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Wurde der Ausweis mit Absicht hinterlassen?

Die zerstörte Front des Lkw am Breitscheidplatz in Berlin: Bei einem mutmaßlichen Anschlag war ein Unbekannter am Montag mit einem Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren.
Die zerstörte Front des Lkw am Breitscheidplatz in Berlin: Bei einem mutmaßlichen Anschlag war ein Unbekannter am Montag mit einem Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren. © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Thomas Macho im Gespräch mit Timo Grampes |
Als Teil einer psychologischen Kriegsführung könnte der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt seine Papiere am Tatort zurückgelassen lassen. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hält diese These für plausibel und warnt vor falschen Vorbildern.
Der Attentäter von Berlin hinterließ Duldungspapiere unter dem Sitz des LKW. Ob es seine eigenen oder die eines anderen waren, ob er es versehentlich oder absichtlich tat, darüber rätseln seitdem Öffentlichkeit wie Ermittler. Eine interessante These präsentierte nun der Psychologieprofessor Jan Kizilhan von der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen im ARD-Politikmagazin Report München.

Teil einer psychologischen Kriegsführung

Der am Tatort deponierte Ausweis sei keineswegs ein Fehler oder ein Versehen der Täter, sondern er zeuge von einer bewussten Strategie der Terroristen, die "Teil einer psychologischen Kriegsführung" sei. Im Lichte einer solchen Strategie würde sogar die aktuelle europaweite Fahndung nach einem Verdächtigen samt ständiger Präsentation von Bild und Namen den Terroristen in die Hände spielen, ihr Propaganda-Geschäft betreiben. Kizilhan sagte, es werde auf diese Weise versucht, in der islamistischen Szene einen "Heldenmythos" zu schaffen, die Behörden bloßzustellen und Vorurteile gegen Flüchtlinge und Zuwanderer aus muslimischen Ländern zu schüren.
Der Tod eines Täters könne - so Kizilhan, der vor kurzem das Buch "Die Psychologie des IS" veröffentlichte - auch bei der Familie, den Bekannten und Kameraden einen "tiefen Eindruck hinterlassen, sie vielleicht sogar dadurch an die Terrororganisation über den Bund des Blutes verbinden". Aus der Sicht des Täters wäre es eine Art Mahnung des "Märtyrers", wonach "die nachfolgenden Generationen motiviert am gleichen Kampf teilnehmen" sollten.

Signatur für die Tat

Der Wiener Kulturwissenschaftler Thomas Macho findet diese These einleuchtend. Er sagte im Deutschlandradio Kultur, es wirke so, als habe der Täter eine Art von Signatur für seine Tat zurückgelassen. "Man muss natürlich mit bedenken, dass diese Taten Öffentlichkeit brauchen und diese Öffentlichkeit muss auch ein Stück weit personalisiert erreicht werden." Dazu reichten Bekennerschreiben oder Webseiten nicht aus, sondern es sei hilfreicher, wenn eine konkrete Person mit ihrem Namen für die Tat stehe. "Die ikonographische und persönliche Präsenz ist außerordentlich wichtig für Vorbilder." Ob es sich um gute oder schlechte Vorbilder handele, hänge immer von den Zielgruppen ab, an die man sich richte.

Bedeutung von Vorbildern

Vorbilder ließen sich nur durch alternative Vorbilder ausbremsen, sagte Macho. "Jede Art von Bildungsarbeit, die diese Menschen erreichen kann, kann hier natürlich sehr hilfreich sein, weil sie eben solche "Vorbilder" durch andere Vorbilder ersetzen kann." Der Kulturwissenschaftler sagte, dass gerade in den Jahren von beginnender Pubertät bis in die Mittzwanziger Jahre und der Bedarf an Vorbildern sehr groß sei. Schon ein guter Lehrer könne deshalb ein Gegenvorbild sein, wenn es ihm gelinge mit Zuwendung und Aufmerksamkeit ein Verständnis für Geschichte und Gegenwart zu vermitteln. "Ein gutes Vorbild kann auch ein Streetworker sein." Auch Helden aus der Populärkultur könnten diese Rolle einnehmen.

Thomas Macho, Vorbilder, Wilhelm Fink Verlag, 41,90 Euro.

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