„Ein Mensch wie ihr“ in Mülheim an der Ruhr
Begleitet von Soundinstallationen, Videos und Aktionen „erobern“ drei künstlerische Teams die Räume der Stadthalle Mülheim. © Björn Stork
Die halbe Stadt spielt Bertolt Brecht
05:58 Minuten
Die Mülheimer Theater präsentieren Theater, Tanz und Dokustück ganz im Zeichen von Bertolt Brechts Stückfragment „Fatzer". Ein Kunstparcours in der Stadthalle. Kritiker Stefan Keim hat die Proben von "Ein Mensch wie ihr“ vor der Premiere besucht.
600 Seiten Material liegen im Brecht-Archiv, einige davon in Reinschrift, aber auch Notizen auf Packpapier oder Servietten. Vier Jahre lang arbeitete der Dramatiker Bertolt Brecht an seinem Stück „Der Untergang des Egoisten Fatzer“, von 1927 bis 1931. Fertig wurde er damit nicht.
Die Theatermacher Heiner Müller und Frank-Patrick Steckel, Günter Krämer, auch Tom Kühnel und Jürgen Kuttner haben später daraus ihre eigenen Fassungen entwickelt. Am kommenden Wochenende gibt es in Mülheim an der Ruhr ein großes Projekt mit verschiedenen Stücken, die sich mit der Geschichte des Deserteurs Fatzer beschäftigen. Die Premiere ist am Freitag.
Soldaten und Krieg auf der Bühne
Das Kriegsjahr 1917. Vier Soldaten schlagen sich durch das Chaos nach Mülheim an der Ruhr durch. Hier wollen sich die Deserteure verstecken und auf die Revolution warten, aber die kommt nicht. Schließlich werden die vier von der Armee erwischt, alle sterben. „Von jetzt ab und eine lange Zeit über“, sagt Fatzer, der die Gruppe anführt, „wird es keine Sieger mehr geben auf unserer Welt sondern nur mehr Besiegte.“
Auf der Bühne der Mülheimer Stadthalle tragen die Soldaten schwarzweiße Puschelkostüme. Der Krieg erscheint stark stilisiert in der Inszenierung von Regisseur Philipp Preuss. Ein Fernsehreporter steht an der Rampe, während eine Windmaschine in anpustet. Er heißt Bert und berichtet von der Front: „Was der Untergehende sagt, das ist wertlos. Wozu wissen, wer wen zerfleischt, wenn beide den Tod sicher sind. Wertlos ist das Gewäsch der Unglücklichen.“
Drei Brecht-Inszenierungen
Das Theater an der Ruhr liefert eine von drei Inszenierungen. Hier geht es im Kern um Brechts Text. Der eiserne Vorhang fährt rauf und runter, ebenso Gazevorhänge. Es gibt Videoprojektionen und Musik des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch bis zur Rockband Ton Steine Scherben. Eine assoziative Annäherung an das Fatzer-Fragment.
Aber verlangt das Publikum, das seit einem halben Jahr nonstop mit Kriegsmeldungen aus allen Medien bombardiert wird, wirklich nach einem Theaterabend über dieses Thema?
„Es ist am Ende ein sehr kulinarischer und sehr warmer und verbindender Ansatz, den wir verfolgen", sagt Sven Schlötcke, Geschäftsführer und Mitglied der künstlerischen Leitung des Theaters an der Ruhr. "Durch die unterschiedlichen Ästhetiken, die zu sehen sind, entsteht auch etwas Kurzweiliges in der Beschäftigung, weil ich nicht anderthalb-zwei-Stunden-Stücke jeweils sehe, sondern 40 bis 45 Minuten an einem Ort verweile. " Dann gehe es weiter. "Und ich sehe etwas ganz anderes aus einer ganz anderen Perspektive.“
Weibliche Sicht auf den Krieg
Das Publikum wird in drei Gruppen aufgeteilt. Jede besucht alle Performances, in unterschiedlicher Reihenfolge. Im Kammermusiksaal der Stadthalle probt die Autorin und Regisseurin Christine Umpfenbach ein Stück, das zwar von Brechts Stück ausgeht. Doch im Fokus stehen fünf Frauen zwischen zehn und 74 Jahren aus Mülheim an der Ruhr.
Eine Schauspielerin des Theaters an der Ruhr ist dabei, eine Musikerin aus der Ukraine, eine Geflüchtete aus Syrien mit ihrer Tochter und eine Zeitzeugin, die von den Erlebnissen ihrer Eltern im Nationalsozialismus erzählt. „Das hatte damit zu tun, wer mit dem Thema Krieg zu tun hat oder hatte", sagt Umpfenbach." Danach habe ich eigentlich gesucht und nach einer weiblichen Sicht auf das Desertieren und auf Krieg.“
Die Aufführung ist der Beitrag des Mülheimer Stücke-Festivals zum Projekt. Ebenfalls dabei ist der Ringlokschuppen, ein freies Produktionshaus, das viele Jahre lang Fatzer-Tage veranstaltet hat. Nun hat es eine Choreographin der Gruppe Coccondance engagiert.
Tanz im Foyer
„Rafaele Giovanola versucht so was Ähnliches in einer Mischung aus professionellen Tänzern und Menschen aus der Stadt – alles Geflüchtete", sagt Geschäftsführer Schlötcke. "Sie untersucht, wie sich das in die Körper eingeschrieben hat oder was das mit Körpern macht.“
Das Tanzensemble bespielt das Foyer. Und zwar den gesamten Raum. Das Publikum muss sich schon Mühe geben, wenn es die Tänzerinnen und Tänzer auf Distanz halten will. Sie werfen die Arme in die Luft, viele Szenen haben etwas Kämpferisches. Dann gehen sie mit einer geöffneten Hand auf die Besucherinnen und Besucher zu, suchen den Blickkontakt, kommen näher.
Ein Fest des Gedankenaustausches
Berührungen sollen sie aber vermeiden, ruft ihnen die Choreographin zu. Wenn alle drei Gruppen die drei Performances gesehen haben, kommen alle zusammen. Es gibt ein großes Chorfinale, dann soll ein Fest beginnen, erläutert Schlötcke. Ein Fest, bei dem alle ihre Erlebnisse und Gedanken austauschen. "Ein Mensch wie ihr – das ist der Titel – heißt ja, wir sind davon alle direkt oder indirekt betroffen.“
Dem Krieg, der ausbleibenden Revolution, den Gefahren des Desertierens setzt das Theaterprojekt die Idee der Gemeinschaft entgegen. Ja, man kann und darf miteinander essen, sich näherkommen, auch lachen. „Ein Mensch wie ihr“ – das ist der Versuch, wirklich ein gesellschaftliches Forum zu bieten und es nicht nur zu behaupten.