"Für uns gehen die britischen Partner langfristig verloren"
An wichtigen EU-Forschungsprojekten wie dem zur Nachsorge bei Krebserkrankungen im Kindesalter ist auch Großbritannien beteiligt. Deutsche Wissenschaftler - etwa in Mainz - befürchten, dass mit dem Brexit neben wichtigen Datenerhebungen noch viel mehr verloren gehen könnte.
Christine ist 37 Jahre alt und wirkt jünger. Sich selbst bezeichnet sie als "Survivor". Christine hat überlebt, und zwar Leukämie im Alter von fünf Jahren.
"Wenn man eine Krebserkrankung im Kindesalter überlebt hat, wird man zum Kämpfer. Man kommt an Kraftquellen dran, die man gar nicht bewusst wahrnehmen kann, wenn man nie selbst krank war. Diese Kraftquelle kann aber versiegen."
Vor allem, wenn man sich im Stich gelassen fühlt von Ärzten und Krankenkassen. Dass Bestrahlung, Chemotherapie und Krebsmedikamente gravierende Spätschäden zum Beispiel an den inneren Organen auslösen können, wird oft ignoriert, bemängelt Christine. Dabei sei Langzeit-Nachsorge mit Blick auf die besonderen Risiken für geheilte Kinderkrebs-Patienten fundamental, um weiter zu überleben.
"Ich kenne viele Leute, die Spätschäden hatten"
"Ich habe selbst auch Spätschäden gehabt, die zufällig erkannt wurden – Gott sei Dank. Ich kenne aber auch viele Leute, die Spätschäden hatten, bei denen es nicht frühzeitig erkannt wurde. Und dass es unter Umständen auch nicht gut ausgegangen ist, macht mich auch wütend. Deswegen bin ich dabei, um den Aufbau der Langzeit-Nachsorge von Patienten-Seite zu unterstützen."
Und deshalb zeigt Christine an diesem Nachmittag in der Mainzer Uni-Medizin Gesicht. Dort koordiniert Peter Kaatsch vom Deutschen Kinderkrebsregister das EU-Forschungsprojekt PanCare LIFE, das die Nachsorge verbessern will. Die Forscher wollen unter anderem herausfinden, welche genetischen Varianten bedingen, dass manche Überlebende schwerhörig werden und andere nicht.
"Dann kann man bei den Patienten, bei denen man weiß, dass die Flimmerhärchen im Ohr durch bestimmte Krebsmedikamente zerstört werden, da kann man zum Beispiel denjenigen sagen: Gehen Sie häufiger zum HNO-Arzt, machen Sie Hörtests, und wenn das dann grenzwertig auffällig ist, dann ist der Punkt, dass sie rechtzeitig ein Hörgerät sich zulegen, damit das Ganze auch nicht schlimmer wird."
Datenmassen vervielfachen Chancen auf valide Erkenntnisse
Mit fast sechs Millionen Euro hat die EU das PanCare 2 in den vergangenen fünf Jahren gefördert. Das Projekt läuft im Oktober aus. Herzschäden von überlebenden Krebspatienten waren das Thema der Vorgänger-Studie PanCare 1. Patienten-Aktivistin Christine hofft, dass die Ergebnisse bei Ärzten und Kassen etwas bewirken. Ein Nachsorge-Zeitraum von fünf Jahren nach der Krebs-Heilung wird finanziert, das sei aber zu wenig.
"Die kardio-vaskulären, also Herzerkrankungen, gehören ja zu den häufigsten Spätschäden. Es gibt viele Hausärzte, die dann sagen: 'Ja, komm, du bis jetzt 27, ich werde jetzt keinen Ultraschall machen vom Herz, oder kein EKG schreiben, du bist doch gesund. Die Hausärzte haben das nicht auf dem Schirm, dass man so eventuell frühzeitig die Herzprobleme erkennen könnte."
An den beiden PanCare-Studien beteiligen sich mit Großbritannien 13 europäische Nationen. Daten von über 100.000 Betroffenen konnten so ausgewertet werden: Ergebnisse von Strahlen- und Chemo-Therapien, Herz- und Hör-Tests. Die größte Studie über Langzeitüberlebende von Krebs im Kinder- und Jugendalter weltweit. Allein die Datenmasse vervielfacht die Chancen auf valide Erkenntnisse, betont Peter Kaatsch.
"Das ist entscheidend. Gegenüber Erwachsenenkrebs ist Kinderkrebs sehr, sehr selten. Und wir haben als Statistiker da sehr geringe Wahrscheinlichkeiten, die Ursachen der Krebserkrankung oder die Ursachen von Spätfolgen zu finden. Leukämie ist nicht gleich Leukämie, da gibt es 40, 50 Unterstufen, und desto differenzierte die Diagnose ist, desto kleiner sind natürlich die Fallzahlen, und da hilft es eigentlich nur, international Daten zusammenzutun, um eine statistische Power zu erzielen, dass man sagen kann, 'das sind definitiv die Ergebnisse', und nicht: 'Die sind vielleicht nur zufällig'."
Großbritannien steht auch für Spitzenforschung
Große Länder wie Großbritannien sind wichtig, nicht nur wegen der Datenmassen, sondern auch wegen der Spitzenforschung. Das EU-Projekt PanCare soll weitergehen: Teil drei ist beantragt.
"Und die Idee dafür hatte ein Brite, den wir sehr gut kennen. Ein Kollege, der sehr, sehr kompetent ist. Und als dann der Brexit kam, da ist diesem Kollegen gesagt worden, und das ist auch Fakt, der hat das selbst so gesehen: Du hast jetzt keine Chance mehr, von der EU als Koordinator ein Projekt an Land zu ziehen, wenn du eben in Großbritannien lebst und arbeitest. Und es ist auch in der Tat so: Wenn ein Nicht-EU-Land bei der EU was einreicht, sind die Chancen deutlich niedriger. EU-Länder sollen natürlich die Projekte, die die EU fördert, finanziert kriegen."
Forschungsassoziationen mit Großbritannien bleiben aber möglich, wie das Beispiel Schweiz zeigt.
Was aus PanCare 3 wird?
"Also, der britische Forscher hat die Koordinatorenschaft an eine andere Kollegin gegeben, die das Projekt jetzt federführend eingereicht hat – eine Holländerin aus Amsterdam – und nicht der britische Kollege. Es ist ihm schwer gefallen, aber es war im Sinne des Gesamten, dass man gesagt hat, dann ist die Chance deutlich größer."
Welche wissenschaftlichen Kooperationen mit britischen Forschern im Zuge des Brexits auslaufen, kann Georg Krausch als Präsident der Uni Mainz noch nicht benennen.
"Aber in der Tat ist es insbesondere für die Kollegen in England schwierig, weil sie an diesen schönen europäischen Austauschprogrammen nicht mehr teilnehmen können. Wenn wir heute nach der Sorbonne-Rede von Macron darüber nachdenken, wie wir vielleicht europäische Universitäten gestalten können in der EU gemeinsam – und uns dann vorstellen, dass so namhafte Plätze wie Oxford und Cambridge einfach nicht mitmachen dürfen, jedenfalls nicht gefördert werden können, sieht man, wie absurd das ist für die Wissenschaftslandschaft."
Förderung europäischer Forschungsprojekte
Eine eigene kleine Forschungslandschaft hat Hans-Jürgen Butt auf einem Tisch im Max-Planck-Institut für Polymerforschung aufgebaut: ein Glas Rotwein, eine weiße Krawatte auf weißem Tuch. Butt kippt den Wein über die hellen Stoffe, kommentiert dabei:
"Rotwein ist schon ziemlich garstig, durch den Alkohol und diese ganzen zusätzlichen Bestandteile. Ich hoffe, ich mache jetzt keine zu große Sauerei."
Eine Sauerei im Dienst der Forschung. Denn dank Butts wissenschaftlichem Zaubertrick ist das Tischtuch zwar verhunzt, aber die Krawatte, die er ebenso begossen hat, ist blütenrein geblieben. Das Geheimnis sind flüssigkeitsabweisende Nano-Härchen auf dem Schlips.
"Diese Nano-Härchen führen dazu, dass der Rotwein gar nicht in Kontakt mit der Textilfaser kommt. Das verhindert, dass das durchgeht. So lange das oben in den Härchen hängt, perlt das leicht wieder ab."
Wie beim Lotoseffekt, mit dem die gleichnamige Wasserpflanze ihre schwimmenden Blätter trocken hält. Diese Fähigkeit zur Selbstreinigung hat eine europäische Forschergruppe um Professor Butt nachgeahmt. Bis Februar 2019 gibt der EU-Forschungsrat 2,5 Millionen Euro dafür aus. Die Mittel kommen wie das Geld für Krebs-Nachsorge-Projekt aus dem EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation namens Horizont 2020. Das Ergebnis des Mainzer Chemie-Projekts SuPro ist ein Verfahren, um Oberflächen schmutzabweisend zu beschichten, zum Beispiel…
"…Oberflächen von Objektiven Kameras, auch Fenster, die schlecht zugänglich sind – selbstreinigend…"
… und schwer erreichbare Solarzellen auf dem Dach.
Verlust an Forschungsgeldern nicht aufzufangen
Die EU-Förderung half der Mainzer Forschung für die chemische Verfahrenstechnik, eine personalknappe Zeit zu überbrücken und mit fünf Doktoranden auch den wissenschaftlichen Nachwuchs einzubinden. Und, so Hans-Jürgen Butt: Sich für das Geld aus Brüssel zu bewerben, gab dem Vorhaben Struktur.
"Man muss, wenn man diesen Antrag schreibt, schon sehr präzise durchdenken, was man machen will. Wir haben sicher sechs Monate an dem Antrag gearbeitet, drei Monate ausschließlich. Und dann hat man schon eine sehr gute Idee, in welche Richtung man geht und das hilft. Und die Literatur perfekt studiert, all diese Dinge hat man dann erledigt, das ist sehr hilfreich."
Großbritannien ist bei der Oberflächen-Forschung SuPro mit im Boot. Den Brexit bedauert der Mainzer Physiker.
"Für uns gehen die britischen Partner langfristig verloren, und die sind wertvoll, denn da wird bislang gute Forschung gemacht. Das ist schon schade."
27 Länder investieren gemeinsam in Forschung und profitieren gemeinsam von den Ergebnissen, so beschreibt Jochen Pöttgen, Leiter der Bonner Regionalvertretung der EU-Kommission, die Zusammenarbeit bislang.
"Es ist nicht vorstellbar, dass die britische Regierung das in Forschung investieren kann, was die europäische Union investiert. Vermutlich – nach jetzigem Stand – fehlt auch einfach die Vernetzung. Wir würden uns natürlich wünschen, dass es zu einer Situation kommt, wo britische Forscher weiterhin am Projekt beteiligt sind, das kostet aber Geld. Das wäre dann aber eher das Modell Norwegen oder Norwegen light. Das heißt, ich bezahle etwas, habe aber nicht unbedingt Mitspracherecht."
Wie weiter? Pöttgen zuckt die Schultern.
"Die britische Regierung muss da Vorschläge machen. Im Moment ist es so, dass wir feststellen, die britische Teilnahme an Projekten – nicht an den laufenden, das ist ganz klar, die werden zu Ende geführt – aber an neuen, ist a priori ausgeschlossen."
Was Europa in Konkurrenz zur künftigen Forschungs-Supermacht China weiter schwächen könnte, fürchten Insider. Aber nicht nur Knowhow und Datenmasse gehen verloren. Sondern als Element der europäischen Vielfalt eine bestimmt Sichtweise. Physik-Professor Butt beschreibt sie als die Oxford-Perspektive:
"In Großbritannien sind ein Studium und eine Doktorarbeit eine Investition der einzelnen Personen, und die zahlen auch dafür, dass sie später mehr Geld verdienen. In Deutschland wird das Studium bezahlt, im Gegenteil: Studenten kriegen sogar noch zusätzlich Geld. Das ist eine ganz unterschiedliche Sicht der Dinge. Während wir meinen, wir haben ein Recht auf ein Studium, sagen die Briten: 'Nein, das muss jeder selbst zahlen', das ist eine Investition für die. Und diese Sicht wird fehlen."