Großbritannien
Trübe Aussichten in London: Nach dem endgültigen Brexit ist der Schaden für die britische Wirtschaft enorm. © Unsplash / Sandra Ahn
Ein Jahr nach dem Brexit
23:12 Minuten
Im Vereinigten Königreich breitet sich ein Jahr nach dem endgültigen EU-Austritt Ernüchterung aus. Alles wurde teurer und zeitaufwendiger. Doch für Premier Johnson begann mit dem „Post Brexit Britain“ ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes.
Ein Freitagabend im Nordosten Londons. In der ORA Brewery, einer kleinen Bierbrauerei mit Ausschank, finden sich erste Gäste ein. Daniele Costa Zaccarelli, der die Brauerei betreibt, steht vor den Tanks und Fermentern im hinteren Teil der Halle.
ORA braut rund 50.000 Liter Bier pro Jahr. Besonders stolz ist Daniele auf sein Limoncello I.P.A., ein Bier mit einem leichten Zitronengeschmack. Der Verkauf in die EU funktioniert aber nicht mehr so richtig. „Das Problem liegt auf der Verkaufs-, auf der Einnahmeseite“, sagt Daniele.
Seit dem Brexit ist es für die ORA Brewery nicht mehr rentabel, kleine Mengen an mehrere Abnehmer zu liefern, weil Aufwand und Kosten jetzt viel größer sind. Auch sind die Transportzeiten deutlich länger als früher. Es dauere drei bis sechs Wochen länger, das Bier nach Italien zu liefern, erzählt Daniele. "Das ist ein frisches Produkt. Wenn es drei Wochen beim Zoll liegt, anstatt weniger Tage, dann kann es verderben.“
Neben einem Großhändler hat die ORA Brewery inzwischen auch ein Logistikunternehmen angeheuert, das den Papierkram erledigt. Der Brexit heißt für den Bierbrauer: höhere Kosten, weniger Ertrag.
„Alles zusammengenommen – die zusätzlichen Verwaltungskosten und die Zollgebühren – macht ungefähr 30 bis 35 Prozent mehr aus, als wir vor dem Brexit gezahlt haben." Was die Einnahmen insgesamt angehe, sei es viel weniger geworden, so Daniele. "Wahrscheinlich 50 Prozent weniger. Es hat sich halbiert.“ Dabei sollte das Handelsabkommen mit der EU eigentlich alle wesentlichen Hindernisse für den Handel aus dem Weg räumen.
Brexit als Weihnachtsgeschenk
Eine schöne Bescherung war das vor einem Jahr! Als man am 24. Dezember 2020 gern gemütlich geworden wäre, trat Premier Boris Johnson vor die Presse. Nach Monaten des Ringens hatten sich die EU und Großbritannien auf ein Freihandelsabkommen geeinigt.
Johnson präsentierte den Deal wie ein Weihnachtsgeschenk: Er freue sich, dass Großbritannien sein bisher größtes Freihandelsabkommen erzielt habe, das ein Volumen von 660 Milliarden Pfund pro Jahr habe. Es sei ein Deal, der Arbeitsplätze schützen und den britischen Unternehmen ermöglichen werde, Waren ohne Zölle und Quoten in die EU zu verkaufen. Und: „Ein Deal, der unseren Unternehmen und Exporteuren ermöglichen wird, noch mehr Geschäfte mit unseren europäischen Freunden zu machen.“
Warenhandel geringer, Gewinne eingebrochen
Das Gegenteil ist eingetroffen. Der Thinktank „Centre for European Reform“ hat die Folgen des Brexits untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass Großbritanniens Warenhandel in vielen Monaten 2021 um elf bis 16 Prozent geringer war als er es ohne Brexit gewesen wäre. Den Angaben eines Unternehmerverbands zufolge, haben etwa ein Viertel der kleinen und mittleren Exporteure ihre Exporte in die EU ausgesetzt oder ganz eingestellt. Andere machen weiter, obwohl ihre Gewinne eingebrochen sind.
Einbußen muss auch Han Ates hinnehmen, der in London die Jeans-Näherei, „Blackhorse Lane Ateliers“ betreibt. In einem großen Raum werden an Tischen Jeans-Stoffe zugeschnitten, genäht und gebügelt. Ates importiert Stoffe aus Japan, der Türkei und Italien und verkauft fertige Jeans an Endkunden in aller Welt.
Seit dem Brexit ist dem Unternehmer aber die Hälfte des EU-Geschäfts weggebrochen: „Es ist ein Einbruch um 50 Prozent", so Ates. "Das ist viel und tut richtig weh.“
Aus EU-Sicht ist Großbritannien seit Neujahr 2021 ein Drittland. EU-Bürger, die Waren im Internet bestellen, müssen häufig Zoll zahlen, etwa wenn der Sachwert einen bestimmten Betrag überschreitet oder wenn das Produkt zwar von Großbritannien aus verschickt wird, aber nicht von dort stammt.
Außerdem fällt Einfuhrumsatzsteuer an, die der Mehrwertsteuer entspricht und in Deutschland sieben beziehungsweise 19 Prozent beträgt. Diese Änderungen haben die Kunden verschreckt, sagt Ates. "Bei den Aufträgen aus Europa haben wir einen großen Einbruch erlebt. Wenn die Kunden den Preis anschauen, dann wollen die nicht noch ausrechnen müssen, wie viel Einfuhrumsatzsteuer und Zoll sie bezahlen müssen." Den Export habe es getroffen. Die neue Grenze macht alles komplizierter – für die Unternehmen auf der Insel und auf dem Kontinent.
Zeitaufwendig: Export aus Deutschland
Die Exportabteilung von Follmann Chemie im nordrhein-westfälischen Minden. Zollexperte Walter Bock meldet eine Lieferung an: 28 Paletten mit Flüssigkunststoff zum Abdichten von Parkdecks oder Flachdächern. Ziel: Stafford in Mittelengland.
Seit Großbritannien raus ist aus der EU, bedeutet das deutlich mehr Aufwand. „Mehr als das Doppelte an notwendiger Arbeitszeit, die da investiert werden muss, um den Auftrag halt abzuwickeln", schätzt Bock. Nicht alles weiß die Software von alleine. Walter Bock muss in die Details gehen, die Zollstelle eingeben, Transportkosten kalkulieren, Gewichtsangaben überprüfen.
Diese Lieferung ist eher unkompliziert. „Wir haben glücklicherweise nur fünf Warentarifnummern gehabt. Deswegen ging es auch relativ schnell mit der Anmeldung." Manchmal hätten sie aber Pech und müsste sich mit 20 Warentarifnummern beschäftigen. "Dann dauert es im System natürlich auch wesentlich länger, bis alles abgearbeitet ist, bis dann alle Positionen bearbeitet werden.“
Die Paletten mit Abdichtmaterial sind jetzt verzollt. Trotzdem müssen sie noch einen Tag an der Verladerampe stehen – und blockieren so lange eine Spur. Aktuell geben die britischen Behörden erst nach 24 Stunden grünes Licht für den Transport. „Der Brexit beschäftigt mich seit 2014", so Bock. "Da haben wir die ersten Diskussionen um dieses Thema gehabt.“
Kaum ein Wirtschaftswissenschaftler im deutschsprachigen Raum hat sich so intensiv mit dem Brexit auseinandergesetzt wie Gabriel Felbermayr. Bis vor Kurzem war er Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und leitet jetzt das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien.
Weniger Waren und Dienstleistungsaustausch
Dass der Brexit bei den Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals für jede Menge Ärger sorgen wird, war dem Handelsökonomen klar. Kurz vor dem Ausstieg Großbritanniens aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion hatte Gabriel Felbermayr mit einem Team von Kolleginnen und Kollegen die voraussichtlichen Folgen des Brexits kalkuliert.
Mit ihrer Prognose lagen sie nicht allzu falsch, meint er rückblickend. „Wir erwarten schon, dass langfristig der Handel mit Gütern und Dienstleistungen, zum Beispiel zwischen Europa und dem Vereinigten Königreich nachgeben wird, dass wir also weniger Waren- und Dienstleistungsaustausch haben.“
Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 ist der Handel zwischen der EU und Großbritannien kontinuierlich zurückgegangen. Abzulesen an der deutschen Exportbilanz: Vor fünf Jahren gingen noch acht Prozent der deutschen Ausfuhren über den Ärmelkanal, nur noch knapp fünf Prozent sind es aktuell.
Was das bedeutet, zeigt ein Blick auf die wichtigsten Handelspartner Deutschlands: Im Ranking ist Großbritannien dramatisch abgestürzt – vom fünften Platz 2016 auf nur noch Platz elf am Ende dieses Jahres. Belgien, Österreich, Tschechien – alle sind inzwischen wichtiger für den deutschen Handel.
Ein empfindlicher Schlag für die Wirtschaftskraft, sagt Handelsexperte Gabriel Felbermayr. Vor allem Großbritannien bekommt die Folgen zu spüren. Das Land hängt viel stärker vom europäischen Markt ab als umgekehrt. „Daran knüpfen sich dann auch Wertschöpfungsverluste, also ein kleineres BIP." Es seien zweieinhalb bis drei Prozentpunkte des britischen BIP verlorengegangen durch die Brexit-Entscheidung, so Felbermayr. "Und spiegelbildlich ungefähr ein Zehntel davon auch auf europäischer, auch deutscher Seite. Die Kosten, die wir befürchtet haben, sind doch zu einem sehr ordentlichen Teil eingetreten.“
Wenig zu spüren von wirtschaftlicher Logik
Möglichst nicht rütteln an Abläufen im Handel, die sich bewährt haben: ein Gebot der wirtschaftlichen Logik, findet der Ökonom. Bis jetzt ist davon wenig zu spüren. Ungeklärte Zoll-Probleme belasten das Verhältnis dauerhaft. Großbritannien streitet mit Frankreich über den Fischfang in der Nordsee. Der Konflikt um die Grenze in Irland ist neu aufgeflammt: Großbritannien will das so genannte Nordirland-Protokoll nicht umsetzen.
Die Brexit-Problematik springt bei Nordirland besonders ins Auge. Seit dem Brexit verläuft zwischen Nordirland und der Republik Irland eine EU-Außengrenze. Damit die offenbleiben kann, liegt die Zollgrenze jetzt in der Irischen See: Güter, die von Großbritannien – der Mutterinsel – nach Nordirland gebracht werden, müssen deklariert und kontrolliert werden, weil sie nach Irland und damit in den EU-Markt gelangen könnten.
Diese Warenkontrollen, die das Nordirland-Protokoll regelt, haben allerdings zu Lieferengpässen und neuen Spannungen in Nordirland geführt. Plötzlich flogen wieder Steine, Fahrzeuge brannten, weil ein Teil der nordirischen Bevölkerung befürchtet, vom Rest des Königreichs abgeschnitten zu werden.
Die Zollkontrollen sind auch der Grund dafür, dass viele Unternehmer Nordirland gar nicht mehr beliefern. Zu ihnen gehört auch Klaus Kuhnke, der in London einen German Deli betreibt. Kuhnke importiert typisch deutsche Lebensmittelprodukte wie Brandt Zwiebäcke und Schwarzwälder Schinken und verkauft sie im Königreich weiter. Kunden in Nordirland hat er von seiner Liste gestrichen. „Wir können nicht die Zeit damit verbringen, die Zollpapiere für Pakete nach Nordirland auszufüllen", erklärt er seine Entscheidung. "Das schaffen wir nicht mehr. Das müssen wir aufgeben, zu viel Aufwand.“
Diese Entwicklung gebe es in allen Branchen, sagt Stephen Kelly, der CEO von Manufacturing NI – einem Verband, der in Nordirland rund 5500 Herstellerfirmen vertritt. Ein Viertel der britischen Unternehmen sei nicht mehr bereit, Nordirland zu beliefern, weil das zu kompliziert und zu teuer ist – was für nordirische Unternehmen bedeutet, dass sie aus England keinen Nachschub mehr erhalten oder aber dafür mehr bezahlen müssen. Ein klarer Wettbewerbsnachteil.
Lieferungen zwischen EU und Nordirland störungsfrei
Auf der anderen Seite profitieren die nordirischen Unternehmen aber davon, nicht nur Zugang zum britischen Markt, sondern nach wie vor auch freien Zugang zum EU-Markt zu haben. „Unsere Hersteller sehen das als Vorteil", sagt Stephen Kelly. "Sie kaufen Waren aus der ganzen Welt. Keine Störung bei den Lieferungen von der EU nach Nordirland zu haben, ist vorteilhaft. Und die Möglichkeit, reibungslos auf dem britischen und dem EU-Markt verkaufen zu können, ist auch klar vorteilhaft.“
Tatsächlich hat der Brexit in Nordirland zu einer Verschiebung der Importe und Exporte geführt. Der Ost-West-Handel mit Großbritannien ist zurückgegangen, während der Nord-Süd-Handel mit Irland boomt: „Die Exporte von Nordirland nach Irland sind um 60 Prozent gestiegen, und das zu einer Zeit, in der die britischen Exporte in die EU um 16 Prozent geschrumpft sind. Das ist ein ziemlich klarer Beweis, dass wir vom Zugang zum EU-Markt profitieren.“
Der britischen Statistikbehörde ONS zufolge, hat sich Nordirland im Vergleich zu England, Schottland und Wales am besten von der Coronakrise erholt und hat wirtschaftlich fast wieder das Niveau von 2019 erreicht. Die Wirtschaft in Nordirland könnte vom Brexit sogar noch profitieren. Für den Handel zwischen Großbritannien und dem Kontinent gilt das nicht.
Der Flüssigkunststoff aus der Chemiefabrik in Minden ist inzwischen unterwegs Richtung England – nach eineinhalb Tagen in der Wartespur. Sieben Uhr morgens im Hafen von Calais: LKW-Fahrer Uwe Hansmann reicht die Frachtpapiere ins Kontrollhäuschen. Nach zehn Minuten sind die Formalitäten erledigt. Der LKW bekommt die Freigabe für die Fähre. Bei den Kontrollen geht alles glatt. Über dem Ärmelkanal scheint die Sonne, die Fähre gleitet durch die leicht gewellte See, von ferne leuchten die Kreidefelsen.
In Dover wird der LKW in großem Bogen durch den Hafen geleitet. „Customs“ und „Slow“ steht in großen Buchstaben auf den Barrieren vor den Zollhäuschen. Aber die Beamten in ihren gelben Westen beachten den LKW gar nicht und lassen uns einfach passieren. Nach all den kleinteiligen Zollformalitäten plötzlich freie Fahrt.
An der Grenze warten oder leer zurückfahren
360 Kilometer sind es jetzt noch bis zum Zielort Stafford in Mittelengland. Wenn in Deutschland alles korrekt verzollt wurde, laufen die Transporte auf die Insel meist reibungslos. Aber auf dem Rückweg kann es Probleme geben. Wenn ein LKW in Großbritannien frische Ware aufnimmt, um sie nach Deutschland zu transportieren, erzählt Fahrer Uwe Hansmann. „Wenn du dich nicht hundert Prozent drauf verlassen kannst, dass alles vernünftig gelaufen ist beim Zoll, dass die Agenten die Verzollung vernünftig durchgezogen haben, dann kann es natürlich passieren, dass du da drüben ein, zwei Tage stehst. Das kann sich kein Unternehmen erlauben.“
An der Grenze warten oder leer zurückfahren – keine gute Alternative. Uwe Hansmann wird auf dem Rückweg keine Güter an Bord haben und erst wieder in Antwerpen Stahl laden.
Und: Vor dem Brexit konnten LKW-Fahrer vom Kontinent drei weitere Jobs auf der Insel übernehmen. Das ist jetzt auf zwei begrenzt. Auch ein Grund, warum es in Großbritannien zu Lieferengpässen kommt.
Tränen und Verzweiflung, als Ende September an immer mehr Zapfsäulen „Außer Betrieb“ zu lesen war. Viele Briten kamen nicht mehr zur Arbeit, selbst Krankenwagenfahrer hatten größte Schwierigkeiten, zu tanken.
Der Mangel an LKW-Fahrern hatte dazu geführt, dass nicht mehr alle Tankstellen beliefert werden konnten. Panikkäufe und Krisenstimmung machten sich breit. LKW-Fahrer fehlen auf der Insel schon seit Längerem, aber die Coronakrise und der Brexit haben den Mangel verschärft. Der britischen Statistikbehörde zufolge haben seit März 2019 rund 16.000 EU-Fahrer das Land verlassen.
Aus Sicht der Regierung ist der Brexit aber nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung, weil er die Personenfreizügigkeit beendet hat. „Was wir nicht vergessen dürfen, ist, dass wir einen systemischen Mangel an LKW-Fahrern haben, weil wir über die Jahre akzeptiert haben, dass billige osteuropäische Arbeitskräfte gekommen sind und für niedrige Löhne gearbeitet haben. Das hat viele britische LKW-Fahrer aus dem Sektor gedrängt", sagt Verkehrsminister Grant Shapps.
Arbeitsmarkt leidet unter dem Brexit
Nun sollen die Speditionen höhere Löhne zahlen und dafür sorgen, dass wieder mehr Briten Brummi-Fahrer werden wollen. Tatsächlich fehlen Fachkräfte aber in vielen Wirtschaftsbereichen, auch in der Pflege, der Landwirtschaft, der fleischverarbeitenden Industrie und im Gastgewerbe.
Anand Menon, Professor für Europäische Politik am King’s College London, ist nicht erstaunt. „Der Brexit wird zu Problemen auf dem Arbeitsmarkt führen, denn sobald die Regierung die Zuständigkeit dafür übernimmt, wer ins Land kommen und hier arbeiten kann, wird der Arbeitsmarkt starr", sagt er. "Es wird schwierig, schnell auf die Nachfrage in bestimmten Bereichen zu reagieren.“
Solange sich Menschen frei bewegen konnten, wurde das dem Markt überlassen. Bei Bedarf konnten britische Firmen kurzerhand Mitarbeiter aus der EU anwerben. Aber das ist jetzt viel umständlicher, sagt Menon, der auch Direktor von „UK in a Changing Europe“ ist, einer Forscher-Initiative zur Zukunft Großbritanniens nach dem Brexit. „Jetzt gibt es Begrenzungen, wie viele kommen können. Es gibt Bedingungen, wie viel jemand verdienen muss, um ein Visum zu bekommen.“
Der LKW aus Minden ist inzwischen fast am Ziel. Gegen 16 Uhr haben wir die Spedition Stan Robinson in Stafford erreicht LKW. Von hier aus wird der Flüssigkunststoff an Kunden in England verteilt.
In der Spedition ist gerade Pause. Zeit, um über den Brexit zu reden. Der langjährige Englandfahrer Uwe Hansmann hat ein schlechtes Gefühl. „Wenn die draußen bleiben wollen, können wir nur hoffen, dass die aus dem Quark kommen, dass die die richtigen Leute an den richtigen Stellen hinsetzen, damit das ganze zügig vonstattengehen, dass diese Megaverzögerungen verschwinden, weil: Sonst kriegen die hier richtig Probleme. Das ist einfach so.“
Brexit-Übergangsregelung endet 2022
Warenlieferungen dauern jetzt viel länger als vor dem Brexit. Ab Januar wird der bürokratische Aufwand sogar noch größer, sagt Firmenchef Henrik Follmann. Dann endet eine Übergangsregelung, und die britischen Behörden wollen noch mehr Informationen über die Einfuhren aus der EU. Die Vereinfachung werde entfallen, und das bedeute: "Wir müssen eine deutlich detailliertere Deklaration der Produkte abgeben. Das schafft natürlich wieder mal weitere Zeitverzögerung und mehr Aufwand. Und für was, frage ich mich immer noch?“
Solche Details interessieren den britischen Premier wenig. Er hat größere Pläne. Als Ende Dezember 2020 über das Freihandelsabkommen im Unterhaus debattiert wurde, sagte der Premier. „Wir beginnen ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Landes und schließen Freihandelsabkommen rund um die Welt, und verschaffen ‚Global Britain‘ neue Geltung als einer liberalen, nach außen gerichtete Macht des Guten."
Bisher hat Großbritannien rund 70 Handelsverträge geschlossen, allerdings unterscheiden sie sich kaum von den EU-Verträgen mit den jeweiligen Ländern. Ein Abkommen mit den USA ist noch in weiter Ferne und beim frisch unterzeichneten Abkommen mit Australien geht das britische Handelsministerium offenbar davon aus, dass es das Bruttoinlandsprodukt um gerade einmal 0,08 Prozent steigern wird, und das auch erst ab 2035.
Für Anand Menon, Professor für Europäische Politik am King’s College London, steht fest: "Handelsabkommen mit Asien-Pazifik-Staaten oder irgendeinem anderen Teil der Welt werden niemals die Handelsverluste mit der EU kompensieren können." Es gebe aber Anzeichen, dass es der britischen Regierung bei Handelsabkommen nicht nur um den Handel geht.
Vielmehr würden auch Kooperationen im Bereich Sicherheit und Verteidigung vereinbart, wie das neu geschaffene Militärbündnis AUKUS zeigt, an dem Australien, Großbritannien und die USA beteiligt sind.
Großbritannien hat durch den Brexit Souveränität zurückgewonnen, aber es zahlt auch einen hohen Preis dafür. Das OBR – eine unabhängige britische Aufsichtsbehörde – geht davon aus, dass der Brexit das Potenzial des britischen Bruttoinlandsprodukts langfristig um vier Prozentpunkte drücken wird. Das Land wird demnach weniger Wohlstand haben, als wenn es in der EU geblieben wäre. Und sollte sich Schottland in absehbarer Zeit – auch aus Protest gegen den Brexit – für unabhängig erklären, wäre der Schaden für das Königreich gar nicht zu beziffern.