Zwischen Multikulti-Pott und sozialer Misere
Der Stadtteil Duisburg-Marxloh hat immer wieder für negative Schlagzeugen gesorgt: kriminelle Clans, Armut, misslungene Integration - manchen gilt er als "No-go-Area". Die Menschen dort wollen sich mit der Situation nicht abfinden. Aber wie gegensteuern?
Schönes, hässliches Marxloh. Knapp 20.000 der insgesamt rund 500.000 Duisburger leben hier im Norden der Stadt. Für manche ist der Stadtteil ein bunter Multikulti-Pott, für andere Mahnmal misslungener Integration. Und die Gewerkschaft der Polizei sah zeitweise sogar die Gefahr, dass sich der Brennpunkt zu einer No-go-Area entwickelt. Wie ist die Situation tatsächlich? Eine Spurensuche.
"Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht! So machen wir den alten Tanz jetzt einmal."
Eine Tanzstunde abseits der Marxloher Hauptstraße. Hier hat der Runde Tisch seine Räumlichkeiten. Ursprünglich eine Bürgergemeinschaft, die das Problemviertel nach vorne bringen will. Seit einiger Zeit bietet sie auch soziale Dienste an und verdient damit Geld. Von der Stadt gibt es nur einen kleinen Zuschuss, sagen die Verantwortlichen beim Runden Tisch. Heute findet hier ein Dance-Projekt für Kinder statt. Ihr Lehrer und Vortänzer ist Charly. Ein sportlicher, sympathischer Marokkaner, der als Kind nach Duisburg kam. Der 45-jährige Profitänzer wuchs in einem anderen Duisburger Brennpunkt auf. Ohne diese Glaubwürdigkeit würde er den Jungs und Mädchen hier gar nicht gegenübertreten.
"Und deswegen weiß ich, wie man mit diesen Leuten umgehen muss und reden muss. Und da bringt auch kein Studium was. Du musst erstmal Erfahrungen haben, dass du selbst schon einmal in der Lage warst. Dann kannst du erstmal überhaupt mitreden. Jemand, der alles bekommen hat in seinem Leben, der keine Probleme hatte – kannste nicht vergleichen mit jemandem, der von armen Verhältnissen kommt oder sozial armen Verhältnissen. Den kannste nicht vergleichen, das ist ein großer Unterschied."
Die Kinder, die heute bei Charly mitmachen sind sechs bis 14 Jahre alt. Etwa ein Dutzend sind es, darunter viele mit türkischen Wurzeln und auch einige Deutsche. Bedrückend groß ist bei manchen von ihnen schon das Problembewusstsein. So wie bei Talia. Sie ist zehn Jahre alt. Ihre Eltern kommen aus der Türkei und aus Griechenland.
Talia: "Ich finde es richtig gut, dass es solche Aktionen hier in Marxloh gibt. Manche denken ja immer so schlechte Sachen über Marxloh, nur weil hier an jeder Ecke Müll rumliegt überall. Deswegen…"
Duisburg-Marxloh ist keine Plattenbausiedlung, ganz im Gegenteil. Mit etwas Fantasie kann man an der sehr beliebten und belebten Einkaufsstraße mit ihren schmucken verzierten Altbauten noch den Reichtum erkennen, den Kohle und Stahl bis vor wenigen Jahrzehnten gebracht haben. Ab und zu unterbricht die Straßenbahn das meist türkische Stimmengewirr auf dem Bürgersteig. In der Luft vermischen sich die Gerüche der orientalischen Holzkohlerestaurants mit denen vom frischen Gemüse der Händler. Unzählige Schaufenster zeigen, was Marxloh ein bisschen berühmt gemacht hat: Brautkleider in allen Variationen. Mal klassisch weiß, mal kitschig bonbonfarben. Brautmodenmeile nennen die Straße nicht nur die Duisburger. Auch aus dem Ausland kommen Kunden. Allerdings immer weniger, meint der türkischstämmige Kenan. Er ist 25 Jahre alt und arbeitet hier in einem Fotostudio.
"Man muss das immer so ein bisschen von der Perspektive von den Kunden mal sehen. Die kommen von verschiedenen Stadtteilen, teilweise aus dem Ausland und dann sehen die hier sehr viele Polizisten. Einerseits ist das gut, andererseits würden sie sich denken. Wieso so viele auf einmal? Dann würden die sich auch denken. Hier ist irgendeine Unruhe. Hier stimmt etwas nicht."
Mehr Polizei bringt nicht die Lösung
Was in Marxloh nicht stimmt, kann man in einem internen Polizeibericht von 2015 lesen. Darin ist zum Beispiel die Rede von libanesischstämmigen Großfamilien, die die Polizei als Autorität nicht anerkennen. Hinzu kommen Gruppen mit Beziehungen zu Rockerclubs, heißt es in dem Bericht weiter. Immer wieder gab es zudem Meldungen über brenzlige Situationen für Polizisten, weil sie selbst bei Routineeinsätzen plötzlich vor aufgebrachten Menschenmengen standen. Seit Sommer 2015 verstärken Bereitschaftspolizisten ihre Kollegen im Duisburger Norden. Mit Erfolg – erklärt die Duisburger Polizeipräsidentin Elke Bartels:
"Wir haben eine Null-Toleranz-Grenze gefahren, wie wir das immer nennen. Das ist richtig so. Wir haben sehr, sehr viele Ordnungsgelder, Verwarngelder - über 9000 - in der Zeit verhängt. In einem Jahr. Insgesamt haben wir über 400 Strafanzeigen getätigt. Körperverletzung, Einbruch, Diebstähle, Raub und dergleichen."
Die Kriminalität vermischt sich mit einer Armutszuwanderung, vor allem von Menschen aus Südosteuropa. Ergebnis: Viele Polizeieinsätze wegen Ruhestörung und anderer Ordnungswidrigkeiten. Rein statistisch gesehen ist es in Marxloh noch nicht einmal gefährlicher als in der Duisburger Innenstadt. Aber der Mix an Problemen lässt das Sicherheitsgefühl der Menschen sinken. Probleme, die allein mit mehr Polizisten nicht zu lösen sind. Das ist auch Polizeipräsidentin Bartels klar.
"Die Polizei ist nur am Ende dieser Strecke zu sehen. Polizei muss erst dann einschreiten, wenn vorher alle Schwierigkeiten schon aufgetaucht sind. Wenn die nicht aus den Weg geräumt werden konnten, wenn die Erziehung nicht funktioniert hat, keine Ausbildung da ist und die Kinder im Prinzip schon auf eine schlimme Bahn gekommen sind, nämlich vom rechten Weg ab. Dann erst kommt die Polizei zum Tragen."
Man muss nur einmal kurz abbiegen von der belebten Hauptstraße um zu spüren, dass allein mehr Polizei die Lösung nicht bringen wird. In einer Nebenstraße wohnen fast ausschließlich sehr arme Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien, darunter viele Roma. Altbauten gibt es hier kaum noch. Eher graue nach dem Krieg hastig errichtete Mehrfamilienhäuser.
Es sieht trostlos aus. An den verwitterten Fassaden fehlen Fenster, Klingeln sind herausgerissen, in den Büschen liegt Müll. Viele Kinder spielen auf der Straße und wirken verwahrlost. Sie sind dünn, auffällig viele haben einen Hautausschlag im Gesicht. Manche spielen im Schlafanzug, andere in viel zu großen Klamotten. Hans-Joachim Meyer ist 70 Jahre alt und wohnt seit rund 30 Jahren ganz in der Nähe.
"Ja das macht mich traurig. Von meiner Jugend… - als ich hier großgeworden bin, gab es noch Kinos, jede Menge Kinos, Tanzlokale, Kneipen. Und jetzt ist der Niedergang ja offensichtlich. Gucken Sie sich doch um. Da der Müll, da der Dreck."
Meyer ist kein Hardliner, aber auf die Frage, welche Partei er wählt, will er nicht antworten. Er weicht aus und schweigt.
Arbeitslosenquote liegt bei 15,2 Prozent
15 Autominuten entfernt über die A59 an den Ruhrorter Häfen vorbei liegt die Duisburger Innenstadt. Ganz in der Nähe des Rathauses blättert Michael Kanther in seinen Aufzeichnungen. Der Stadtarchivar hat sich gut vorbereitet, ihm liegt Marxloh am Herzen – er ist dort aufgewachsen. Der 56-Jährige zeigt ein verblichenes Farbfoto der Marxloher Kaiser-Wilhelm-Straße von 1976. Sie kreuzt die heutige Brautmodenmeile und war früher offenbar ähnlich belebt. Dicht an dicht sind auf dem Foto Uhrmacherläden zu sehen, Schuhgeschäfte, Boutiquen.
"Noch bis in die 80er-Jahre hatten wir auf den beiden Hauptverkehrsstraßen eine Kumulation von mehr als 200 Fachgeschäften. Kein einziger Leerstand. Und was da heute ist… Die Weseler Straße ist ja kommerziell noch relativ erfolgreich. Die andere Hauptverkehrsstraße ist eigentlich … (er zögert) … Notstandsgebiet."
Von der blühenden Prachtmeile zum Notstandsgebiet. Außer auf der rund 500 Meter langen Weseler Straße mit den Brautmodenläden dominieren heute in Marxloh leere Ladenlokale oder Billiggeschäfte. Der Niedergang begann mit dem Strukturwandel. Ende der 1970er-Jahre endete nach mehr als 100 Jahren erst die Kohleförderung im Duisburger Norden – dann folgten mehrere Stahlkrisen – erzählt Stadtarchivar Kanther.
"Es wurden also sehr viele Arbeitsplätze auch bei abgebaut. Und das hat einen großen Teil des Duisburger Nordens in Mitleidenschaft gezogen. Und die Arbeitslosenquote ist dann von Jahr zu Jahr, zunächst nur langsam, aber dann immer stärker, angestiegen."
Allein im benachbarten Thyssenwerk sind laut Betriebsrat in den vergangenen 25 Jahren rund 6000 von ehemals knapp 20.000 Jobs gestrichen worden. Andere Stahlstandorte in Duisburg machten ganz dicht. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote in Marxloh bei 15,2 Prozent. Also doppelt so hoch wie in Gesamt-NRW. Knapp die Hälfte der Marxloher ist von Sozialleistungen abhängig. Fast jeder zweite Einwohner hat einen ausländischen Pass. Die türkischstämmigen Gastarbeiter und deren Kinder und Enkel bestimmen immer noch das Stadtbild. Doch es leben mittlerweile Menschen aus mehr als 90 Kulturen hier.
Um deren Eingliederung in die Gesellschaft kümmern sich unter anderem Mitarbeiter der Abteilung Integration der Arbeiterwohlfahrt. Sie vermitteln Deutschkurse, helfen bei Behördengängen und stellen Dolmetscher. Der zuständige Geschäftsführer Karl-August Schwarthans hat allerdings kaum noch Illusionen. Wenn die Duisburger Stadtspitze regelmäßig behaupte, die Ruhrgebietsstadt könne Integration, sei das falsch.
"Wenn man einfach alleine den Indikator nimmt, Beteiligung von Migranten an der Langzeitarbeitslosigkeit, dann wird man feststellen, dass Migranten überproportional bei den Langzeitarbeitslosen vertreten sind. Ist Arbeit der Indikator von Integration, wie er immer genannt wird, dann muss man einfach sagen, kann Duisburg nicht Integration."
Fragt man nach, was denn getan werden müsste, überspielt Schwarthans ein bisschen seine eigene Ratlosigkeit. Die Stadtverwaltung müsste das Ausmaß der Armut erkennen, sagt er dann. Es müssten mehr Qualifizierungsmaßnahmen angeboten werden. Allerdings: Nach der EU-Ost-Erweiterung 2007 und seit Beginn der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren 2014 sind mehr als 5000 Menschen aus diesen beiden Ländern allein nach Marxloh gekommen. Sie machen jetzt mehr als ein Viertel der Bevölkerung hier aus. Facharbeiter sind kaum dabei, es kamen mehrheitlich die Ärmsten der Armen. Wie soll Integration da funktionieren?
Zig Millionen Euro Fördergelder sind geflossen
Das fragt sich auch der Duisburger SPD-Oberbürgermeister Sören Link in seinem Büro im Rathaus.
"In der Regel bildungsfern, ganz viele Analphabeten. Nicht berufstätig. Viele, viele Kinder. Das bringt Herausforderungen. Denen stellen wir uns. Aber wir stellen eben auch fest, dass diese Zuwanderung Probleme mit sich gebracht hat, die wir so nicht kannten. Wir sind sozusagen ein Stück weit Leidtragende einer verfehlten EU-Erweiterungspolitik."
Der Oberbürgermeister sagt manchmal, er wolle sich Marxloh nicht kaputt reden lassen. Vergangenes Jahr hat Sören Link die Stimmung allerdings selbst aufgeheizt. Auf einer SPD-Tagung rutschte ihm heraus, er hätte gerne das Doppelte an Syrern, wenn er dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte. Er habe nicht die richtigen Worte gefunden, entschuldigte er sich später. Das ist das Problem von Sören Link. Er muss versuchen, Marxloh nicht schlecht zu reden und trotzdem so laut zu poltern, dass mehr Hilfsgelder nach Duisburg fließen.
"Wenn es darum geht, Personal einzustellen für Spracherwerb, wenn es darum geht, Sozialarbeiter einzustellen, wenn es darum geht, die Schulen auszustatten, um die Kinder schnell zu integrieren; wenn es um Berufsbildungsangebote geht für die älteren Menschen: Dann bleibt die Hilfe von Brüssel vor allen Dingen, aber auch aus Berlin immer wieder aus."
Fakt ist: Duisburg ist zwar eine hochverschuldete Kommune, aber seit Mitte der 80er-Jahre sind zig Millionen Euro Fördergelder nach Marxloh geflossen. Damit wurden zum Beispiel Fassaden saniert, Jugendzentren gestärkt und ein türkischer Unternehmerverband unterstützt. Trotzdem entstand eine Situation, die Armutszuwanderung erst möglich machte. Denn wer konnte, verließ trotz der Fördermaßnahmen den sozialen Brennpunkt. Es blieben leere, teils schrottreife Wohnungen - die nun von den großen Zuwandererfamilien gemietet werden. Bezahlt wird oft mit dem dafür zweckentfremdeten Kindergeld.
Etwa zwei Fußminuten von der Brautmodenmeile in der Weseler Straße entfernt bieten Ärzte und andere Helfer in einem katholischen Gemeindezentrum eine medizinische Gratissprechstunde für Menschen mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus an. Vor allem Rumänen und Bulgaren nutzen das Angebot. Seit gut zwei Jahren geht das schon so. Die Stadt Duisburg hat lange zögernd zugeguckt und dann einen grauweißen Baucontainer gespendet, der nun als Wartezimmer dient. Mittlerweile unterstützt das Gesundheitsamt die Ehrenamtler wenigstens beim Impfen. Auch die Kinderkrankenschwester Sylvia Brennemann hilft bei der kostenlosen Sprechstunde.
"Wir haben ein Ultraschallgerät bei Ebay ersteigert. Ein EKG bei Ebay ersteigert. Wenn Praxen aufgelöst werden, dann verkaufen die Ärzte das bei Ebay und da kann man günstig drankommen. Und daher haben wir auch unsere Geräte."
Die Schlagzeilen über Marxloh kann Sylvia Brennemann nicht mehr hören. Die 46-Jährige lebt gerne hier. Sie ist bei der Linkspartei engagiert und hält Kontakt zu vielen gesellschaftlichen Gruppen. Rumänen, Bulgaren, Libanesen und Türken sowieso. Berichte über angebliche No-go-Areas im Stadtviertel hält sie für maßlos übertrieben. Aber das Elend hier beschäftigt sie sehr.
"Ich bin nahezu entsetzt. Also so eine Dimension von Armut. Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass es hier eine große Gruppe von Menschen gibt, die keinen Anspruch auf existentielle Leistungen oder Krankenversicherung haben, das hätte ich nicht geglaubt! Also es ist schon sehr, sehr krass, mit welchen Bildern wir hier konfrontiert werden."
Vor einigen Monaten hat das Land NRW eine Clearingstelle in Duisburg eingerichtet. Sie soll den Zuwanderern helfen, einen Krankenversicherungsschutz zu bekommen.
Freitagmittag. Wo früher eine Bergwerkskantine stand, öffnet jetzt eine der größten Moscheen Deutschlands ihre Türen zum Freitagsgebet. Rund 1000 Gläubige kommen jede Woche, viele reisen mit dem Auto auch aus dem Umland an. 2008 wurde die Eröffnung des riesigen Baus mit seinen prächtigen grau-silbernen Kuppeln und dem 34 Meter hohen Minarett als Wunder von Marxloh gefeiert. Denn es gab so gut wie keinen Protest in der Bevölkerung. Außerdem versprach die größtenteils türkischstämmige Gemeinde Transparenz und Offenheit. Momentan ist es damit aber nicht mehr weit her. Journalisten, die Besucher oder Würdenträger der Ditib-Moschee zur Situation in der Türkei befragen wollen, dürfen dafür noch nicht einmal den Parkplatz des Hauses betreten. Man habe doch mit Politik nichts zu tun, heißt es zur Begründung. Ein Türke, der gerade zum Freitagsgebet gehen will, spricht aus – was viele seiner Landsleute in Marxloh denken.
"Ich frag' mich grundsätzlich auch, warum sich Deutschland für Türkeipolitik so interessiert. Das wird jeden Tag thematisiert. Und da wird auch eine Stimmungsmache gegen Türkei gemacht. Ich denke, es gibt hier keine objektive Berichterstattung."
Bis zu 3000 Menschen demonstrierten in Marxloh nach dem Putschversuch in der Türkei für den Staatspräsidenten Erdogan. Die Demos begannen und endeten an der großen Moschee. Bedrückend ist, dass in dem multikulturellen Stadtviertel kein Diskurs über die Situation in der Türkei stattfindet. Selbst Marxloher, die sonst immer was zu sagen haben, schweigen oder wollen nicht zitiert werden. Sie kritisieren nur in Hintergrundgesprächen, dass der türkische Nationalismus in Marxloh spürbar gewachsen sei.
Die Situation wirkt fremd und bedrohlich
Ein paar Stunden nach dem Freitagsgebet. Es wird Abend in Marxloh. Wie bestellt, knattern ein paar Hells Angels auf ihren fetten Motorrädern vorbei an den schon geschlossenen Brautmodenläden. Der türkischstämmige Muhammed Öztemür schaut sich die Orte seiner Kindheit an. 21 Jahre alt ist er. Ein rundlicher Typ, mit so überhaupt nicht türkisch wirkenden rötlichen Haaren.
"Hier um die Ecke hat halt meine Oma gewohnt. Wo wir immer mit den ganzen Kiddies aus dem Hof an der Trinkhalle unser Baguette und einen Durstlöscher geholt haben. Für 1,50 Euro, das war halt der Hammer. Baguette und Durstlöscher. Dann saßen wir immer im Park, gingen auf den Schulhof, haben Fußball gezockt."
Muhammed läuft weiter bis zur Nebenstraße, in der er bis vor kurzem gewohnt hat. Hier riecht es nicht nach Holzkohlerestaurants wie auf der Hauptstraße, sondern nach vermoderten Hauseingängen. An einer kleinen Kreuzung stehen auf dem Bürgersteig und auf der Straße vielleicht 30, 40 Südosteuropäer. Vorbeifahrenden Autos wird nur zögernd ausgewichen. Die Situation wirkt fremd und auch ein bisschen bedrohlich. Ein paar Meter weiter fehlt auf einem Spielplatz der Verbindungstunnel an einem Kletterteil. Damit die Kinder weich fallen, hat irgendjemand alte Matratzen auf den sandigen Boden gelegt. Diesen Spielplatz hat Muhammed in seiner Kindheit mitgestaltet.
"Wir waren sogar als Kinder noch dabei, als das alles gemalt wurde. Wir haben unsere Handabdrücke… - da mitgeholfen, Spiegel angebracht. Das hat natürlich Spaß gemacht. Damals mit den Kindergartenkindern und dem Jugendzentrum das zu machen. Das war 'n Highlight, in der Kindheit. Und jetzt ist das 'ne Baustelle…"
Es wäre untertrieben, zu sagen, dass die Neubürger aus Südosteuropa anecken. Es brodelt in Marxloh. Doch natürlich gilt auch hier: Es gibt sie nicht, die Rumänen oder die Bulgaren. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. So wie Fanka Chotova-Slieva. Jahrelang hat sie in Spanien auf Gemüsefeldern gearbeitet und ihrer Familie in Bulgarien Geld geschickt. Dann fand ihr Mann in Duisburg einen kleinen Job. Zusätzlich zahlt ihm der Staat Sozialleistungen über Hartz IV. Jetzt lebt die ganze Familie in Marxloh. Fanka kümmert sich um die Kinder. Die 35-Jährige bekommt natürlich mit, dass über ihre Landsleute schlecht gesprochen wird.
"Das ist ein Thema in meiner Familie, ja, darüber reden wir oft. Aber nicht nur Bulgaren und Rumänen machen diesen Müll. Auch Deutsche oder Araber. Natürlich fühle ich mich davon betroffen, weil wir dieses Urteil spüren: Ah, wenn das Bulgaren sind, dann kommt der Müll von ihnen."
In Spanien seien die Menschen freundlicher gewesen, erzählt Fanka. Man sieht ihrem Gesicht die jahrelange harte Arbeit an. Auf die Frage, ob sie ihre Heimat Bulgarien vermisse, bricht sie in Tränen aus.
Pflaster und Generationenpfad als Gegenmaßnahmen
Mit Einzelschicksalen muss man Joachim Meyer nicht mehr kommen. Der 70-Jährige, tadellos gekleidet, vermisst die Ordnung, die deutschen Kneipen und die Tanzlokale. Bis zu seiner Rente hat er im benachbarten Grillowerk als Maschinenbautechniker gearbeitet. Sein Eigenheim steht ganz in der Nähe des Firmengeländes. Ein paar hundert Meter weiter wurde kürzlich eine 91-Jährige zum dritten Mal überfallen. Meyer und seine Frau fühlen sich fremd im eigenen Stadtteil.
"Ja natürlich, abends ab 19 Uhr würde meine Frau hier nicht mehr durchgehen alleine. Ja meine Frau würde natürlich gerne wegziehen. Ist jetzt schwer, ne? Das Haus ist nichts mehr wert. Da kriegen sie nichts mehr für, ne?!"
Zurück beim Tanzkurs vom Runden Tisch Marxloh. Perfekt sieht die Choreografie noch nicht aus. Mal kommt es zu ungewollten Zusammenstößen, mal wirft ein Kind die Arme in die falsche Richtung. Aber das macht nichts. Es geht um etwas anderes, sagt Charly – der engagierte Tanzlehrer aus Marokko.
"Anerkennung. Ganz klein. Ganz kurzes Wort. Die brauchen hier Anerkennung. Dann ziehen die auch mit. Und wenn du die behandelst, wie die anderen Leute die auch behandeln, das heißt, die reden viel über Marxloh. Dann fühlt man sich angegriffen. Auch wenn man nicht speziell denjenigen anspricht."
Die Kinder von Marxloh haben Träume und Pläne. Manche wollen Dressurreiter werden, andere Schauspieler in Science-Fiction-Filmen. Die zehnjährige Anjelina ist eines von wenigen deutschstämmigen Kindern beim Tanzkurs und wünscht sich im Moment:
"Dass man ohne Angst zu haben rausgehen kann. Alleine! Und… mehr Wasserspielplätze in der Nähe. Sonst muss man immer so weit fahren oder so."
Im Garten des Runden Tisches hat es sich Thomas Terschüren auf einer Holzbank gemütlich gemacht. Der 54-Jährige engagiert sich ehrenamtlich bei der Initiative. Auf die Frage, ob er glaubt, dass es dem schönen, hässlichen Marxloh eines Tages besser gehen wird, holt er tief Luft.
"In dieser Situation sind, glaube ich, fast alle überfordert. Keiner weiß so richtig, was man machen kann, was man machen sollte. Die Situation ist durch die Gemengelage natürlich brisant. Aber – wenn ich die Hoffnung nicht hätte, dann würd' ich hier im Stadtteil nicht arbeiten."
Der Rat der Stadt Duisburg hat vor gut einem Jahr ein - so wörtlich - "Integriertes Handlungskonzept Marxloh" mit elf Maßnahmen für den Stadtteil verabschiedet. Eine davon wurde bereits umgesetzt: Die Anlage eines gepflasterten Platzes auf dem Gelände einer abgerissenen Kirche. Einige der anderen Vorhaben erscheinen angesichts der schreienden Armut im Stadtviertel genauso wenig überzeugend. So sollen ein Outdoor-Fitnesspark und ein Generationenpfad entstehen. Immerhin: Auch eine Arbeitsmarktoffensive und die Stärkung des Bildungsstandortes Marxloh sind Thema in dem offiziellen Konzept. Allerdings muss für eines der geplanten Projekte erst noch eine Machbarkeitsstudie erstellt werden. Das 75 Seiten umfassende Papier endet mit einer etwas umständlich formulierten, aber dafür fett gedruckten Erkenntnis. Übersetzt aus dem Behördendeutsch steht dort: Wenn Marxloh weiterhin noch mehr Einwanderer integrieren muss, wird der Duisburger Stadtteil noch lange Unterstützung brauchen.