„Aus der islamischen Tradition wissen wir, dass Gott ambigue erfahren wird. Er ist, wenn wir uns die 99 Namen Gottes angucken, der Erste und der Letzte, der Sichtbare und der Verborgene. Gott ist da in den Gegensätzen, und wenn man sich religiös darauf einlässt, mit dieser Ambiguität umgehen zu können, dann haben Religionen ein ganz großes Reservoir, was wir heute ganz dringend brauchen - die Welt eben nicht in Schwarz und Weiß einzuteilen, sondern zu gucken: Wo sind die Grautöne?“
Glaube und Orientierung
Ist alles, woran wir glauben, Religion? Eine islamische Theologin und ihr katholischer Kollege diskutieren, welche Rolle Religionen in modernen Gesellschaften noch spielen. © imago / Ikon Images / Simon Ducroquet
Braucht der Mensch Religion?
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Religionen haben einen schlechten Ruf. Denn ihre Vertreter bringen bis heute viel Leid über Menschen. Andererseits ist das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung und Zugehörigkeit ungebrochen. Was ist Religion, und warum halten Menschen daran fest?
Es ist ganz offensichtlich: Viele Menschen auf der Welt führen ein glückliches und erfülltes Leben – ganz ohne Religion. Andererseits: An die viel diskutierte These, dass Religionen in der modernen Gesellschaft irgendwann ganz verschwinden, glaubt mittlerweile niemand mehr. Es gibt nach wie vor ein Bedürfnis nach religiöser Bindung und spiritueller Heimat.
„Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, hat Martin Luther einmal gesagt. So gesehen hat ohnehin jeder und jede von uns eine Art Religion.
Glaube kann helfen, mit Gegensätzen umzugehen
Es klingt auf den ersten Blick paradox: Aber gerade in unserer immer komplexer werdenden Welt, in der Populisten mit holzschnittartigen Antworten viel Zulauf erhalten, können Religionen ein wichtiges Korrektiv sein, findet die islamische Theologin Muna Tatari. Im Islam beispielsweise sei Gott nicht eindeutig bestimmbar.
Ist auch Fußball eine Religion?
Religionen bringen viel Gutes in die Welt - für einzelne Menschen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der Religionssoziologe Émile Durkheim ging sogar so weit zu sagen, Gesellschaften brauchen Religion, sonst funktionieren sie nicht.
Religionen erschaffen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, sichern die Moral und geben Sinn, so Durkheim. Alles, was diese Funktionen erfüllt, war für ihn Religion.
Für religiöse Menschen mag das befremdlich klingen, denn nach dieser Definition wäre auch der Fußball in Deutschland eine Religion. Trotzdem sei an dem, was Durkheim sagt, etwas dran, meint der Theologe und Philosoph Michael Bongardt. Denn religiöse Gemeinschaften erfüllten nunmal die genannten Kriterien – und wenn diese in einer Gesellschaft völlig fehlten, dann stehe „vor allem das Zusammenleben gefährlich auf der Kippe, weil der Zusammenhalt nicht mehr erlebt wird“.
Religion nach Auschwitz
Religionen geben nicht nur Antworten auf Sinnfragen, sondern auch Hilfe, mit all dem umgehen zu können, was einem im Leben sinnlos erscheint, ergänzt Tatari. Das dürfe man aber nicht so verstehen, dass aus religiöser Perspektive alles im Leben irgendeinen Sinn haben müsse, entgegnet Bongardt. In der Theologie nach Auschwitz sei das stark diskutiert worden.
„Wir dürfen Auschwitz in keiner Weise einen Sinn geben, aber wir müssen Menschen, die diese Sinnlosigkeit besonders schmerzhaft erfahren haben, einen Raum geben, in dem sie mit dieser Sinnlosigkeit leben können.“
Man kommt dem Phänomen Religion aber nicht näher, indem man nach ihren positiven Funktionen fragt, meint Bongardt.
„Religion definiert sich nicht dadurch, dass sie brauchbar ist. Religion ist eine mögliche Lebenshaltung, die sehr stark ins Offene, ins Ungreifbare hinausgeht. Und Religion ist nicht da, weil sie einen Zweck hat, sondern weil Menschen diese Hinordnung auf bestimmte Bilder von Transzendenz und auf Transzendenz leben.“
Konnte Gott in Auschwitz gar nicht eingreifen?
Doch welche Antworten geben Religionen auf die drängenden Fragen des Lebens? Was sagen beispielsweise Islam und Christentum auf die Frage, warum Gott all das Leid in der Welt zulässt?
Ein zentraler Gedanke in islamischer und christlicher Tradition besagt, dass Gott den Menschen die Freiheit gegeben hat, und damit auch die Freiheit, sich gegen ihn zu entscheiden und einander Leid zuzufügen.
Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat eine noch radikalere Antwort: In seiner Rede "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" stellte er die These auf, dass Gott gar nicht mehr eingreifen konnte. Indem er die Welt und die Menschen erschaffen hat mit all den Möglichkeiten, Gutes und Böses zu tun, hat er ihre Freiheit anerkannt und sich damit zurückgezogen. Ein Gedanke, der das Eingreifen Gottes ins Weltgeschehen vollkommen ausschließe, sagt Bongardt.
Wie weit reicht die Macht des "Allmächtigen"?
Daraus folgt aber in letzter Konsequenz, dass Gott nicht allmächtig sein kann. Ein Attribut, das ihm die drei abrahamitischen Religionen seit Jahrhunderten zuschreiben. Für Michael Bongardt ist es anders jedenfalls nicht denkbar:
„Wenn ich mir vorstelle, ich wäre schwer erkrankt und werde auf nicht erklärliche Weise gesund – dafür Gott zu danken, fände ich extrem schwierig. Denn was ist mit all denen, die nicht gesund geworden sind?“
In der islamischen Tradition gibt es zudem das Motiv der Klage vor Gott, erklärt Muna Tatari: „Gott, wenn du doch gerecht und barmherzig und allmächtig bist, warum lässt du all das zu?“ Man wende sich mit dieser Klage und Frage an Gott, und obwohl die Antwort offen bleibe, handle man solidarisch an der Seite derer, die Leid erfahren.
„Man versucht mit dem eigenen Handeln Zeugnis abzulegen von einem Gott, der gerecht und barmherzig ist, ohne dabei Gottes Sinn vollkommen erschlossen zu haben.“
Auch wer an einen Gott oder ein höheres Wesen glaubt, wird sich mit dem Ungreifbaren und mit Widersprüchen abfinden müssen. Letztgültige Antworten geben auch die Religionen nicht.
Nicht Religionen abschaffen, sondern Ideologien
Aber was ist mit all dem Leid, das auch und gerade von Religionsvertretern über die Menschen gebracht wurde? Für manche Menschen Grund genug, sich von Religionen abzuwenden.
„Die großen Weltreligionen sind allesamt hierarchisch und patriachalisch organisierte Gruppierungen, aus deren Mitte über Jahrhunderte schwerste Straftaten verübt wurden und werden, Genozid und Kindesmissbrauch, Misshandlung Abhängiger, Folter und Mord Andersdenkender und vieles mehr", schrieb ein Follower im Vorfeld der Sendung unter unserem Facebookposting zu dieser Sendung und fügte hinzu: "Lieber Gott, erlöse uns von der Religion."
Man müsse die schlechten Erfahrungen, die Menschen mit Religionen machen, in Respekt und Mitgefühl anerkennen, sagt Muna Tatari. Es sei ein Alarmzeichen und verpflichte religiöse Institutionen, sich zu überprüfen. „Die Liebe zu meiner Tradition zeigt sich in der schonungslosen Kritik an ihr.“
Was wäre denn, wenn es Religionen nicht mehr gäbe? Wäre die Welt dann besser und friedlicher? Michael Bongardt geht davon aus, dass dann andere Ideologien entstehen würden, die genau das hervorbringen würden, was auch an religiösen Institutionen kritisiert wird.
Er plädiert deshalb dafür, nicht die Religionen abzuschaffen, sondern die Ideologie – innerhalb von Religionen und jenseits davon.