
Selbst Lohane, die exzellente Schülerin der gut geführten staatlichen Julia Kubitschek-Schule, fühlt sich benachteiligt gegenüber ihren Altersgenossen, die auf Privatschulen gehen.
"Sie bekommen all das Unterrichtsmaterial, das sie brauchen, sie müssen es sich nicht im Internet zusammensuchen. Im Chemie-Unterricht können sie problemlos Versuche durchführen – ihre Labors sind bestens ausgestattet. Das ist in öffentlichen Schulen nicht so. Wie soll also ein ärmerer Schüler genauso gute akademische Leistungen erbringen wie ein Schüler aus reicher Familie?"
Um ihre Chancen bei der Eingangsprüfung zur Uni zu verbessern, nimmt Lohane samstags an einem ganztägigen Vorbereitungskurs teil. Da auch der Unterricht an ihrer Schule ganztägig ist, hat sie nur sonntags frei – was allerdings nicht bedeutet, dass Lohane dann Freizeit hat.
"Das ist der einzige Tag, an dem ich Zeit für Hausaufgaben habe. Da meine Schule nicht gezielt auf die Zulassungsprüfung vorbereitet, hab ich keine andere Wahl, als samstags den Zusatzkurs zu machen. An privaten Schulen ist der Lehrplan darauf zugeschnitten, die Schüler optimal auf die Zulassung zur Hochschule vorzubereiten. Ich muss mich viel mehr anstrengen, um es zu schaffen – ohne die Gewissheit zu haben, dass ich Erfolg haben werde."
Immerhin die Hälfte der Absolventen der Julia-Kubitschek-Schule schafft es mit viel Fleiß und Einsatz auf eine staatliche Universität - eine Ausnahme. Viele Absolventen staatlicher Schulen trauen sich die Zulassungsprüfung entweder nicht zu oder bestehen sie nicht. An den öffentlichen Hochschulen kommen nahezu drei Viertel der Studenten von Privatschulen. Eine Ungerechtigkeit, die die brasilianische Regierung nun mit Quoten für die Abgänger staatlicher Schulen nach und nach beheben will.
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