Brauchen wir das Schloss?

Von Michael Stürmer · 06.01.2006
Man stelle sich Paris vor ohne den Louvre der Könige, der Hofhandwerker und der Kunstschätze, zuletzt die Glas-Pyramide, die der chinesisch-amerikanische Meisterarchitekt Pei für Präsident Mitterand baute.
Rom ohne Michelangelos St. Peter, die Päpste und den Vatikan. London ohne Christopher Wrens St. Paul’s Cathedral, ohne Westminster und die Houses of Parliament, Washington ohne die Mall, Capitol und Weißes Haus – oder auch Moskau ohne den Kreml, Warschau ohne das von der SS zerstörte und von den Polen trotz aller Not und Knappheit sofort nach dem Krieg ohne Säumen wieder aufgebaute Schloss.
Dann denkt man an Berlin, Deutschlands tragische Immobilie, und weiß sogleich, dass dort ein Unglück geschehen ist, Auslöschung der Erinnerung, Hinrichtung der Geschichte. Das wirkt bis heute nach in der Stadtarchitektur wie in den Köpfen. Ein riesiger leerer Platz entstand ohne Maß und Mitte. Dahinter erhebt sich, Gehäuse für Gespenster, eine asbestverseuchte braune Ruine, früher einmal Aufmarschgelände für sozialistische Untertanen, um ihren Götzen zu huldigen, Frohsinn und Fortschritt zu beschwören und allen Feinden Tod und Untergang zu verheißen. "Erichs Lampenladen", hielten die Berliner ironischen Abstand, oder auch "Palazzo Prozzi". Es waren die deutschen Kommunisten, die 1952 das zu vier Fünfteln erhaltene Schloss sprengen und abreißen ließen, um Platz zu schaffen für Szenen, wie sie sich George Orwell in seinem Buch "Neunzehnhundertvierundachtzig" schaudernd ausgedacht hatte. Als Chrushtshow, der Sowjetchef, einmal aus Moskau kam, seinen Satrapen Ulbricht zu besuchen, ärgerte er den Spitzbart und fragte nach dem Verbleib des ehrwürdigen Schlosses. Deutsche Gründlichkeit hatte es längst abgeräumt.
Das Schloss, es war einmal die Mitte der Stadt, die Mitte des Landes. Das Zeughaus Unter den Linden hat Krieg und Kommunisten überstanden, und der Schlüterbau in strengem norddeutschen Barock gibt noch einen Begriff von Proportion und Gleichgewicht, wie beides dem gleichzeitig um das Jahr 1700 entstandenen Berliner Stadtschloss zu eigen gewesen war. Dieses Stadtschloss gehörte in die große europäische Kunst- und Architekturgeographie zwischen dem königlichen Schloss in Stockholm und den Kirchen Roms, zwischen dem Winterpalais in St. Petersburg und dem Versailles des Sonnenkönigs, alles ungefähr um dieselbe Zeit in einem Wettstreit der Architekten und der frühmodernen Staaten entstanden, ein europäischer Grundakkord.

Georg Friedrich Händels Musik ist so wenig denkbar wie die großen Ouvertüren des Johann Sebastian Bach ohne die gleichzeitig entstehende Architektur. Musik und Baukunst gingen auf mehr als ein Jahrhundert eine fruchtbare Ehe ein. Und weil Bachs Trompetenkonzerte mit Orgel in der Zeit der kommunistischen Diktatur ein Seelentrost waren, musste die aus dem gleichen Geist gebaute Architektur dafür büßen, in Berlin, in Potsdam und an hunderten anderen Orte. Spät, viel zu spät hat dann auch die DDR-Führung begriffen, was Potsdam, Weimar, Wörlitz und Dresden einmal bedeuteten und, denkt man an die über Schutt und Trümmer gebaute Frauenkirche, heute wieder bedeuten. Die gemordete Stadt, hat Wolf Jobst Siedler sein berühmtestes Buch überschrieben und darin angeklagt, was an städtebaulicher Barbarei in Ost und West nach 1945 geschah, das ist eine lange deletio memoriae, Zerstörung der Erinnerung. Das Allied Bomber Command hatte, unabsichtlich zwar, das Stadtschloss noch verschont. Die deutschen Kommunisten haben es ermordet.
Briten, Polen, Franzosen, Amerikaner, Russen – sie alle würden keinen Moment zögern, einen Bau wiederherzustellen, der Inbegriff langer Jahrhunderte ihrer Geschichte war, in allen ihren Widersprüchen. Der Bundestag hat den richtigen Beschluss gefasst für Wiederaufbau, und nun m u s s er ausgeführt werden. Berlin ist nicht nur eine Sammlung von 23 Kiezen, subventionsbedürftig und in keinem guten Zustand. Es ist, man darf daran erinnern, die Hauptstadt eines Kulturstaats, Deutschland. Nur wenn Berlin wieder eine Mitte hat, die diesen Namen verdient, dann hat die Stadt auch eine Chance, ihr Malaise zu überwinden.


Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".