Lockerungsübungen mit Abstand
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Auch den Vereinssport und die Jugendarbeit hat die Coronakrise hart getroffen Mittlerweile darf wieder trainiert werden, vor allem unter freiem Himmel. Das Gefühl der Unsicherheit bleibt - vor allem mit Blick auf die kommenden Herbstmonate.
Ein Samstagvormittag Anfang Mai im Berliner Volkspark Hasenheide: Claudia Becker, Übungsleiterin bei der Berliner Turnerschaft, trainiert mit zwei Mädchen aus ihrer Leichtathletik-Gruppe. Fitnessübungen stehen auf dem Programm: Die Geschwister Luzie und Maxi machen eifrig Hampelmänner – mit großer Distanz zur Übungsleiterin.
Die Drei treffen sich heute zum ersten Mal, seit Mitte März der Sportbetrieb im Verein aufgrund der Coronapandemie eingestellt wurde. Luzie fand das "total doof. Die ganze Zeit zu Hause zu sein - jetzt nichts gegen meine Familie -, da fällt einem die Decke auf den Kopf. Und ich fand es auch schön mal zum Tennis und zur Leichtathletik zu gehen. Öfter draußen zu sein, das fand ich schön. Jetzt ist das halt alles anders."
Die private Trainingseinheit gibt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was nun zur Regel wird: Abstand halten! Hinter der Trainerin und ihren Schützlingen liegen zwei Monate, in denen kein Vereinssport möglich war.
Die Bewegungsarmut trifft die Kinder
Was bedeutet das für junge Sportlerinnen und Sportler? Eine Katastrophe, meint Claudia Becker. "Wir haben versucht, über die Homepage ein paar Informationen zu streuen, Aufgaben zu geben. Aber gerade Schul-AG, Kinder und Jüngere erreichen wir zurzeit überhaupt nicht. Ich kann im Moment gar nicht so genau abschätzen, was das genau bedeutet."
In den Wochen ohne Training fehlte vielen Kindern und Jugendlichen die regelmäßige Bewegung. Darunter litt auch die 19-jährige Lara. Sie ist Sportakrobatin und trainiert normalerweise drei- bis viermal in der Woche.
"Abends denk ich mir: 'Okay, dann tanze ich jetzt einfach noch mal eine Dreiviertelstunde.' Da ist einfach so viel Energie dahinter, die muss jetzt irgendwie raus. Es kollidiert natürlich auch immer mit den Arbeitsaufträgen, die man von der Schule bekommt. Man sitzt den ganzen Tag nur vor dem Computer, man kriegt diese Energie nicht raus. Man denkt sich: 'Jetzt muss ich hier erst mal drei Stunden Online-Unterricht machen. Ich würde ganz gerne rausgehen und Sport machen.'"
Ein ganzes Land war ausgebremst
Der sportliche Shutdown hat viele Menschen getroffen – egal ob Leistungs- oder Hobbyathletinnen, Reha- und Fitnesssportler oder Kinder, die keinen Schul- und Vereinssport mehr hatten. Ein ganzes Land war ausgebremst – auf den Sportplätzen und in den Turnhallen herrschte Totenstille.
Veronika Rücker, Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), hatte plötzlich die paradoxe Aufgabe, als Sportfunktionärin das Nicht-Sporttreiben mitorganisieren zu müssen:
"Da kamen natürlich zahlreiche Aufgaben auf den DOSB und auf uns zu, speziell auf mich. Zum einen ging es natürlich zunächst einmal darum, in allen 90.000 Vereinen den Lockdown verantwortungsbewusst umzusetzen und zu garantieren, dass wir das Sporttreiben in dem Moment einstellen und auch dafür sensibilisieren, wie notwendig das ist und dass die Gesundheit der Bevölkerung absolute Priorität hat. Das war die erste Aufgabe. Aber dann kam direkt auch wieder die Aufgabe, zu sehen, wie wir Leitplanken entwickeln können, die einen Wiedereinstieg ermöglichen, damit die Vereine unter Einhaltung von bestimmten Regeln auch die Gelegenheit haben, möglichst zeitnah wieder in das Sporttreiben einzusteigen und ihren gesellschaftlichen Aufgaben wieder gerecht zu werden."
Trainer sind Vertrauenspersonen
Denn Sportvereine bieten ihren Mitgliedern viel mehr als nur körperliche Ertüchtigung. Trainerinnen und Trainer sind besonders für Jugendliche häufig Vertrauenspersonen, denen sie auch mal ihre privaten Sorgen erzählen können. Ina Tetzner ist Trainerin bei der Berliner Turnerschaft und betreut Kinder- und Jugendsportgruppen. Während des Shutdowns haben sich viele ihrer Schützlinge mit ihrem Kummer an sie gewandt.
"Gerade bei der Jugend war das zu merken, dass man doch irgendwie eine versteckte Freundin ist oder auch einfach Berater oder Zuhörer. Plötzlich bekommt man auch Anrufe: 'Okay, können wir mal einfach nur quatschen, können wir uns mal kurz im Park treffen? Ich krieg' hier den Wohnungskollaps."
Sorge um den Nachwuchs in den Vereinen
Die DOSB-Vorstandsvorsitzende, Veronika Rücker, ergänzt:
"Ich glaube, die Konsequenzen sind ganz vielfältig und lassen sich zum Teil auch bis jetzt noch gar nicht absehen. Fünf Monate, in denen das soziale Umfeld fehlt, dieses soziale Auffangbecken, in dem den Kindern und Jugendlichen ihr Sport, ihr Ausgleich und ihr soziales Umfeld fehlt. Ich glaube, das hat vielfältigste Auswirkungen. Das werden wir mit Sicherheit auch in der Konsequenz noch weiter spüren. Wenn man von Kindern und Jugendsport spricht, darf man eben auch nicht vernachlässigen, dass es in all dieser Zeit keinen Schulsport gegeben hat und damit viele auch nicht an Sport und Bewegung herangeführt worden sind. Wir gehen davon aus, dass sich das in der Konsequenz in den nächsten Jahren zeigen wird. Wir rechnen damit, dass es deutlich schwieriger wird, im Kinder- und Jugendbereich die Mitgliederzahlen in den Vereinen zu erhalten."
Lockerungen - eine organisatorische Herausforderung
Ab Mai hatten Bund und Länder im Zuge ihrer Coronalockerungen wieder Vereinssport im Freien erlaubt. Was erst einmal erfreulich schien, brachte für die Clubs große Unsicherheiten mit sich. Der sportliche Nullzustand war - unter organisatorischen Gesichtspunkten - gegen das Wiederhochfahren des Trainingsbetriebs ein Klacks. Denn jetzt galt es, strikte Vorgaben einzuhalten. Der Deutsche Olympische Sportbund hatte einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der zu berücksichtigen war – sogenannte "Leitplanken". Hinzu kamen unterschiedliche Vorgaben der Länder. Ein Flickenteppich.
"Klar hätten wir uns gewünscht, dass es bundesweit einheitlich so schnell wie möglich wieder zum vollumfänglichen Sporttreiben kommt", erklärt dazu Veronika Rücker. "Wir sind dann natürlich auf die Realitäten eingegangen und haben gesagt: 'Wir sind froh um jedes Bundesland, das es wieder ermöglicht, Sport zu treiben.' Dass es natürlich eine gewisse Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen in der jeweiligen Region gibt, ist natürlich nachvollziehbar. Insofern kann ich schon verstehen, dass es nicht gerade überschaubar war, wo was möglich und wo was denkbar ist. Auf der anderen Seite ist und bleibt unser Ziel, so schnell wie möglich überall bundesweit flächendeckend wieder vollumfängliches Sporttreiben am besten noch mit Zuschauern zu ermöglichen. Da gab es jetzt unterschiedliche Geschwindigkeiten, aber dieser Realität mussten wir uns einfach stellen."
Unsicherheit und Verzweiflung
Die Realität im Mai, als die ersten Lockerungen im Sport umgesetzt werden konnten, war vielerorts erst einmal von Unsicherheit und Verzweiflung geprägt. Viele Übungsleiterinnen und -leiter standen vor zum Teil unlösbaren Aufgaben angesichts der Vorgaben: Wie organisiere ich Training ohne Körperkontakt? Wie kommen wir klar, ohne die Umkleidekabinen und Duschen zu nutzen? Trainieren wir mit oder ohne Maske? Claudia Becker von der Berliner Turnerschaft merkte man die Verunsicherung im Mai deutlich an:
"Die aktuelle Handlungsanweisung ist zu fünft, gesetzlich dürfen wir zu acht - und dass ein Trainer maximal 25 Personen betreut, also nicht gleichzeitig, sondern am besten nacheinander, ohne sich zu sehen, mit getrennten Ein- und Ausgängen. Auf Hygienemaßnahmen achten, Mundmaske darf man, muss man nicht - ist aber die Empfehlung. Ich fürchte mich aktuell vor dieser Aufgabe. Ich habe auch Angst vor der Verantwortung. Ich habe Angst davor, dass wir, wie wir jetzt in den Nachrichten gesehen haben, irgendwie die Fleischerei sind, die es getroffen hat. Vielleicht kann das genauso Freitagnachmittags mein Lauftreff sein? Und wie viel Verantwortung habe ich, wenn ich jetzt meine Trainings organisiere?"
Kreative Alternativen gesucht
Gerade im Kinder- und Jugendsport stellten die Regeln die überwiegend ehrenamtlichen Trainerinnen und Trainer vor große Herausforderungen. Zum Beispiel sollten Trainingseinheiten in kleineren Gruppen stattfinden. Die Leichtathletik-Abteilung der Berliner Turnerschaft etwa war darauf angewiesen, dass einige Eltern oder jugendliche Sportler das Training unterstützten, da es für die vielen neuen Kleingruppen nicht genügend Übungsleiterinnen und Übungsleiter gab.
Die Vorgabe, einen Mindestabstand einzuhalten, ist im Leichtathletiktraining grundsätzlich machbar, aber wer kann zum Beispiel eine Siebenjährige ernsthaft daran hindern, mal schnell ihre Freundin zu berühren oder zu umarmen? Kontaktsportarten wie Judo und Ringen waren zu diesem Zeitpunkt im Mai noch verboten, aber auch in anderen Sportarten wie Basketball, Handball oder Fußball konnte man mit dem vorgegebenen Abstand von eineinhalb Metern nicht so trainieren wie gewohnt.
Kreative Alternativen mussten her. Für die Verantwortlichen der Berliner Turnerschaft war die Organisation des Trainings unter Coronavorgaben – egal in welcher Sportart – ein verantwortungsvoller Fulltimejob.
"Es muss eine ganz klare, kontrollierte Geschichte sein", sagt dazu Ina Tetzner. "Das ist für uns viel Arbeit. Und wenn man dann als Ehrenamtlicher noch einen Job nebenbei hat, muss man abwägen können, was jetzt mehr wiegt. Gehe ich wieder richtig in meinen Job rein, damit ich meinen Arbeitsplatz gesichert habe? Oder investiere ich mehr Arbeit in mein Ehrenamt, was ich sehr gerne tue?"
"Das war eine Riesenaufgabe", ergänzt DOSB-Vorstandsvorsitzende Veronika Rücker. "Natürlich gab es auch immer wieder Rückmeldungen von Trainern und Übungsleitern, die gesagt haben: 'Mensch, wir sind damit einfach überfordert.' Das ist auch absolut nachvollziehbar. Aber man muss sagen: Im Großteil ist es doch gelungen, sehr kreative Lösungen zu finden und Menschen für ehrenamtliche Arbeit zu begeistern, die bisher vielleicht nicht so aktiv geworden sind."
Zum dritten Mal wieder auf dem Platz
Anfang August, auf dem Sportplatz des TuS Wörrstadt, einer Kleinstadt mit 8000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz. Die zweite Frauenmannschaft trainiert zum dritten Mal wieder richtig auf dem Platz, nachdem im März auch hier der sportliche Stillstand aufgrund der Covid-19-Pandemie verhängt wurde.
Der TuS Wörrstadt ist ein Verein mit langer Frauenfußballtradition, im Jahr 1974 gewannen die Spielerinnen des Clubs die erste Deutsche Meisterschaft. Heute spielt die erste Frauenmannschaft in der Regionalliga Südwest. Auch dieses Team hat das Sportverbot im März voll erwischt. Spielertrainerin Jessica Wissmann wollte selbst am liebsten direkt wieder auf den Platz:
"Total, total. Ab dem ersten Tag. Da haben wir noch überlegt, ob wir die Woche darauf nochmal trainieren. Das war eigentlich so angesetzt. Aber dann haben der DFB und auch der Südwesten gesagt: 'Nee, wir machen einen Cut, das ist uns alles zu heikel. Das können wir nicht mehr gewährleisten.'"
Sportliche Endzeitstimmung
Jessica Wissmann und ihre Spielerinnen konnten das Verbot sportlicher Aktivitäten aufgrund des dynamischen Infektionsgeschehens nachvollziehen und akzeptierten die Auszeit – genau wie Maria Breuer, beim TuS Wörrstadt für Frauen- und Mädchenfußball zuständig. Maria Breuer ist 67 Jahre alt und zählt zu den Pionierinnen im deutschen Frauenfußball. 1978 wurde sie deutsche Fußballmeisterin mit dem SC Bad Neuenahr. Einmal stand sie im Tor der Nationalmannschaft.
Auch wenn Maria Breuer von der Notwendigkeit des Sportverbots überzeugt war, die sportliche Endzeitstimmung hat sie geschockt:
"Die ganzen Anlagen der Stadt und der Kreisverwaltung waren ja geschlossen. Somit gab es auch kein Jugendturnen, kein Handball, kein Badminton. Da war gar nichts mehr möglich. Wir sind ja ein Breitensportverein mit acht Sparten. Und jeder wollte ja etwas haben - es war nicht mehr möglich."
Anspruchsvoller Wiedereinstieg
Beim Training sieht man den Fußballerinnen die Freude am Spiel nach der langen Pause an. Die erste Mannschaft besteht aus 18- bis 30-Jährigen, die abhängig von ihrer jeweiligen Lebenssituation ganz unterschiedlich mit der Zwangspause umgegangen sind. Vor allem die Jungen brannten darauf, wieder in den Trainings- und Spielbetrieb einzusteigen, sagt Jessica Wissmann. Nach einer langen Pause war das gar nicht so einfach:
"Seit gut drei Wochen sind meine Mädels tatsächlich auch wieder am Laufen und haben von mir einen Trainingsplan bekommen. Dass man auch einfach nach fünf Monaten Pause nicht aus dem Off startet, sondern ein bisschen vorbereitet ist, natürlich verletzungsprophylaktisch gesehen und auch von der Fitness her. Da fällt schon einiges weg."
Ähnlich wie die Berliner Leichtathletiktrainerin Claudia Becker schildert auch Jessica Wissmann, wie anspruchsvoll der Wiedereinstieg in den Trainingsbetrieb nach dem coronabedingten Shutdown war.
"Man wusste gar nicht mehr, was darf man, was darf man nicht? Bei uns hat es erst mal ein bisschen gedauert, bis wir ein Hygienekonzept erstellt haben. Ich denke, es wäre ein bisschen einfacher gewesen, wenn vielleicht sogar der DFB einfach eine Entscheidung getroffen hätte, die man übertragen hätte können. Aber wie gesagt: Es ist immer noch Ländersache. Das war total schwierig, denn teilweise kommen meine Mädels auch aus Hessen. In Hessen darf man andere Sachen. Dann fragen Sie mich, ja, warum haben wir noch keine Freundschaftsspiele? In Rheinland-Pfalz durfte man es noch lange Zeit nicht. Das darf man ja jetzt erst wieder. Eine schwierige Situation, ein Tohuwabohu."
Inzwischen läuft bei der TuS Wörrstadt wieder fast der Normalbetrieb. Die erste Frauenmannschaft ist mit zwei Siegen in die Saison gestartet.
"Das fühlt sich schon cool an"
Einen Monat später, Anfang September im Willy-Kressmann-Stadion in Berlin-Kreuzberg. Auch bei der Berliner Turnerschaft wird wieder gerannt und gesprintet - natürlich noch im Coronamodus. Claudia Becker trainiert mit vier Kinder- und Jugendgrüppchen, etwas zeitversetzt und mit der Unterstützung von zwei weiteren Übungsleiterinnen und einem jugendlichen Sportler.
Die jüngeren Kinder trainieren Sprints, die etwas älteren laufen 400-Meter-Staffeln. Eine Vermischung der Gruppen soll es nach wie vor noch nicht geben. Auch die elfjährige Luzie ist wieder dabei, ihre kleine Schwester Maxi trainiert auf der anderen Seite des Sportplatzes. Luzie:
"Am Anfang war es schon komisch, so in ganz kleinen Gruppen", erzählt Luzie. "Und Claudi hat immer gesagt, wir sollen Abstand halten. Das sagt sie auch heute noch manchmal, aber irgendwie fühlt es sich schon wieder normaler an. Wir sind wieder in unseren alten Gruppen zusammen und sehen uns regelmäßig beim Training. Das fühlt sich schon cool an."
"Eine tolle Saison unter erschwerten Bedingungen"
Zum Training bringen die Kinder jedes Mal einen ausgefüllten Zettel mit, damit man im Fall einer Infektion nachvollziehen kann, wer anwesend war. Ganz unkompliziert und unbeschwert läuft der Trainingsbetrieb noch lange nicht, erzählt Claudia Becker:
"Es ändert sich eigentlich alle drei Wochen was und man muss sich sehr dahinter klemmen. Es ist extrem schwierig. Aber es gab Stellen, wo man sehr gut beraten wurde. Es gibt auch nach wie vor noch jede Menge Diskussionen und Schwierigkeiten."
Dennoch: Claudia Becker hadert nicht – sie schaut sogar mit positiven Gefühlen auf die zurückliegenden Monate.
"Insgesamt gesehen würde ich sagen: Wir hatten unter erschwerten Bedingungen eine tolle Saison. Wir haben großes Glück, dass wir uns auf dem Sportplatz bewegen dürfen, dass wir zum Glück einen Outdoor-Sport haben, der irgendwie was machen konnte. Und wir dürfen auch schon wieder Wettkämpfe starten. Orientierungslauf und die ersten Volksläufe starten jetzt mit Einzelabstand."
Droht nun der Mitgliederschwund?
Nach wie vor gibt es viele Unsicherheiten und Einschränkungen für den Vereinssport. Ein weiteres Beispiel: Im Berliner Amateur- und Jugendfußball wurde die Anzahl der Saisonspiele halbiert. Der Grund: Mannschaften sollen sich in den Kabinen und auf den Plätzen nicht zu nahekommen. Klar, dass das an der Motivation nagt und dass womöglich dadurch Spielerinnen und Spieler den Vereinen verloren gehen.
Frust und Mitgliederschwund: Dieses Problem kenne man auch in Rheinland-Pfalz, sagt Maria Breuer vom TuS Wörrstadt:
"Da haben wir natürlich schon darüber diskutiert. Wir haben uns hier auf der Terrasse zur Vorstandssitzung getroffen - mit Abstand und Maske. Und da kam natürlich auf die Frage: Was passiert? Wer meldet sich ab? Wie geht es weiter? Es war schon gewisse Ratlosigkeit da, aber auch die Hoffnung, dass es irgendwann wieder besser wird."
Auch Veronika Rücker vom Deutschen Olympischen Sportbund kann die künftige Mitgliederentwicklung in den Sportvereinen noch nicht abschätzen:
"Das sind Auswirkungen, die sich im Moment so noch nicht zeigen. Aber wir befürchten, dass wir das zum Ende des Jahres sehen werden, wenn nämlich die Mitgliederzahlen erhoben werden. Ein normaler Sportverein hat immer zwischen zehn und 15 Prozent Fluktuation, also Personen, die austreten, während sie auf der anderen Seite Neumitglieder gewinnen. Wir haben große Sorgen, dass in diesem Jahr die Neumitglieder-Gewinnung nicht ansatzweise in dieser Form stattgefunden hat, und auch insofern, dass wir im nächsten Jahr zehn bis 15 Prozent weniger Mitglieder in den Vereinen aufweisen."
Sorge in den sozialen Brennpunkten
Von noch dramatischeren Verlusten kann Itong Ehrke vom Berliner Verein Seitenwechsel berichten, einem Verein, der sich mit einer Vielzahl an Sportarten gezielt an Frauen richtet und hier vor allem an lesbische Frauen, Inter- und Transpersonen. Sie sitzt auf einer Bank vor ihrem Büro in einem Hinterhof in Kreuzberg. Itong Ehrke ist Projektmanagerin des Mädchensports bei Seitenwechsel.
Zudem gibt es offene Ballsport- und Bewegungsgruppen für Mädchen in sozialen Brennpunkten Berlins - genau dort, wo es für Mädchen noch lange nicht normal ist, Sport zu treiben. Während des Trainingsverbots zu Beginn der Pandemie konnten natürlich auch diese Sportstunden nicht stattfinden, erzählt Itong Ehrke:
"Es sind Menschen in schwierigen sozialen Lebenslagen unter beengten Wohnverhältnissen. Wir haben uns natürlich Sorgen gemacht. Wir hatten keine Möglichkeit mehr, an die ranzukommen. Wir haben mit den Eltern teilweise ja auch gar keinen Kontakt. Und insbesondere bei den Mädchen beobachten wir ja sowieso, dass die Bewegungsräume für sie häufig sehr viel weiter eingeschränkt sind. Dann hatten wir ja eine Fantasie, wie sich das im Lockdown auswirken kann. Das hat uns Sorge bereitet. Wir hatten wenig Möglichkeiten, überhaupt nur zu recherchieren, wie es den Mädchen geht."
Beziehungsarbeit und Kontinuität sind nicht mehr möglich
Seitenwechsel hat ein großes Angebot an Hallensportarten: Basketball, Badminton, Thaiboxen, Tischtennis und mehr. Bis zu den Berliner Sommerferien hat nichts davon stattgefunden. Die Trainerinnen konnten zwar Online-Sportkurse anbieten, doch gerade der Mädchensport in den Kiezen fiel komplett aus. Mit verheerenden Folgen, erläutert Itong Ehrke:
"Danach haben wir keine Gruppen mehr gehabt. Die Kinder sind weg. Die müssen wir jetzt neu gewinnen. Das ist anders als in den Vereinssportarten. Wir sind ja ein Verein, der offene Angebote macht, niedrigschwellige Angebote. Das heißt, das ist anders, als wenn ein Fußballverein zum Beispiel regelmäßig Training und Spiele anbietet. Da kommen dann sowieso schon andere Kinder. Die Arbeit mit schwierigen sozialen Lebenslagen – Mädchen sind sowieso schon eine sehr schwierig zu erreichende Zielgruppe. Da muss man vor allen Dingen Beziehungsarbeit und Kontinuität bieten. Und das war ja jetzt nicht mehr möglich. Wir fangen jetzt so ein bisschen von vorne an."
Itong Ehrke startet mit Seitenwechsel und der Unterstützung einer Stiftung das Projekt "Coole Mädchen", eine Website, auf der Angebote für Mädchen, auch aus anderen Vereinen, gebündelt werden und somit leichter für Sportinteressierte zugänglich sind.
Solidarische Angebote
Aber nicht nur im Mädchensport muss Itong Ehrke von Verlusten berichten, auch in anderen Sportbereichen hat Seitenwechsel Mitglieder verloren. Ganz genau kann auch sie den Einbruch noch nicht einschätzen.
"Das ist für uns sehr schwer zu spekulieren. Wir haben schon zehn Prozent unserer Vereinszugehörigen verloren. Es treten jetzt aber wieder viele ein. Die, die drin waren, waren alle solidarisch. Wir hatten das Angebot gemacht, dass Leute ihre Beiträge aussetzen können. Uns war schon klar, dass manche gerade wirklich vor dem Nichts stehen. Manche haben sich dann auch befreien lassen, was auch unser Wunsch war. Alle anderen haben sich sehr solidarisch gezeigt, keine Beschwerden. Es gab überhaupt kein Lamentieren. Alle wissen glaube ich, was sie an den Sportvereinen haben."
Gerade bei Seitenwechsel, einem Verein, der sich gezielt an Menschen richtet, die sich womöglich in anderen Vereinen nicht so wohl fühlen, ist die Solidarität nachvollziehbar – und umso wichtiger, denn sie ermöglicht dem Verein das Überleben und die Chance, weiterhin geschützte Räume im Sport für Sportinteressierte anzubieten.
Die Berliner Turnerschaft ist vergleichsweise glimpflich durch die Coronasaison gekommen. Die meisten Mitglieder konnten mit dem – wenn auch abgespeckten - Angebot erreicht werden, erzählt Trainerin Claudia Becker:
"Wir hatten so um die 150 Mitglieder in der Leichtathletik- und Orientierungslauf-Abteilung am Anfang der Saison vor Corona. Jetzt haben wir noch ungefähr 140. Das finden wir sehr toll. Allerdings kommen jetzt die ersten Kündigungen und Nachfragen von denen, die es bisher vielleicht gar nicht geschafft haben, weil sie es organisatorisch nicht hinkriegen."
Der sorgenvolle Blick in den Herbst
Fraglich ist auch, wie sich das Verhalten der Mitglieder über den Herbst und Winter entwickeln wird, wenn in vielen Sportvereinen wieder ein reduziertes Programm gefahren werden muss, weil eventuell Hallen geschlossen bleiben oder nur kleinere Gruppen in Innenräumen Sport treiben dürfen. Auch hier gibt es organisatorisch noch sehr viele Fragezeichen.
Die Leichtathletik-Abteilung der Berliner Turnerschaft immerhin hat schon einen Plan. Bis auf die Minis, also die unter Sechsjährigen, werden alle Kinder und Jugendlichen weiter im Freien trainieren.
"Zum Glück sind wir Draußen-Sport gewöhnt, bei allem Wetter", sagt Claudia Becker. Sie berichtet von Jahren mit durchgeregneten Turnhallen und Schimmel in den Hallen. Winter, in denen sie bereits mit Kindergruppen draußen geblieben ist. "Da haben wir Erfahrung und haben uns dafür entschieden, mit allen Gruppen draußen zu bleiben."
Eine vorausschauende Entscheidung, die sicher nur wenige Sportvereine in dieser Form treffen können. Was im Herbst und Winter auf Sportdeutschland zukommen wird, das kann auch Veronika Rücker vom DOSB noch nicht sagen:
"Es ist schwierig, in die Glaskugel zu schauen. Natürlich ist alles abhängig vom Infektionsgeschehen - wie sich das weiterentwickeln wird und welche Maßnahmen, auch für den Sport, dann noch mal drohen. Wir setzen jetzt im Moment noch alles daran, erst einmal wieder tatsächlich das vollumfängliche Sporttreiben zu ermöglichen. Uns fehlen an einigen Stellen tatsächlich noch Regelungen, was beispielsweise den bundesweiten Wettkampfsport anbelangt und auch, was die Durchführung von Großveranstaltungen angeht. Da sind wir gerade noch dabei, Lösungen zu finden. Und dann werden wir gebannt schauen, wie sich das Infektionsgeschehen in Richtung Winter entwickelt."
Von der neuen zur alten Normalität
Das Virus und die wieder steigenden Infektionszahlen werden die rund 27 Millionen deutschen Vereinssportlerinnen und -sportler leider noch eine Zeitlang einschränken - obwohl man das hier auf dem Sportplatz in Berlin-Kreuzberg beim Betrachten fröhlicher Kinder fast vergisst. Denn wie in vielen anderen Bereichen können auch die Vereine mit Einfallsreichtum und guter Organisation weiterhin Angebote machen und die vielzitierte "neue Normalität" schaffen.
Eine Normalität, die jedoch in absehbarer Zukunft hoffentlich wieder von der alten abgelöst wird.