Brautraub in Kirgistan
Ein Mädchen wird aus seiner Familie heraus entführt und noch am selben Tag geheiratet - vielen kirgisischen Männern gilt das als urkirgisischer Brauch. Fast jeder Kirgise kann über einen Brautraub in der Familie oder bei Freunden berichten.
Ein gewisser Stolz klingt dann bei den Männern mit, auch bei älteren Frauen, die entführt wurden und mit dem Mann Jahrzehnte lang verheiratet sind. Junge Mädchen mögen sich nicht vorstellen, dass es ihnen selbst passieren könnte.
Auch die 20jährige Assiljah – schlank, mit langen dunklen Haaren und braunen mandelförmigen Augen – dachte bisher, dass immer nur die anderen davon erzählen. Noch vorgestern lebte sie mit den Eltern und drei Geschwistern in Karakol, am östlichen Ende des Issyk-Kul, einem Hochgebirgssee in Kirgistan, sieben Autostunden von der Hauptstadt Bischkek entfernt. Sie studierte, wollte Musiklehrerin werden. Jetzt, zwei Tage später, sitzt sie auf der anderen Seite des Issyk-Kul, den See und 200 Kilometer zwischen sich und ihrer Familie, in einem Haus, dass sie nie zuvor betreten hat, bei einer ihr völlig fremden Familie. Hier soll sie von nun an leben:
"Ich war zu Hause bei meinen Eltern, dann hat er mich herausgerufen, ich bin raus, dachte, sie wollten einfach mit mir reden, er war nicht allein, hatte vier Freunde dabei. Wir sind zusammen in ein Cafe, haben geredet. Dann haben sie mich entführt und mit dem Auto hierher gebracht."
Assiljah wurde vor zwei Tagen von Bachyt, einem Studienkollegen, verschleppt. Ziel der Entführung: Cholpon-Ata, Bachyts Heimatort, weit weg von Assiljahs Elternhaus. Als sie bei ihm zuhause ankamen, banden seine Großmutter und die Schwester Assiljah ein Tuch um – als Zeichen ihrer neuen Rolle als Ehefrau. Noch am Tag der Entführung heiratete Bachyt Assiljah. Der Mulloh, ein islamischer Geistlicher, kam zu ihnen ins Haus, um das Nikè zu sprechen, die Trauung nach islamischem Recht, bei der sich jeder der beiden Partner zum anderen bekennt. Die standesamtliche Trauung wird erst in ein paar Wochen folgen. Doch die Familie betrachtet Assiljah und Bachyt bereits jetzt als Ehepaar.
An den Tag ihrer Entführung - und ihrer Hochzeit - erinnert Assiljah sich nur ungern, sie erzählt stockend, mit leiser Stimme. In sich gekehrt sitzt sie auf dem Sofa im umfunktionierten Arbeitszimmer ihres frisch gebackenen Ehemanns. Auf dem Teppich zu ihren Füßen brummt ein grünstichiger Computer-Bildschirm, in der Schrankwand liegen Erinnerungsstücke der fremden Familie. Das Zimmer ist mit einem hellblauen Tuch verhängt. Jeder, der das Haus betritt, versteht sofort hier sitzt eine frisch vermählte Ehefrau.
Auf dem Flur laufen hektisch die Frauen des Hauses herum, stecken immer mal wieder den Kopf zu Assiljah herein. Als der Ehemann kurz ins Zimmer kommt, wirft er ihr mit zusammengekniffenem Mund einen warnenden Blick zu, sie verstummt sofort, senkt die Augen.
Drei Tage lang muss die junge Frau hier sitzen, damit Nachbarn und Freunde sie in Augenschein nehmen können. Über den ganzen Tag verteilt kommen Gäste. Nur die Frauen dürfen in dieses Zimmer, binden Assiljah ebenfalls Tücher um den Kopf, verstreuen Bonbons oder Blumen, wünschen ihr viel Glück.
Mit Bachyt, ihrem Ehemann, hat Assiljah bisher kaum gesprochen. Tagsüber sehen sich die beiden selten, Assiljah verlässt das Zimmer nur, wenn sie zur Toilette quer über den Hof will, oder wenn Gäste an der stets voll gedeckten Tafel bedient werden müssen. Nachts allerdings kommt Bachyt zur ihr ins Hochzeitszimmer, um mit ihr zu schlafen - ein fremder Mensch, der vorher nicht einmal zu ihren engsten Freunden zählte. Wie bei vielen kirgisischen Mädchen ist ihr Mann ihr erster Sexualpartner. Assiljah verhütet nicht, Kinder sind jetzt ausdrücklich erwünscht. Ob sie weiterstudieren kann, wenn sie erst einmal schwanger ist? Die Frage verdrängt Assiljah vorerst.
Während die junge Frau sich mit jeder Minute an ihr neues Leben in der fremden Familie gewöhnt, geht für Bachyt, den Ehemann, der Alltag weiter. Der spielt sich draußen im Hof ab, rund um die Sommerküche, in der für potentielle Gäste immer irgendetwas auf dem Herd steht. Bachyt heizt den Samowar an, Teewasser für die Gäste.
Wie unwohl sich Assiljah, die im Haus sitzt, fühlen muss, lässt Bachyt nicht an sich heran. Die beiden haben sich während des Studiums kennengelernt - er sagt, sie seien befreundet gewesen, sie - man hätte sich nur ein paar Mal gesehen. Bachyt, ein schmaler, kindlich wirkender Junge, scheint selbst noch nicht richtig zu begreifen, was ihm da - irgendwie - passiert ist:
"Eine Woche vorher haben wir einen Freund ein bisschen aufgezogen, wann er denn heiraten wolle, na ja, und dann hat er daraufhin spontan ein Mädchen entführt. Und so war es auch bei mir. Ich hab' das nicht lange vorher geplant, ich wollte es eigentlich anders machen. Aber nun ist es so gekommen."
"Brautraub ist eine alte Tradition, Kirgisen machen das eben so" - wie viele kirgisische Männer rechtfertigt auch Bachyt die Entführung Assiljahs auf diese Weise. Doch wie weit reicht diese Tradition zurück?
Kirgistan war früher von Nomaden bewohnt, zwischen den Clans wurden Frauen ausgetauscht - oder auch kriegerisch entführt. Seit dem Mittelalter verbreitete sich der Islam, der heute - nach dem Ende der Sowjetunion - eine Wiedergeburt erlebt. Auch in Cholpon-Ata sind in den letzten Jahren neue Moscheen entstanden, und Mulloh Ruslan Nurmukhanbedow, einer der islamischen Geistlichen der Stadt, freut sich über die Rückkehr der Kirgisen zum Islam. Der Mulloh hat Bachyt und Assiljah verheiratet - und stillschweigend toleriert, dass die Braut zuvor entführt wurde. Denn eine muslimische Ehe sollte eigentlich anders zustande kommen:
"Die Scharia, das islamische Recht, verbietet den Brautraub. Manche jungen Männer tun es trotzdem, wenn die Eltern gegen die Heirat sind. Aber nach islamischem Recht müssen beide Elternpaare eigentlich im Voraus vereinbaren, wer wen heiratet, nur das ist im Sinne des Korans."
Der Gehorsam den Älteren gegenüber, das ist es, was die meisten Mädchen davon abhält aufzubegehren, aus dem Haus des Bräutigams zu fliehen. Auch Assiljah hätte nein sagen und zu ihren Eltern zurückkehren können. Doch sie hat sich in ihr Schicksal gefügt. Sie versucht, stark zu sein, wie man es von ihr erwartet, aber bei der Erinnerung an ihr altes Leben wirkt sie wie von Schmerz betäubt
"Meine Eltern waren froh, dass ich jetzt schon heirate. Sie haben nicht gesagt, dass ich weglaufen soll. Ich sei schon erwachsen und könne meine eigene Entscheidung treffen. Am Anfang war ich enttäuscht darüber, aber jetzt spielt es schon keine Rolle mehr."
Die Mädchen stehen in so einer Situation unter enormem psychischem Druck, sagt Bubusara Ryskulowa. Die kräftig gebaute Mittsechzigerin leitet ein Frauenhaus in der Hauptstadt Bischkek, 200 Kilometer von Cholpon-Ata entfernt. Hier finden Frauen mit ihren Kindern Schutz vor schlagenden, trinkenden Ehemännern, erhalten psychologische Hilfe und Rechtsbeistand. Nicht immer sind die Hilfe suchenden Frauen Opfer eines Brautraubs, aber häufig. Bubusara hat schon viele Geschichten von entführten Mädchen gehört, auch sie selbst wurde in jungen Jahren geraubt und sollte zur Heirat gezwungen werden:
"Sobald sie dir das Tuch umbinden, gilst du als verheiratet, und wenn du dann wegläufst, hast du schon den Makel einer geschiedenen Frau. Die Frauen der Familie des Mannes stellen sich um dich herum, binden dir das Tuch um, und wenden buchstäblich physische und psychische Gewalt an. Dann gibt es den Brauch, Brot und Salz auf die Schwelle zu legen, oder eine Großmutter legt sich in den Weg, und es heißt, wenn du über Brot und Salz oder über die Großmutter hinwegsteigst, wirst du dein Leben lang unglücklich sein. Dann muss du eine Einverständniserklärung unterschreiben, bekommst Geschenke und das war’s - dann musst du dableiben."
Bubusara hat die Verwünschungen damals nicht ernst genommen, ihren potentiellen Ehemann ausgelacht - und sich irgendwann selbst einen Mann gesucht. Doch viele Mädchen - auch heute noch - sind nicht so selbstbewusst. Sie haben Angst vor der eigenen Familie oder glauben den Weissagungen der Alten aufgrund mangelnder Bildung. Dass die Familien Zwangsheiraten akzeptieren, selbst wenn ihren eigenen Töchtern Gewalt angetan wird, ist ein wesentlicher Punkt, weshalb der zweifelhaften Tradition nicht beizukommen ist.
Denn tatsächlich ist Brautraub in Kirgistan gesetzlich verboten. Laut Artikel 155 des kirgisischen Strafgesetzbuches drohen bei Brautraub und Zwangsheirat bis zu fünf Jahre Haft. Das Problem: Niemand in Kirgistan bringt den Brautraub zur Anzeige.
Bubusara Ryskulowa: "Die Frauen suchen leider ganz selten sofort nach dem Brautraub Hilfe. Sie leben dort, bekommen Kinder. Im Nachhinein Anzeige erstatten kann man nicht, weil sie ja im Prinzip freiwillig dort geblieben ist. Aber dann geht die häusliche Gewalt los."
Opfer dieser Gewalt werden oft Frauen wie Zhainagul: Die 19-Jährige lebt in Talas, fünf Autostunden westlich von Bischkek. Mit ihrer drei Monate alten Tochter bewohnt sie eine heruntergekommene Ein-Zimmer-Wohnung. Eine Heizung gibt es nicht, das Küchenfenster ist zerbrochen, der Strom kommt aus offen liegenden Leitungen in der Wand. Unter Knistern und Funkenflug zapft Zhainagul mit einem vom Isoliergummi befreiten Kabel Strom aus der Wand für ihre Kochplatte - eine Metallspirale auf einem Ziegelstein. Frühmorgens um 5 Uhr - das Baby schläft noch - backt Zhainagul Lepjoschki, runde Fladenbrote aus Weizenmehl, die will sie verkaufen. Zhainagul hat ihren Vater früh verloren. Weil sie die krebskranke Mutter zwei Jahre lang pflegte, verließ sie die Schule mit der 7. Klasse, hat keinen Abschluss. Nach dem Tod der Mutter zog sie zu ihrer Tante. Als sie 16 Jahre war, wurde sie von einem Mann entführt:
"Ich wollte das nicht, aber meine Verwandten sagten, du hast niemanden sonst, der dich versorgt. Bleib lieber, du hast keine andere Wahl."
Zhainagul blieb bei dem Mann - einem Polizisten. Sie wurde schnell schwanger, bekam einen Sohn. Doch Schwiegermutter und Schwägerin, die mit im Haus wohnten, ließen sie alle Arbeit verrichten, behandelten sie wie eine Sklavin. Die ganze Familie trank, schlug sie regelmäßig. Als Zhainagul in diesem Jahr auch noch eine Tochter zur Welt brachte, eskalierte die Gewalt - einen nutzlosen Esser wollte die Familie nicht dulden, ein Mädchen war unerwünscht:
"Sie haben mich geschlagen, mein Mann sagte, ich sei eine schlechte Ehefrau. Sie haben mir meinen Sohn weggerissen und gesagt, ich solle soll lieber gehen, bevor noch etwas schlimmeres passiert."
Zhainagul floh, nur mit ihrer Tochter. Den Sohn wollte die Familie des Vaters nicht herausgeben. Sie kam erst bei Nachbarn unter und fand dann durch Bekannte diese Wohnung. Eine entfernte Verwandte bezahlt ihr die Wohnung nun zwei Monate lang.
Die Fladenbrote backt sie, um wenigstens etwas Geld zu verdienen. Mit dem winzigen Baby auf dem Arm und der Plastiktüte mit den noch warmen Fladenbroten in der anderen Hand geht sie deshalb jeden Morgen zum Basar von Talas, bringt fünf Brote in den einen, acht Brote in den anderen Laden. Die Frauen in den Läden kennen sie, nehmen ihr die Ware aus Mitleid ab. Etwa 60 Som, einen Euro, verdient sie sich so am Tag.
Zhainagul will arbeiten. Doch ohne Ausbildung, das Kind immer dabei, wird dies schwer werden. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. Für Bubusara Ryskulowa, die das Frauenhaus in Bischkek betreibt, ist dieser Fall ganz typisch. Sie sieht die Ursache für den Brautraub vor allem in der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung Kirgistans. Neben dem Nachbarn Tadschikistan ist Kirgistan eine der ärmsten Ex-Sowjetrepubliken. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit, haben die Entführungen von Frauen und Zwangsheiraten deutlich zugenommen, vor allem in ländlichen und wenig entwickelten Gebieten. Die marode Wirtschaftslage lässt armen Frauen in zerrütteten Familien oft keine Wahl, als irgendeinen Ehemann zu nehmen, der sie versorgt – doch sie baut auch bei Männern einen enormen Druck auf.
Bubusara Ryskulowa: "Männer sind angreifbarer geworden, weil man ihnen beigebracht hat - du bist der Ernährer, du bist der Chef. Dann ist alles zusammengebrochen, die Männer haben die Arbeit verloren, und viele von ihnen wurden Alkoholiker oder drogenabhängig."
Frauen gegenüber Macht auszuüben, ist für Männer wie die von Assiljah oder Zhainagul oft das letzte, was ihnen geblieben ist. Doch dass die Frauen den Männern oft schutzlos ausgeliefert sind, liegt auch an der kaum entwickelten Rechtsstaatlichkeit, den nicht funktionierenden staatlichen Strukturen in Kirgistan, das immer wieder von Staatsstreichen erschüttert wird.
Assiljah, die junge entführte Frau vom Issyk-Kul hofft, dass Bachyt, ihr jetziger Mann, sie auch nach der Heirat weiterstudieren lässt. Und sei es nur deshalb, weil er einsieht, dass die junge Familie in der strukturschwachen Region auch auf ihr Einkommen als Lehrerin angewiesen sein wird.
Auch die 20jährige Assiljah – schlank, mit langen dunklen Haaren und braunen mandelförmigen Augen – dachte bisher, dass immer nur die anderen davon erzählen. Noch vorgestern lebte sie mit den Eltern und drei Geschwistern in Karakol, am östlichen Ende des Issyk-Kul, einem Hochgebirgssee in Kirgistan, sieben Autostunden von der Hauptstadt Bischkek entfernt. Sie studierte, wollte Musiklehrerin werden. Jetzt, zwei Tage später, sitzt sie auf der anderen Seite des Issyk-Kul, den See und 200 Kilometer zwischen sich und ihrer Familie, in einem Haus, dass sie nie zuvor betreten hat, bei einer ihr völlig fremden Familie. Hier soll sie von nun an leben:
"Ich war zu Hause bei meinen Eltern, dann hat er mich herausgerufen, ich bin raus, dachte, sie wollten einfach mit mir reden, er war nicht allein, hatte vier Freunde dabei. Wir sind zusammen in ein Cafe, haben geredet. Dann haben sie mich entführt und mit dem Auto hierher gebracht."
Assiljah wurde vor zwei Tagen von Bachyt, einem Studienkollegen, verschleppt. Ziel der Entführung: Cholpon-Ata, Bachyts Heimatort, weit weg von Assiljahs Elternhaus. Als sie bei ihm zuhause ankamen, banden seine Großmutter und die Schwester Assiljah ein Tuch um – als Zeichen ihrer neuen Rolle als Ehefrau. Noch am Tag der Entführung heiratete Bachyt Assiljah. Der Mulloh, ein islamischer Geistlicher, kam zu ihnen ins Haus, um das Nikè zu sprechen, die Trauung nach islamischem Recht, bei der sich jeder der beiden Partner zum anderen bekennt. Die standesamtliche Trauung wird erst in ein paar Wochen folgen. Doch die Familie betrachtet Assiljah und Bachyt bereits jetzt als Ehepaar.
An den Tag ihrer Entführung - und ihrer Hochzeit - erinnert Assiljah sich nur ungern, sie erzählt stockend, mit leiser Stimme. In sich gekehrt sitzt sie auf dem Sofa im umfunktionierten Arbeitszimmer ihres frisch gebackenen Ehemanns. Auf dem Teppich zu ihren Füßen brummt ein grünstichiger Computer-Bildschirm, in der Schrankwand liegen Erinnerungsstücke der fremden Familie. Das Zimmer ist mit einem hellblauen Tuch verhängt. Jeder, der das Haus betritt, versteht sofort hier sitzt eine frisch vermählte Ehefrau.
Auf dem Flur laufen hektisch die Frauen des Hauses herum, stecken immer mal wieder den Kopf zu Assiljah herein. Als der Ehemann kurz ins Zimmer kommt, wirft er ihr mit zusammengekniffenem Mund einen warnenden Blick zu, sie verstummt sofort, senkt die Augen.
Drei Tage lang muss die junge Frau hier sitzen, damit Nachbarn und Freunde sie in Augenschein nehmen können. Über den ganzen Tag verteilt kommen Gäste. Nur die Frauen dürfen in dieses Zimmer, binden Assiljah ebenfalls Tücher um den Kopf, verstreuen Bonbons oder Blumen, wünschen ihr viel Glück.
Mit Bachyt, ihrem Ehemann, hat Assiljah bisher kaum gesprochen. Tagsüber sehen sich die beiden selten, Assiljah verlässt das Zimmer nur, wenn sie zur Toilette quer über den Hof will, oder wenn Gäste an der stets voll gedeckten Tafel bedient werden müssen. Nachts allerdings kommt Bachyt zur ihr ins Hochzeitszimmer, um mit ihr zu schlafen - ein fremder Mensch, der vorher nicht einmal zu ihren engsten Freunden zählte. Wie bei vielen kirgisischen Mädchen ist ihr Mann ihr erster Sexualpartner. Assiljah verhütet nicht, Kinder sind jetzt ausdrücklich erwünscht. Ob sie weiterstudieren kann, wenn sie erst einmal schwanger ist? Die Frage verdrängt Assiljah vorerst.
Während die junge Frau sich mit jeder Minute an ihr neues Leben in der fremden Familie gewöhnt, geht für Bachyt, den Ehemann, der Alltag weiter. Der spielt sich draußen im Hof ab, rund um die Sommerküche, in der für potentielle Gäste immer irgendetwas auf dem Herd steht. Bachyt heizt den Samowar an, Teewasser für die Gäste.
Wie unwohl sich Assiljah, die im Haus sitzt, fühlen muss, lässt Bachyt nicht an sich heran. Die beiden haben sich während des Studiums kennengelernt - er sagt, sie seien befreundet gewesen, sie - man hätte sich nur ein paar Mal gesehen. Bachyt, ein schmaler, kindlich wirkender Junge, scheint selbst noch nicht richtig zu begreifen, was ihm da - irgendwie - passiert ist:
"Eine Woche vorher haben wir einen Freund ein bisschen aufgezogen, wann er denn heiraten wolle, na ja, und dann hat er daraufhin spontan ein Mädchen entführt. Und so war es auch bei mir. Ich hab' das nicht lange vorher geplant, ich wollte es eigentlich anders machen. Aber nun ist es so gekommen."
"Brautraub ist eine alte Tradition, Kirgisen machen das eben so" - wie viele kirgisische Männer rechtfertigt auch Bachyt die Entführung Assiljahs auf diese Weise. Doch wie weit reicht diese Tradition zurück?
Kirgistan war früher von Nomaden bewohnt, zwischen den Clans wurden Frauen ausgetauscht - oder auch kriegerisch entführt. Seit dem Mittelalter verbreitete sich der Islam, der heute - nach dem Ende der Sowjetunion - eine Wiedergeburt erlebt. Auch in Cholpon-Ata sind in den letzten Jahren neue Moscheen entstanden, und Mulloh Ruslan Nurmukhanbedow, einer der islamischen Geistlichen der Stadt, freut sich über die Rückkehr der Kirgisen zum Islam. Der Mulloh hat Bachyt und Assiljah verheiratet - und stillschweigend toleriert, dass die Braut zuvor entführt wurde. Denn eine muslimische Ehe sollte eigentlich anders zustande kommen:
"Die Scharia, das islamische Recht, verbietet den Brautraub. Manche jungen Männer tun es trotzdem, wenn die Eltern gegen die Heirat sind. Aber nach islamischem Recht müssen beide Elternpaare eigentlich im Voraus vereinbaren, wer wen heiratet, nur das ist im Sinne des Korans."
Der Gehorsam den Älteren gegenüber, das ist es, was die meisten Mädchen davon abhält aufzubegehren, aus dem Haus des Bräutigams zu fliehen. Auch Assiljah hätte nein sagen und zu ihren Eltern zurückkehren können. Doch sie hat sich in ihr Schicksal gefügt. Sie versucht, stark zu sein, wie man es von ihr erwartet, aber bei der Erinnerung an ihr altes Leben wirkt sie wie von Schmerz betäubt
"Meine Eltern waren froh, dass ich jetzt schon heirate. Sie haben nicht gesagt, dass ich weglaufen soll. Ich sei schon erwachsen und könne meine eigene Entscheidung treffen. Am Anfang war ich enttäuscht darüber, aber jetzt spielt es schon keine Rolle mehr."
Die Mädchen stehen in so einer Situation unter enormem psychischem Druck, sagt Bubusara Ryskulowa. Die kräftig gebaute Mittsechzigerin leitet ein Frauenhaus in der Hauptstadt Bischkek, 200 Kilometer von Cholpon-Ata entfernt. Hier finden Frauen mit ihren Kindern Schutz vor schlagenden, trinkenden Ehemännern, erhalten psychologische Hilfe und Rechtsbeistand. Nicht immer sind die Hilfe suchenden Frauen Opfer eines Brautraubs, aber häufig. Bubusara hat schon viele Geschichten von entführten Mädchen gehört, auch sie selbst wurde in jungen Jahren geraubt und sollte zur Heirat gezwungen werden:
"Sobald sie dir das Tuch umbinden, gilst du als verheiratet, und wenn du dann wegläufst, hast du schon den Makel einer geschiedenen Frau. Die Frauen der Familie des Mannes stellen sich um dich herum, binden dir das Tuch um, und wenden buchstäblich physische und psychische Gewalt an. Dann gibt es den Brauch, Brot und Salz auf die Schwelle zu legen, oder eine Großmutter legt sich in den Weg, und es heißt, wenn du über Brot und Salz oder über die Großmutter hinwegsteigst, wirst du dein Leben lang unglücklich sein. Dann muss du eine Einverständniserklärung unterschreiben, bekommst Geschenke und das war’s - dann musst du dableiben."
Bubusara hat die Verwünschungen damals nicht ernst genommen, ihren potentiellen Ehemann ausgelacht - und sich irgendwann selbst einen Mann gesucht. Doch viele Mädchen - auch heute noch - sind nicht so selbstbewusst. Sie haben Angst vor der eigenen Familie oder glauben den Weissagungen der Alten aufgrund mangelnder Bildung. Dass die Familien Zwangsheiraten akzeptieren, selbst wenn ihren eigenen Töchtern Gewalt angetan wird, ist ein wesentlicher Punkt, weshalb der zweifelhaften Tradition nicht beizukommen ist.
Denn tatsächlich ist Brautraub in Kirgistan gesetzlich verboten. Laut Artikel 155 des kirgisischen Strafgesetzbuches drohen bei Brautraub und Zwangsheirat bis zu fünf Jahre Haft. Das Problem: Niemand in Kirgistan bringt den Brautraub zur Anzeige.
Bubusara Ryskulowa: "Die Frauen suchen leider ganz selten sofort nach dem Brautraub Hilfe. Sie leben dort, bekommen Kinder. Im Nachhinein Anzeige erstatten kann man nicht, weil sie ja im Prinzip freiwillig dort geblieben ist. Aber dann geht die häusliche Gewalt los."
Opfer dieser Gewalt werden oft Frauen wie Zhainagul: Die 19-Jährige lebt in Talas, fünf Autostunden westlich von Bischkek. Mit ihrer drei Monate alten Tochter bewohnt sie eine heruntergekommene Ein-Zimmer-Wohnung. Eine Heizung gibt es nicht, das Küchenfenster ist zerbrochen, der Strom kommt aus offen liegenden Leitungen in der Wand. Unter Knistern und Funkenflug zapft Zhainagul mit einem vom Isoliergummi befreiten Kabel Strom aus der Wand für ihre Kochplatte - eine Metallspirale auf einem Ziegelstein. Frühmorgens um 5 Uhr - das Baby schläft noch - backt Zhainagul Lepjoschki, runde Fladenbrote aus Weizenmehl, die will sie verkaufen. Zhainagul hat ihren Vater früh verloren. Weil sie die krebskranke Mutter zwei Jahre lang pflegte, verließ sie die Schule mit der 7. Klasse, hat keinen Abschluss. Nach dem Tod der Mutter zog sie zu ihrer Tante. Als sie 16 Jahre war, wurde sie von einem Mann entführt:
"Ich wollte das nicht, aber meine Verwandten sagten, du hast niemanden sonst, der dich versorgt. Bleib lieber, du hast keine andere Wahl."
Zhainagul blieb bei dem Mann - einem Polizisten. Sie wurde schnell schwanger, bekam einen Sohn. Doch Schwiegermutter und Schwägerin, die mit im Haus wohnten, ließen sie alle Arbeit verrichten, behandelten sie wie eine Sklavin. Die ganze Familie trank, schlug sie regelmäßig. Als Zhainagul in diesem Jahr auch noch eine Tochter zur Welt brachte, eskalierte die Gewalt - einen nutzlosen Esser wollte die Familie nicht dulden, ein Mädchen war unerwünscht:
"Sie haben mich geschlagen, mein Mann sagte, ich sei eine schlechte Ehefrau. Sie haben mir meinen Sohn weggerissen und gesagt, ich solle soll lieber gehen, bevor noch etwas schlimmeres passiert."
Zhainagul floh, nur mit ihrer Tochter. Den Sohn wollte die Familie des Vaters nicht herausgeben. Sie kam erst bei Nachbarn unter und fand dann durch Bekannte diese Wohnung. Eine entfernte Verwandte bezahlt ihr die Wohnung nun zwei Monate lang.
Die Fladenbrote backt sie, um wenigstens etwas Geld zu verdienen. Mit dem winzigen Baby auf dem Arm und der Plastiktüte mit den noch warmen Fladenbroten in der anderen Hand geht sie deshalb jeden Morgen zum Basar von Talas, bringt fünf Brote in den einen, acht Brote in den anderen Laden. Die Frauen in den Läden kennen sie, nehmen ihr die Ware aus Mitleid ab. Etwa 60 Som, einen Euro, verdient sie sich so am Tag.
Zhainagul will arbeiten. Doch ohne Ausbildung, das Kind immer dabei, wird dies schwer werden. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. Für Bubusara Ryskulowa, die das Frauenhaus in Bischkek betreibt, ist dieser Fall ganz typisch. Sie sieht die Ursache für den Brautraub vor allem in der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung Kirgistans. Neben dem Nachbarn Tadschikistan ist Kirgistan eine der ärmsten Ex-Sowjetrepubliken. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit, haben die Entführungen von Frauen und Zwangsheiraten deutlich zugenommen, vor allem in ländlichen und wenig entwickelten Gebieten. Die marode Wirtschaftslage lässt armen Frauen in zerrütteten Familien oft keine Wahl, als irgendeinen Ehemann zu nehmen, der sie versorgt – doch sie baut auch bei Männern einen enormen Druck auf.
Bubusara Ryskulowa: "Männer sind angreifbarer geworden, weil man ihnen beigebracht hat - du bist der Ernährer, du bist der Chef. Dann ist alles zusammengebrochen, die Männer haben die Arbeit verloren, und viele von ihnen wurden Alkoholiker oder drogenabhängig."
Frauen gegenüber Macht auszuüben, ist für Männer wie die von Assiljah oder Zhainagul oft das letzte, was ihnen geblieben ist. Doch dass die Frauen den Männern oft schutzlos ausgeliefert sind, liegt auch an der kaum entwickelten Rechtsstaatlichkeit, den nicht funktionierenden staatlichen Strukturen in Kirgistan, das immer wieder von Staatsstreichen erschüttert wird.
Assiljah, die junge entführte Frau vom Issyk-Kul hofft, dass Bachyt, ihr jetziger Mann, sie auch nach der Heirat weiterstudieren lässt. Und sei es nur deshalb, weil er einsieht, dass die junge Familie in der strukturschwachen Region auch auf ihr Einkommen als Lehrerin angewiesen sein wird.