"Diese Stadt gehört niemandem"
Einst deutsch, heute polnisch und ehemals eines der wichtigsten jüdischen Zentren Europas: Breslau ist die einzig wahre europäische Stadt, findet die junge polnische Literatin Agnieszka Kłos. Ein literarischer Streifzug.
Eilig hat sie es nicht. Bevor Agnieszka Kłos uns ihre Literaturstadt zeigen möchte, gießt sie sich schwarzen Tee ein. Wir sitzen im Café Mleczarnia, Café Molkerei. Knarrender Dielenboden, Häkeldeckchen auf den Tischen, getrunken wird aus alten Porzellantassen mit Blümchenmustern.
Kłos: "Als Studentin habe ich häufig in Gästezimmern bei älteren Damen gewohnt und dort ständig deutsche Gegenstände entdeckt und seitdem gesammelt – bis heute ein Phänomen für mich. In meiner Küchenschublade findet sich polnisches Besteck aus Galizien, der heutigen Ukraine. Oder deutsche Messerschärfer. Und meine Blumen gieße ich mit einer alten deutschen Kanne aus Metall."
Kłos: "Als Studentin habe ich häufig in Gästezimmern bei älteren Damen gewohnt und dort ständig deutsche Gegenstände entdeckt und seitdem gesammelt – bis heute ein Phänomen für mich. In meiner Küchenschublade findet sich polnisches Besteck aus Galizien, der heutigen Ukraine. Oder deutsche Messerschärfer. Und meine Blumen gieße ich mit einer alten deutschen Kanne aus Metall."
Austausch einer Großstadtbevölkerung
Die zurückgelassenen Gegenstände erinnern an das Unvorstellbare: den Austausch einer Großstadtbevölkerung. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlor Deutschland seine Ostgebiete, Schlesien, Preußen und Hinterpommern. Polen wiederum musste Flächen an die Sowjetunion abtreten. In die Wohnungen der vertriebenen Deutschen, zogen darum vertriebene Polen ein, fanden zurückgelassene Möbel, suchten nach eigenen Wurzeln in der Stadt des Feindes. Agnieszka Kłos streicht über die geblümte Untertasse. Diese Brüche sagt sie, mache die Literatur aus Breslau aus.
Kłos: "Diese Stadt gehört niemanden. Breslau ist nicht ausschließlich mit nur einer Nation oder einer Kultur verbunden. Im Gegenteil. Und genau das finde ich so besonders, ich fühle mich hier sozusagen in Europa."
Kaum jemand habe das so gut auf den Punkt gebracht wie Olga Tokarczuk, meint Agnieszka Kłos. Sie ist eine der ersten Autorinnen, die sich der Suche nach Identität jenseits der deutsch-polnischen Vertreibung näherte. Ihre preisgekrönten Romane haben keinen Ort, den Kłos uns zeigen könnte – sie sind ein Gefühl. Wie eben eine Tasse Tee im Café Mleczarnia.
Eines der wichtigsten jüdischen Zentren Europas
Direkt hinter dem Café stoßen wir auf einen kleinen Platz mit einem frisch restaurierten, klassizistischen Gebäude.
Kłos: "Als ich fürs Studium nach Breslau gekommen bin, war dieser Platz hier schrecklich verwahrlost. Ich hatte immer Angst, überfallen zu werden. Eine sehr gefährliche Ecke."
Kłos: "Als ich fürs Studium nach Breslau gekommen bin, war dieser Platz hier schrecklich verwahrlost. Ich hatte immer Angst, überfallen zu werden. Eine sehr gefährliche Ecke."
Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Schmuckstück ist die Synagoge "Zum weißen Storch". Vor dem Zweiten Weltkrieg war Breslau eines der wichtigsten jüdischen Zentren Europas. Das nahezu erloschene jüdische Leben ist Kłos literarisches Thema. Gerade hat sie ihr zweites Buch veröffentlicht: "Spiele in Birkenau". Darin sucht auch sie nach Identität und Zugehörigkeit, nach Antworten auf das, was heute ist.
Ein paar Gässchen weiter trifft Agnieszka Kłos auf das Herzstück Breslaus, den Marktplatz. Sie läuft an den wackelnden Spielzeughunden der Straßenhändler vorbei. An Pferdekutschen für zahlungswillige Touristen. Und an einem als Gabel verkleideten Jungen, der Passanten Flyer für ein Schnellrestaurant in die Hand drückt.
Kłos: "Wir sind jetzt in so einer Popkultur angekommen. Das ist eher eine Marketing-Bewegung. Dadurch wird die Historie trivialisiert. Wie eine Anekdote, die man sich erzählt. Das kratzt aber nur an der Oberfläche."
Gerhart Hauptmann ging in Breslau zur Schule
Auch die Veranstaltungen des Europäischen Kulturhauptstadtjahres interessieren Kłos nicht so sehr. Für die neuen Kulturtouristen reiche das – ja, aber wer tiefer in die Geschichte Breslaus eintauchen will, der sollte lesen.
An der Längsseite des gotischen Rathauses führt uns die Breslauerin in den legendären "Schweidnitzer Keller". Obwohl ein Touristenmagnet ist Kłos stolz auf das Restaurant aus dem 13. Jahrhundert. Auf einer Tafel neben dem Eingang sind frühere Gäste eingraviert: Gerhart Hauptmann, der in Breslau zur Schule ging, Joseph von Eichendorff und Johann Wolfgang von Goethe.
Ruhig und idyllisch liegt hingegen das Ossolineum, Agnieszka Kłos Zufluchtsort. Auch diese Bibliothek ist eine Geflohene, als einst wichtigste polnische Bibliothek in Lemberg, heute Ukraine, wurde sie gemeinsam mit den Vertriebenen ins 600 Kilometer entfernte Breslau verfrachtet. Es kamen deutsche Bücher der zurückgelassenen Privatbibliotheken hinzu, heute darum der größte deutsche Barockbestand außerhalb des deutschsprachigen Sprachraumes. Kłos führt uns über die vielbefahrene Straße ans Oderufer.
Kłos: "Hier war überall Wasser!"
"Wir haben für unsere Stadt gekämpft"
1997 traf die Oder-Flut Breslau schwer. Ganze Stadtteile standen damals unter Wasser. Die Schriftstellerin gehörte zu den vielen ehrenamtlichen Helfern, die Sandsäcke auffüllten:
Kłos: "Wir waren alle pausenlos im Einsatz. Ein sehr wichtiger Moment für uns. Wir, die neuen Bewohner Breslaus, haben erstmals für unsere Stadt gekämpft.
Kłos: "Wir waren alle pausenlos im Einsatz. Ein sehr wichtiger Moment für uns. Wir, die neuen Bewohner Breslaus, haben erstmals für unsere Stadt gekämpft.
An diesem Nachmittag treiben nur ein paar Enten flussabwärts. Agnieszka Kłos muss jetzt zu einem Vortrag; eines will sie uns aber noch zeigen: das Denkmal einer Frau, die auf dem Kopf mehrere Bücher trägt.
Kłos: "Als der Pegel stieg, trugen wir Helfer die Bücher auf dem Kopf aus der Bibliothek durchs Wasser – so wie die Frauenfigur hier."
Der deutsch-polnische Bücherschatz wurde gerettet, als selbstverständlicher Bestandteil Breslaus. "Es ist wie in meiner Küchenschublade", sagt Agnieszka Kłos zum Abschied. In der Küchenschublade, in der alte polnische Gabeln neben deutschen Löffeln liegen.