"Wir brauchen dramatische Veränderungen"
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Der britische Musiker Matthew Herbert will, dass sein Land in der EU bleibt. Mit seiner Brexit-Big-Band spielt er gegen den auf der Insel um sich greifenden Faschismus an. Und er wird dafür im Internet attackiert.
Martin Böttcher: Matthew Herbert, nicht nur, dass Sie als europafreundlicher Brite unter dem Hin und Her nach dem Brexit-Votum gelitten haben, jetzt hat Ihnen der Aufschub auch noch Ihren eigentlich schönen Veröffentlichungscoup verhagelt. Sie sind alles andere als ein Brexiteer – aber vielleicht doch ein bisschen verärgert?
Matthew Herbert: Ich glaube, die Schlagzeile "Person enttäuscht von Politikern" würde kaum mehr jemanden überraschen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf den 29. März hinzuarbeiten. Einfach, weil ich nicht wusste, ob wir feiern oder weinen würden. Ein Grund zum Feiern wäre die Absage des Brexit gewesen, ein Grund zum Weinen ein Brexit ohne Deal. Das Hinarbeiten auf diesen Termin jedenfalls fühlte sich für mich an, als würde ich ein Restaurant eröffnen wollen ohne irgendeine Ahnung, was ich den Leuten vorsetzen würde.
Der Aufschub des Brexit stimmt mich aus zwei Gründen froh: Erstens hoffe ich jetzt auf einen weichen Brexit, zweitens habe ich der Regierung meines Landes gezeigt, dass Musiker termingerecht abliefern können – im Gegensatz zu Politikern.
Ganz unabhängig vom Brexit
Böttcher: Wir haben vor einem Dreivierteljahr schon einmal über den Brexit gesprochen, und über die Brexit-Big-Band. Seitdem gab es sehr viele Abstimmungen. Ich wusste ehrlich gesagt manchmal gar nicht mehr, wer jetzt gerade wen blockiert oder worum es genau geht. Hat dieses ewige Herumlavieren auch Einzug gehalten in Ihr neues Album?
Herbert: Ja, absolut. Als ich mit den Arbeiten an dem Album angefangen habe, habe ich einen große Fehlentscheidung getroffen: Ich wollte mit meiner Musik die Arbeit der Regierung begleiten. Nach einem Jahr herrschte in der Regierung allerdings das totale Chaos, und damit drohte auch mein Album, im Chaos zu versinken.
Also habe ich noch mal neu angefangen. Jetzt setze ich die Prioritäten, es geht um meine Werte. Es geht zum Beispiel darum, dass sich Teile meiner Familie, vor zwei Generationen, im Krieg gegen Europa befunden haben. Und heute habe ich so viele Freunde in Deutschland. Das ist ein riesengroßer Erfolg, da will ich ansetzen, ganz unabhängig vom Brexit.
Auch die Musik hat vom Neuanfang profitiert: Das Chaos der ersten Phase ist einem klaren Fokus gewichen
Böttcher: Diese Zeit, über die Sie sprechen, da haben wir auch miteinander gesprochen. Da waren Sie mittendrin in der Produktion. Sie hatten gerade Musik in Berlin aufgenommen, unter anderem "Moonlight Serenade" von Glenn Miller, der vor allem in Großbritannien zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs sehr beliebt war. Was für Reaktionen haben Sie auf Ihr Projekt insgesamt bekommen? Es ist ja ein eindeutiges Bekenntnis zur EU, die nicht nur in Großbritannien manchmal ein schlechtes Standing hat.
Herbert: Heutzutage leben wir in Paralleluniversen. Jeder, absolut jeder, den ich persönlich getroffen habe, von Angesicht zu Angesicht, hat positiv auf das Projekt reagiert. Vor allem natürlich die Leute, die auf dem Album zu hören sind, und das sind weit mehr als 1000 Menschen. Ich habe mit vielen Chören gearbeitet.
Online dagegen sieht das anders aus: Da kriege ich viel Hass ab: auf Twitter, Facebook und auch in E-Mails. Auf dem neuen Album gibt es einen Song mit dem Namen "Feedback", in dem es ausschließlich um die Rückmeldungen geht, die ich für das Album bekommen habe. Viele davon sind wirklich negativ und aggressiv, was mich schockiert hat. Denn ich hatte nicht den Eindruck, etwas Kontroverses zu machen. Ich wollte nur Musik mit Freunden machen. Aber in dieser neuen Post-Facebook-, Post-Twitter-Welt scheint Wut die neue Norm zu sein, die sozialen Medien haben ihr einen Raum gegeben.
Anzeichen dafür, dass der Faschismus erstarkt
Böttcher: Wir haben in den vergangenen Wochen und Jahren immer wieder mit Künstlern, Künstlerinnen aus Großbritannien über den Brexit gesprochen, von alten Hasen wie Terry Hall von den Specials über die Sleaford Mods bis hin zu ganz jungen Leuten wie zum Beispiel Tom Odell oder Lucy Rose. Und die alle beschäftigen sich auf ihren aktuellen Platten mehr oder weniger direkt mit dem Brexit. Und es sind zum Teil tolle Alben geworden. Hat das Brexit-Votum der britischen Popszene vielleicht ganz gut getan?
Herbert: Hängt davon ab, was als Nächstes passiert. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Faschismus erstarkt. Das äußert sich hier in England auch in den großen Medien – die Hinwendung nach Rechts beziehungsweise Rechtsaußen. Das macht mir große Angst. Keine Musik der Welt, möge sie noch so toll sein, rechtfertigt das.
Aber ich denke, Sie spielen darauf an, dass Musik, die etwas bedeutet, Reibung braucht. Reibung kann aber auf viele Arten erzeugt werden. Etwas, das der Brexit, aber auch Trump in den USA, gezeigt haben: Gesellschaften können sich sehr stark verändern, abhängig von den Vorstellungen Einzelner.
Vor dem Brexit-Referendum wurde den Leuten erzählt, dass sich ihr Leben nach dem EU-Austritt verbessern würde. Viele Menschen haben daran geglaubt. Und selbst wenn der Brexit eine schreckliche Idee ist, zeigt er doch, dass sich eine Gesellschaft dramatisch verändern kann. Und wir brauchen dramatische Veränderungen, um zum Beispiel dem Klimawandel begegnen zu können. Veränderung ist möglich. Und es ist die Aufgabe von uns, die wie politisch links stehen, von uns Künstlern, eine bessere Welt zu schaffen.
Böttcher: Schon in unserem Leben haben sie gesagt, dass Sie den Glauben an die politischen Führungskräfte des Landes verloren haben. Können denn Künstlerinnen und Künstler wirklich diese Lücke füllen?
Herbert: Ich glaube nicht, dass Künstler alle Probleme auf der Welt lösen können. Aber ich habe den festen Glauben, dass Künstler eine fundamentale Rolle dabei spielen, wie wir uns selbst sehen egal ob als Nationen oder einzelne Menschen.
Wer jetzt diese von Ihnen angesprochene Lücke schließen kann? Ich lege große Hoffnungen in die nächste Generation. In die jungen Leute, die jetzt schon mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt haben, die auch gegen Trump votiert haben, zahlenmäßig aber unterlegen waren. Dieser Generation sind die Gefahren des Kapitalismus viel klarer. Genauso die Gefahren, die mit Falschinformation oder Desinformation zusammenhängen. Die wissen auch, wie gefährlich Intoleranz ist. Ich hoffe also sehr, dass die nächste Generation Antworten auf unsere drängenden Fragen findet.
Denn die Generation, die jetzt gerade die Politik bestimmt, hat wirklich Mist gebaut, und zwar insbesondere auf dem Rücken jüngerer Menschen. Ich glaube also fest daran, dass sich etwas ändern wird.