Brasilien

Kicker als Pastoren

Ein brasilianischer Nationalspieler betet vor dem Spiel
Die brasilianischen Spieler setzen auf Gottes Hilfe. © picture alliance / dpa
Von Simon Kremer |
Vor allem in Lateinamerika bekreuzigen sich viele Spieler vorm Anpfiff und zeigen nach einem erzielten Tor zum Himmel. Die evangelikalen Kirchen Brasiliens gewinnen einige der Kicker nach Karriereende als Prediger für sich.
Wenn Fußball eine Religion in Brasilien ist, dann steht ihr Tempel am nördlichen Rand des Stadtzentrums. Eine lange, gewundene Betonbrücke verbindet das Maracana mit dem Rest der Stadt. Auf der anderen Seite der Bahngleise zieht sich eine Favela den Berg hinauf. Im Stadion stand Pastor Gilmar dos Santos das erste Mal vor einer jubelnden Menschenmenge.
"Bei meinem ersten Spiel hier waren es 120.000 Fans. Als die angefangen haben, auf den Boden zu stampfen, da hat es sich angefühlt, als würde das ganze Spielfeld zittern."
Pastor Gilmar dos Santos wird heute immer noch gefeiert, als hätte er seinen Verein, Flamengo Rio de Janeiro, gerade wieder zur Meisterschaft geschossen. Dabei steht er ganz ruhig vorne beim Altar am Rednerpult und spricht über seine Knieverletzung und wie er erkannte, dass er einen anderen Weg einschlagen musste. Das Hemd ordentlich gebügelt, die schwarzen Locken gegelt. Nicht mehr Gilmar, der Abwehr-Hüne, wollte er nach seiner Verletzung sein, sondern Gilmar dos Santos, der Pastor.
"Fußball fasziniert die Menschen. Wenn Du denen sagst, dass du Fußballer bist, dann rennst du sofort offene Türen ein."
Katholische Kirche hat viele der Gläubigen verloren
Die katholische Kirche hat in Brasilien ihr Monopol längst verloren. Zwar heißt es aus dem Vatikan, dass das Land mit mehr als 120 Millionen Gläubigen immer noch weltweit das Land mit den meisten Katholiken sei, in Wahrheit aber hat der Abstieg schon längst begonnen und die Kirche ruht sich auf ihren früheren Erfolgen aus. Die kleineren, wendigeren Pfingstkirchen stoßen seit den 80er-Jahren in die Räume vor, die von der katholischen Kirche vernachlässigt wurden: Vor allem die Randgebiete der Großstädte und die Favelas. Mittlerweile ist jeder fünfte Brasilianer Mitglied einer Pfingstgemeinde. Und prominente Prediger wie Ex-Fußballer Gilmar helfen, neue Gläubige zu gewinnen, weil sie vormachen, wie schnell man vom Rand der Gesellschaft Teil der Mittelschicht werden kann. Ohne abzustürzen.
"Als Sportler musst du auf dem Spielfeld dein Bestes geben. Gott wird nur den belohnen, der sich auch anstrengt. Gott tritt nicht für dich gegen den Ball. Ich habe das ziemlich früh in meinem Leben gelernt und mir ist klargeworden, dass ich Gott dadurch loben kann, dass ich das nutze, was er mir gegeben hat: mein Talent."
Und das entwickelte Gilmar in einem Armenviertel von Sao Paolo. Es ist die klassische Geschichte vom kickenden Straßenjungen mit den schnellen Beinen und dem harten Schuss, der später zwei Mal hintereinander mit seinem Club den Weltpokal gewinnt. 21 Jahre ist er da alt. Ein Junge noch, der plötzlich in die erste spanische Liga verkauft wird.
"Ich war auf einmal von meinen Freunden und meiner Familie getrennt und habe auch meine Verlobte damals zurückgelassen. Ich musste mich entscheiden: Hoffst du darauf, dass es in Brasilien vielleicht irgendwann besser wird und du vielleicht Karriere machst oder legst Du jetzt in Europa den Grundstock dafür, später ein finanzielles Polster mit dem entsprechenden Komfort zu haben?"
Bibelkreise helfen bei Kontaktsuche im Ausland
Eine Frage, vor der zahlreiche junge, lateinamerikanische Fußballer stehen, wenn sie nach Europa gehen. Die Ethnologin Carmen Rial von der staatlichen Universität des brasilianischen Bundesstaates Santa Catarina hat die Lebensläufe zahlreicher Fußballer analysiert und die Spieler interviewt.
"Diese Spieler kommen in der Regel alle aus der Unterschicht und aus armen Verhältnissen. (...) Für die meisten Spieler ist das ein Opfer, das sie für ihr späteres Leben und ihre Familien bringen. Sie opfern sich selbst. Eigentlich würden sie gerne lieber in Brasilien bleiben."
In ihrer Studie stellt Carmen Rial fest, dass die meisten Spieler im Ausland Kontakt zu Landsleuten suchen. Und, dass sie diesen nicht selten in evangelikalen Bibelkreisen finden.
"Die Pfingstkirchen bieten eine neue Sicht auf die Dinge. Sie geben den Spielern eine Erklärung für ihren plötzlichen Erfolg und die Millionen. Sie sagen: Das ist Gottes Plan für dich. Folge dem Weg, genieße deinen Reichtum, aber stell Dein Leben in den Dienst Gottes und verbreite das Wort Gottes weiter. Der Katholizismus dagegen predigt immer noch eine sehr konservative Sichtweise auf die Welt. Statt auf das Leben im Hier und Jetzt ist es auf ein Leben nach dem Tod gerichtet."
Als Gilmar nach Spanien wechselt trifft er in der Primera Division, der höchsten spanischen Spielklasse, Gleichgesinnte.
"Das waren Leute, die mich sofort aufgenommen haben. Nicht als Gilmar, den Fußballer, sondern als Gilmar, den Bruder. Wir haben zusammen die Bibel studiert, gemeinsam gebetet, sind zusammen in die Kirche gegangen."
Gilmar wird Teil der "Atletas de Cristo", der Athleten Christi, einer Gruppe evangelikaler Sportler, die Mitte der 80er-Jahre in Brasilien entstand. Nach eigenen Angaben bekennen sich heute mehr als 5000 Sportler – überwiegend Fußballer – zu der Gruppe. Darunter zahlreiche brasilianische Weltmeister, wie Kaka, Ze Roberto oder Rivaldo. In diesem Jahr wollen sie bei der WM im eigenen Land vor den Stadien stehen, Bibellesungen machen, Gebetskreise und Gottesdienste anbieten.
Bei der WM 1994 beteten die Nationalspieler erstmals zusammen
Gilmar dos Santos klappt sein Laptop auf, der neben einer Bibel mit rotem Ledereinband steht. Er zeigt ein Video von der WM 1994 in den USA. Damals, so erzählt es Gilmar, hätte der Wandel angefangen, die Spieler der Selecao – der brasilianischen Nationalmannschaft – hätten das erste Mal zusammen gebetet.
Statt Partys gab es gemeinsame Bibelkreise. Eine Entwicklung, von der auch die Vereine profitieren, sagt Ethnologin Rial.
"Beide stehen in enger Beziehung zueinander. Die Religion, besonders die Pfingstkirchen, bekommen viel Geld durch den Profisport. Durch Funktionäre oder Profi-Fußballer, die sich in den Gemeinden engagieren. Die Vereine bekommen im Gegenzug Spieler, die sich ganz auf ihren Sport konzentrieren und die ihren Körper als Geschenk Gottes ansehen, den sie nicht mit Partys, Alkohol oder Drogen zerstören. Sie achten auf ihren Körper. Das ist der Traum eines jeden Trainers."
Steuer-, Finanz- und Drogenskandale in den Freikirchen werden dabei gerne von den Vereinen übersehen. Die gläubigen Spieler sind einfach dankbar für den Halt, den sie bekommen. Und deswegen werden auch bei dieser Weltmeisterschaft die „Atletas de Cristo" wieder gemeinsam beten. Zwei Tage vor jedem Spiel. Schließlich, so schrieb es der brasilianische Seelsorger der Mannschaft, hat Gott die WM schon mal nach Brasilien geholt.
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