Brasilien und Corona

Atemnot am Amazonas

20:44 Minuten
Zwei Mitarbeiter eines öffentlichen Bestattungsunternehmens tagen, mit weissen Schutzanzügen bekleidet, einen Sarg aus einem Haus heraus.
Die Anzahl der Menschen, die in der Millionenstadt Manaus in ihren Häusern sterben, wächst, aufgrund schlechter medizinischer Versorgung. © picture alliance / AP Photo / Edmar Barros
Von Ivo Maruszcyk |
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Covid-19 hat das Amazonas-Gebiet zum zweiten Mal mit voller Wucht getroffen. Im Januar erstickten dort Menschen aus Sauerstoffmangel. Die Krankenhäuser sind völlig überlastet. Präsident Bolsonaro erklärt sich für nicht zuständig.
"Sauerstoff, wir wollen Sauerstoff!" Wütende Angehörige von Corona-Patienten demonstrierten Mitte Januar vor dem größten Krankenhaus von Manaus. In der Metropole mitten im Amazonasgebiet war die Zahl schwer Kranker in kurzer Zeit regelrecht explodiert.

Es gibt im Krankenhaus keinen Sauerstoff mehr

In Manaus gab es nicht einmal mehr genügend Sauerstoff, um alle Patienten zu versorgen, viele erstickten.
"Meine Mutter ist wegen des Sauerstoffs gestorben. Man hat nichts aus dem Krankenhaus gehört und ich war hier draußen und konnte nichts tun. Und warum? Weil es im Krankenhaus keinen Sauerstoff mehr gibt."
"Ich bin seit 9.00 Uhr früh hier und habe gesehen, wie verzweifelt viele Leute hier sind. Ich auch, ich kann nicht einmal erklären was in diesem Land passiert, das ist unverzeihlich und nicht zu erklären, dass es keinen Sauerstoff mehr gibt."
Angehörige von Covid-19 Patienten stehen zusammen, neben grünen Sauerstoffflaschen und warten darauf, dass diese wieder aufgefüllt werden.
Angehörige von Patienten, die mit Covid-19 infiziert sind, müssen stundenlang auf die Versorgung mit Sauerstoff warten.© imago images / Agencia EFE / Raphael Alves
Und der Intensivmediziner Filipe Shimizu sagte dem Nachrichtensender GloboNews resignierend.
"Das ist keine zweite Welle, das ist ein Tsunami."
Damit war die Millionenstadt mitten im brasilianischen Amazonasgebiet zum zweiten Mal zum Corona-Hotspot geworden. Seit Wochen können Patienten nicht mehr angemessen versorgt werden, das Gesundheitssystem ist faktisch kollabiert.

Manaus als Corona-Hauptstadt der Welt

Der Epidemiologe Jessem Orellana vom angesehenen Forschungsinstitut Fiocruz war einer der Ersten, die vor der Situation warnten. Und jetzt vermutet er, dass Manaus eine Art Corona-Hauptstadt der Welt bleiben wird.
"Wenn es keine neuen Strategien gibt, um die Ansteckungen in der Stadt in den Griff zu bekommen, wenn wir keine Massenimpfungen durchführen und so wenigstens versuchen, Herdenimmunität zu erreichen, dann wird Manaus die weltweite Hauptstadt von Covid-19 bleiben. Diese Stadt wird zu einer Art Freiluftlabor."
Eine junge Frau, deren Vater mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hockt weinend vor dem Krankenhaus. Ein Mann mit Maske beugt sich zu ihr runter und berührt tröstend ihre Schulter.
In Manaus schwinden die Sauerstoffvorräte für die Behandlung der Covid-19 Patienten.© picture alliance / AP Photo / Edmar Barros
Schon im vergangenen April war die Lage in Manaus tragisch. Damals gingen Bilder von Massengräbern um die Welt. Im Januar, kurz nach dem Jahreswechsel, schoss die Zahl der Kranken aber plötzlich wieder in die Höhe. Und ausgerechnet der Sauerstoff fehlte zuerst.
"Dass eine so einfache Sache wie Sauerstoff zu Ende geht, da verliert man den Glauben."

Transport über eine Schlammpiste durch den Urwald

Auf allen Wegen werden seitdem Sauerstoffflaschen nach Manaus gekarrt. Aus dem Krisenstaat Venezuela - denn dorthin gibt es wenigstens eine Straßenverbindung. Mit Transportflugzeugen der brasilianischen Luftwaffe. Und mit halsbrecherischen Lastwagenkonvois über eine alte, eigentlich schon seit Jahren nicht mehr befahrbare Schlammpiste 800 Kilometer durch den Urwald.
Mit solchen Transporten hangelt man sich in Manaus von Tag zu Tag. Denn es gibt keine richtige Straße, die die Stadt mit dem Rest des Landes verbindet.

"Die Tragödie kann sich jederzeit wiederholen"

"Seitdem gab es keine Unterbrechung der Sauerstoffversorgung mehr. Aber die Situation ist kritisch, die Angehörigen müssen Sauerstoff für die Patienten besorgen, und die Krankenhäuser selbst suchen jeden Tag aufs Neue Sauerstoff. Das ist eine fragile Lage. Und wenn es eine neue Welle gibt, kann diese Tragödie sich jederzeit wiederholen", sagt Fabio Biolchini, der Nothilfekoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Manaus. Probleme gibt es jetzt an anderen Stellen.
"Es gibt viele Engpässe. Vor allem fehlen Krankenhausbetten - es gibt zu viele Patienten für zu wenige Betten. Dazu fehlt es an Ärzten, an Pflegepersonal, an Medikamenten - bei so vielen Patienten gehen die rasch zur Neige."
Familienmitglieder von Patienten, die mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, stehen neben ihren Sauerstoffflaschen in einer langen Schlange.
In der brasilianischen Stadt Manaus stehen Menschen Schlange, um für ihre kranken Angehörigen Sauerstoffflaschen nachfüllen zu lassen.© picture alliance / AP Photo / Edmar Barros
Es gibt Wartelisten. Das heißt, Patienten, die dringend intensivmedizinische Behandlung brauchen müssen zu Hause abwarten, bis ein Intensivbett frei wird. Und die Situation im Hinterland ist noch schlimmer.

Keine Chance auf Behandlung in Amazonasdörfern

Der Bundesstaat Amazonas ist viereinhalb Mal so groß wie Deutschland. Intensivstationen gibt es aber nur in der Hauptstadt Manaus. Wer in einer der kleineren Städte oder in den Dörfern des Amazonasgebiets erkrankt, hat keine Chance auf intensivmedizinische Behandlung.
Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen versuchen, die Gesundheitsstationen oder kleinere Landkrankenhäuser zu unterstützen. Die katholische Kirche schickt Lazarettschiffe in den Urwald.
"Wir haben zurzeit zwei Schiffe im Einsatz, das zweite Schiff 'Papst Johannes Paul II' wird langsam nach und nach umgebaut, ist aber schon im Einsatz, weil wir bei dem ersten Schiff einfach gemerkt haben, es fehlt an Platz, sowohl für Sprechzimmer als auch für Behandlungszimmer. Auch um dem Team, das dann auf dem Krankenhausschiff arbeitet, genügend Platz zu geben, also Schlafraum etc., was eben fehlte", sagt Johannes Bahlmann, der Bischof von Óbidos. Seine Diözese liegt flussabwärts von Manaus am Amazonas, im Nachbarstaat Pará. Bahlmann stammt aus Niedersachsen.
"Das dritte Krankenhausschiff ist für Manaus vorgesehen und es soll ab August dort eingesetzt werden."
Eine Pflegetechnikerin versorgt einen einheimischen, indigenen Mann mit Sauerstoff.
Indigene Völker errichten in Manaus ein Feldkrankenhaus für Patienten mit Covid-19-Krankheit.© imago images / Agencia EFE / Raphael Alves
Das Geld für die Schiffe bekommt die Kirche indirekt von der Justiz. Bußgelder von Prozessen vor den Arbeitsgerichten fließen an karitative Organisationen. Aber letztlich hat niemand einen Überblick, was in den entlegeneren Regionen des Amazonasgebiets passiert.
Was der Bischof immer wieder hört, ist aber bedrückend.
"Die Situation hier am unteren Amazonas ist sehr kritisch. Wir sind in einer ähnlichen Situation und ähnlich betroffen wie Manaus. Vor allem direkt an der Grenze zum Bundesstaat Amazonas, in Juruti und Faro.
Am Wochenende konnten in Faro viele Patienten nicht behandelt werden, weil es an Ärzten fehlte, an Pflegern und an Sauerstoff. Eine ganze Familie mit sieben Personen ist an Sauerstoffmangel verstorben. In Juruti ist die Situation ähnlich, Gott sei Dank haben wir dort ein Hospital und versuchen, die Patienten so zu behandeln und zu betreuen, damit sie überleben können."

Breitet sich die "brasilianische Mutation" im Amazonas aus?

Dabei waren die Ärzte eigentlich davon ausgegangen, dass in Manaus teilweise schon Herdenimmunität herrscht. Bei der ersten Welle im April hatten sich sehr viele Menschen angesteckt. In einigen Stadtteilen hatten 60 Prozent der Menschen Antikörper gegen das Virus im Blut, hatten also eine Infektion durchgemacht. Doch entweder waren die Untersuchungen damals nicht genau. Oder eine neue Virusvariante kann auch Menschen anstecken, die die Infektion schon durchgemacht haben. Dieser Verdacht liegt nahe.


Die P1-Linie, die sogenannte "brasilianische Mutation", also eine der gefürchteten neuen Corona-Varianten, könnte für diese zweite Welle im Amazonasgebiet verantwortlich sein. Aber nicht einmal das steht gesichert fest.
"Schon vor der Pandemie war das Gesundheitssystem hier labil. Und jetzt ist es total überlastet. Alle versuchen, die aktuellen Fälle zu behandeln. Es gibt derzeit keine Untersuchung dazu, ob die Kraft der zweiten Welle durch die Mutation bedingt ist. Dazu gibt es keine Studien. Aber es ist klar, dass diese zweite Welle mehr Wucht hat, als die erste", sagt Fabio Biolchini.

Homeoffice ist den Armenvierteln Südamerikas keine Option

Relativ einfach ist die Frage zu beantworten, warum das Virus gerade in den Armenvierteln von Südamerikas Metropolen so ungebremst grassiert. Wie überall auf dem Kontinent können Abstandsregeln und Ausgangssperren in Manaus nur zum Teil eingehalten werden. Die Menschen haben keine Reserven, müssen nach draußen, um mit Gelegenheitsjobs etwas Geld zu verdienen und Essen zu kaufen.
"Die Mehrheit der Leute trägt jetzt auf der Straße eine Maske. Die Stadt ist seit Anfang Januar im Lockdown. Aber die Leute müssen trotzdem arbeiten. Sie bekommen sonst keine Unterstützung, um zu überleben. Besonders in den armen Stadtteilen sind die Menschen gezwungen, zu arbeiten, um zu überleben."
Angehörige von Patienten, die mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, bilden eine Menschenkette auf der Straße vor einem Krankenhaus. 
Menschenkette in Manaus: Zusammenhalten in einer hilflosen Situation ohne Sauerstoff für die Kranken.© picture alliance / AP Photo / Edmar Barros
Es gab zwar Nothilfen. Die laufen jetzt aber aus. Außerdem sind viele Menschen durchs Raster gefallen. Und die politischen Führer, allen voran Präsident Bolsonaro, leben Sorglosigkeit im Umgang mit dem Virus vor.
"Man kann sagen, dass der größte Teil der Bevölkerung sich an die Beschränkungen und auch an die Corona-Regeln hält. Aber wir haben auch einen guten Teil der Bevölkerung, die sich einfach nicht daran halten, weil man einfach das Virus unterschätzt. Man sieht es nicht und hat deswegen den Eindruck, das ist schon alles okay, mir passiert schon nichts. Dann schützt man sich nicht und passt nicht auf", sagt Johannes Bahlmann.

Ein strenger Lockdown ist in Brasilien nicht vorstellbar

Ein strenger Lockdown wäre derzeit in Brasilien also gar nicht vorstellbar. Und politisch ist er auch nicht erwünscht. Epidemiologen wie Jessem Orellana üben harte Kritik an der Politik. Die habe in Brasilien auf allen Ebenen versagt. Aus seiner Sicht ist es auch kein Zufall, sondern Folge von Fehlentscheidungen, wenn Brasilien bei der Zahl der Corona-Toten weltweit nach den USA auf Platz zwei liegt.
"Manaus hat es leider verschludert, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Es ist kein Zufall, dass man die Stadt jetzt Covid-Hauptstadt der Welt nennt. Der neue Bürgermeister ist erst seit Januar im Amt, aber er hat vorher fast auf dem Höhepunkt der zweiten Pandemie-Welle versprochen, dass er Vitamine und das Parasiten-Mittel Ivermectin verteilt."
Der Gouverneur ist immer noch derselbe unverantwortliche und pflichtvergessene Typ, der für die furchtbaren Bilder der ersten Welle und jetzt eben der zweiten Welle verantwortlich ist. In Manaus wie im Hinterland des Bundesstaats.
Und der Schlimmste von allen ist leider der Präsident, der von Anfang an unwirksame Medikamente angepriesen hat, der Ansammlungen von Leuten fördert und ihnen sagt, dass sie keine Maske tragen müssen. Und dazu kommt dann noch ein Gesundheitsminister, dem jede Befähigung für dieses Amt fehlt."
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