Gegen die kollektive Amnesie
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"Dekolonisiert Euch" ist das Thema des Jahres im Deutschlandradio. - Auch Bremen hat eine dunkle koloniale Vergangenheit. Aber dessen sei man sich in der Hansestadt bis heute zu wenig bewusst, kritisieren engagierte Bremer.
"‚Lausejunge‘ – vor 90 Jahren offenbar noch ein Schimpfwort." – Mit großem Engagement trägt Stadtführer Andreas Calic eine Debatte aus der bremischen Bürgerschaft aus dem Jahr 1931 vor. Hier ging es darum, ob den ehemaligen deutschen Kolonien in Bremen ein Denkmal errichtet werden sollte.
"In der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs, sprich in den 1920er-Jahren, gab es viele konservative Kräfte, die sich schon zuvor zusammengeschlossen hatten zur deutschen Kolonialgesellschaft - ein Verein, der schon in die 70er-, 80er-Jahre zurückgeht." Und die hätten dann in der Zeit der Weimarer Republik die Forderung gestellt: "Wir wollen die Kolonien zurück", erklärt Calic.
Man könne sich vorstellen: "Ein Politikum ersten Grades und auch komplett unrealistisch." Um das Ganze zu unterstützen, hätten sie auf jeden Fall schon mal Gedenkorte haben wollen, zum Beispiel hier in Bremen.
Und hier hat dieser Plan auch funktioniert. Bis heute steht unweit des Bremer Hauptbahnhofs ein zwölf Meter hoher Elefant aus Backstein, errichtet wurde er im Jahr 1931. Dass es solch eine solche Skulptur gerade in der Hansestadt gibt, ist nur auf den ersten Blick überraschend.
Schließlich gebe es viele Bezüge von Bremen zur deutschen Kolonialgeschichte, sagt Calic. "Schon Anfang, Mitte des 19. Jahrhunderts gab es viele Kaufleute aus Bremen, die gute Geschäfte gemacht haben, mit den verschiedenen Rohstoffen, den entsprechenden Waren, die aus den Ländern gekommen sind."
Prägender Protagonist der deutschen Kolonialzeit
Auch einer der prägenden Protagonisten der deutschen Kolonialzeit ist ein Bremer. "Und zwar Herr Adolf Lüderitz, der kam nämlich als erster auf den Gedanken, im heutigen Namibia ein Stück Land zu erwerben, um dort nicht nur Tabak anzubauen - er war nämlich in erster Linie Tabakhändler –, sondern auch auswanderwillige Deutsche hinzuschicken."
Beim Kauf des Landes allerdings betrügt Lüderitz den Namakapitän, dem er das Land abkauft. Kapitän (oder: Kaptain) ist ein Herrschertitel der Nama. So bekommt er ein sehr viel größeres Gebiet als vereinbart. Ein Verhalten, das ihm den Spitznamen "Lügenfritz" einbringt. Kurz nachdem das Land in seinem Besitz ist, bittet Lüderitz Reichskanzler Bismarck um Schutz für dieses Gebiet, was der aber zunächst ablehnt.
"Aufgrund dessen, dass aber insbesondere Frankreich und England ihre kolonialen Bestrebungen immer weiter ausgebaut haben, ist dann irgendwann auch Deutschland auf den Zug aufgesprungen", so Calic. Und so sei dann tatsächlich dieses privat erworbene Areal von Lüderitz unter deutschen Schutz gestellt worden. "Und damit ist das die erste deutsche Kolonie geworden - also Bremens Kaufmann hat in der Richtung das Ganze angestoßen."
Trotzdem ist der Bau des Elefanten von Anfang an umstritten. Als Ehrenmal für die im Ersten Weltkrieg in den Kolonien gefallenen Soldaten wird ihm dann schließlich doch zugestimmt.
Lesungen, Konzerte, Schauspiel am Elefanten
Das Gedenken an die Soldaten allerdings ist von außen nicht sichtbar, es findet sich vielmehr in einer Krypta unter dem Elefanten. Auf einer Art Steinaltar steht hier in Großbuchstaben: "Unseren Toten".
"Sonst haben wir Lesungen. Gedichte wurden hier schon vorgetragen, Konzerte, Schauspiel haben wir hier gehabt. Aufführungen von Klassen, von Schülern, waren hier schon drin, Diskussionen", zählt Gudrun Eickelberg die Veranstaltungen auf, die es, vor Corona, in der Krypta unter dem Elefanten gab.
Gudrun Eickelberg ist Mitglied im Verein "Der Elefant", eine Gemeinschaft, die das Denkmal bei der Stadt gepachtet hat, es pflegt und somit den Diskurs über das koloniale Erbe Bremens immer wieder anstoßen will.
Denn der Elefant ist seit bald 40 Jahren nicht mehr ein Kolonialdenkmal, sondern ein Antikolonialdenkmal, erzählt Eickelberg. "In den 1980er Jahren gab es überall in Deutschland Protestbewegungen gegen Südafrika, gegen die Apartheid-Regierung. Da gab es Städte gegen die Apartheid in Europa, und da war Bremen auch dabei."
Dadurch sei das Denkmal immer wieder in Zweifel gezogen worden, so Calic. Denn es habe immer noch "Reichskolonialehrenmal" geheißen. "Und dann hat man wohl in langen Diskussionen gesagt, es müsste was passieren, damit man das nicht vergisst, damit man ein Bewusstsein dafür bekommt, was damals passiert ist."
Beispiel für Umwidmung von Denkmälern
Ursprünglich stand auf dem Elefanten in großen Buchstaben "Unseren Kolonien" und auf der Rückseite waren Plaketten für Adolf Lüderitz und Paul von Lettow-Vorbeck angebracht, er war Kommandeur der sogenannten Schutztruppe Deutsch-Ostafrika. Diese Plaketten sind aber von den US-Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Was auch dazu führte, dass viele Bremer gar nicht wussten, wofür dieser Elefant hinter ihrem Bahnhof eigentlich steht.
Nun ist er seit mehr als 30 Jahren ein Antikolonialdenkmal und gilt an vielen Orten als ein gutes Beispiel dafür, wie man umstrittene Denkmäler umwidmen und kritisch mit ihnen umgehen kann. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Bremen noch viel aufzuarbeiten gäbe, sagt Eickelberg - auch wenn langsam ein anderes Bewusstsein für das Thema wachse:
"Durch diese Geschichten mit ‚Black Lives Matter‘, da ist auch nochmal bisschen Bewegung reingekommen. Da ist dieser Begriff Rassismus auch nochmal ins Spiel gekommen - den wir ja auch gerne verwenden und sagen, ´Kolonialismus ist Rassismus und der heutige Rassismus stammt auch aus der Kolonialzeit`."
Gewalt als Attraktion
Der Elefant ist vielleicht die auffälligste Spur von Bremens kolonialer Vergangenheit in der Stadt, aber bei Weitem nicht die einzige. "Das ist sind alles nur Gegenwartsbilder. Das einzige historische: 1865 Gründung, Pflege und erhalt dieses einzigartigen Gartendenkmals."
Cordula Weißköppel und Martina Grimmig stehen vor dem sogenannten "Waldschlösschen" im Bürgerpark Bremen. Die beiden sind Ethnologinnen an der Universität Bremen und Expertinnen für Bremens Kolonialgeschichte. Der Bürgerpark ist eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der Bremer überhaupt, er gehört zur DNA der Stadt wie die Bremer Stadtmusikanten.
"Exotisches Spektakel"
Das Waldschlösschen wurde 1890 im Zuge der "Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung" als Ausstellungspavillon gebaut. Die Ausstellung sei wie eine kleine Weltausstellung gewesen, sagt Martina Grimmig. 70 Gebäude wurden dafür im Bürgerpark errichtet.
"Es gab Hallen für Tabak, für Baumwolle, für Reis. Die ganzen Produkte, mit denen gehandelt wurde, die wurden da in allen Facetten dargestellt. Und es gab auch tatsächlich Leute aus den Handelsgebieten, die hergekommen sind, Elefanten, also es war tatsächlich auch ein exotisches Spektakel."
Das Waldschlösschen ist der letzte Pavillon, der von dieser Ausstellung übriggeblieben ist, nichts weist auf seinen Ursprung hin. Auch nichts auf die Schattenseiten einer solchen Ausstellung, sagt Cordula Weißköppel.
Denn: "Hier wurde also auch die gewaltvolle Kontaktgeschichte zwischen Gesellschaften Europas und Gesellschaften in Übersee annähernd mal abgebildet. Aber damals eben als Attraktion fürs Publikum."
Kollektive Verdrängung der Gewaltgeschichte
Und heute sei diese Ausstellung ein Beleg dafür, welch wichtiger Player Bremen in der Kolonialzeit war:"Vergleichbar mit London, Paris, Hamburg, Berlin – also mit den Metropolen der Kolonialisten." So hat Bremen es in der Kolonialzeit auch zu enormen Reichtümern gebracht.
"Die Stadtwerdung von Bremen, die Entstehung des Bürgertums, Ausbau des Hafens - alles was Bremen heute ausmacht", sagt Weißköppel. Das falle zusammen mit der Hochphase des Kolonialismus, "nicht im Sinne von spanischem Kolonialismus, englischem, sondern wirklich mit diesem imperialen Kolonialismus von 1880 bis 1914, dann muss Deutschland ja seine Kolonien abtreten".
In Bremen allerdings sei das Bewusstsein für die Gewaltgeschichte, die dahintersteht, nicht groß.
Cordula Weißköppel spricht von einer kollektiven Amnesie: "Das eben dieser Anteil der Gewaltgeschichte verdrängt wird, nicht wahrgehabt werden will. Und das ist genau das Dilemma in dem auch unsere Forschungen stattfinden, weil wir immer wieder an solche Blockaden geraten, in Deutschland noch besonders überlagert durch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus."
Das Thema ploppt immer wieder auf
Trotzdem findet das Thema auch in Bremen immer wieder in den öffentlichen Diskurs, etwa durch die Arbeit des Überseemuseums, das sich explizit mit der Kolonialgeschichte auseinandersetzt.
Auch die Bremer Kunsthalle hat sich damit vor einigen Jahren in einer Ausstellung befasst. Das Thema ploppt auch auf, wenn Streit über die Umbenennung von Straßennamen entbrennt. Im Bremer Stadtteil Schwachhausen zum Beispiel gibt es eine Lüderitzstraße: "Erst Anfang dieses Jahres ist das Straßenschild von Lüderitz mal wieder verschwunden", erzählt Stadtführer Andreas Calic.
In Schwachhausen hat man vor zwei Jahren dazu entschieden, einen Zusatz direkt unter dem Straßenschild anzubringen. Und der fällt sehr deutlich aus, findet Andreas Calic und liest den Schriftzug vor:
"Adolf Lüderitz, 1834 bis 1886, Bremer Kaufmann, legte mit betrügerischem Landerwerb und geschäftlichen Unternehmungen im heutigen Namibia die Grundlage für die spätere gewalttätige Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwest Afrika von 1887 bis 1915."
Es gäbe allerdings noch einige andere Straßen, die man auch kritisch betrachten könne, sagt Calic. Er wie auch Gudrun Eickelberg, Cordula Weissköppel und Martina Grimmig finden, dass die Aufklärung über Bremens koloniales Erbe gerade erst angefangen hat.