Brexit-Verhandlungen

Für die Briten geht es um ihre Identität

Weg von der EU ist jetzt der einzige englische Weg: Einbahnstraßenschild steht am 10.3.2017 am Europahaus am Smith Square in London vor einer Europaflagge und einem Union Jack dahinter.
Aus britischer Sicht gibt es keine Zurück in die EU. © dpa / picture alliance / Yui Mok
von Almut Möller · 09.10.2017
Heute beginnt die nächste Runde der Brexit-Verhandlungen. Wir haben uns daran gewöhnt, über die Absicht der Briten die EU zu verlassen so zu reden, wie über die Eröffnung des Berliner Flughafens. Für Schadenfreude gibt es aber keinen Anlass, findet Politikwissenschaftlerin Almut Möller.
Es ist in diesen Tagen in den Kommentarspalten wohlfeil, die Nase über den politischen Dilettantismus im Vereinigten Königreich zu rümpfen. Dazu liefert die Insel gerade auch allerlei unterhaltsamen Stoff. Angetreten, das Vereinigte Königreich kraftvoll aus der EU zu führen, hat sich Premierministerin Theresa May mit den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2017 schlicht verzockt. Ihre regierende Tory-Partei verlor die Mehrheit und die Regierung May startete angeschlagen in die Austrittsverhandlungen, die seit Ende Juni mit der EU nur leidlich laufen.
In Brüssel hat sich Chefverhandler Michel Barnier mit seinem Team für die höchst anspruchsvolle Agenda gut aufgestellt. Noch nie hat es einen Austritt aus der EU gegeben, und mehr als 40 Jahre EU-Mitgliedschaft wickelt man nicht mal eben so ab. Barnier kann dabei auf äußerst solide Expertise in Brüssel und in den übrigen Hauptstädten bauen. Und die Reihen der EU-27 sind seit Monaten geschlossen wie lange nicht.

Mit der Komplexität des Brexit überfordert

Demgegenüber ist es kein Geheimnis, dass London mit der Komplexität der Materie weiterhin überfordert ist – und die Regierung tief zerstritten. Barniers Gegenspieler David Davis verliert sich im Anschluss an die gemeinsamen Sitzungen regelmäßig in ausschweifenden, inhaltsleeren Statements, während seine Chefin kürzlich bis nach Florenz reiste, um die EU-Mitglieder mit einer Grundsatzrede zu umgarnen. Die stieß auf ziemlich geringes Interesse, aber immerhin Barnier attestierte ihr den Willen, jetzt endlich in einen konstruktiven Arbeitsmodus übergehen zu wollen. Die Uhr aber tickt – und Theresa May bereitet sich inzwischen auch auf das Worst-Case-Szenario eines ungeregelten Austritts vor.
Auf dem Parteitag der Tories in Manchester konnte man vergangene Woche erleben, wie sich die Partei derzeit genussvoll selbst zerlegt, angeführt von einem Außenminister mit schlechtsitzender Frisur und Hang zur Provokation.
Während seine Chefin sich in letzter Zeit redlich bemühte, gegenüber Brüssel und den anderen EU-Hauptstädten in den Austrittsverhandlungen Haltung und Ernsthaftigkeit zu demonstrieren, schießt Boris Johnson quer, wo er nur kann, und sägt dabei offen am Stuhl von Theresa May. Kürzlich bemühte er erneut den fiktiven Betrag von 350 Millionen Pfund, die Großbritannien die EU-Mitgliedschaft angeblich wöchentlich koste und mit der er im EU-Referendum erfolgreich durch die Lande gezogen war. Das brachte ihm zwar eine öffentliche Rüge des Chefs der nationalen Statistikbehörde ein – zuhause schadet es ihm offenbar nicht. Hierzulande gilt Johnson als Hazardeur, als Witzfigur, dem Amt eines Außenministers nicht würdig. London hat in Kontinentaleuropa dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren und ist zur Lachnummer geworden. Wir sollten es uns aber nicht zu einfach machen mit unserem Urteil.

Theresa May muss aufholen

Premierministerin May weiß, dass sie aufholen muss, wenn sie den Austritt ihres Landes aus der EU innerhalb der dafür vorgesehenen zwei Jahre noch in trockene Tücher bringen will.
Wenn es innerhalb von zwei Jahren nach dem Austrittsgesuch nicht gelingt, Einvernehmen zwischen der EU-27 und der britischen Regierung über die Modalitäten des Austritts zu erzielen, müssen die Briten die Union in einem ungeordneten Verfahren verlassen. Diese Perspektive wäre sowohl aus Sicht der EU und noch mehr aus Sicht der Briten eine ziemliche Katastrophe.
Sich jetzt in Schadenfreude über das erbärmliche Bild zu ergehen, das die Regierung in London gegenüber der EU derzeit abgibt, oder sich an einem der seltenen Zeichen von Einigkeit der EU-Länder zu berauschen, bringt uns nicht weiter. Was ein zutiefst gespaltenes und verunsichertes Land wie Großbritannien gerade am wenigsten braucht, ist unsere Überheblichkeit. Wir sollten stattdessen selbstkritisch hinschauen: Was sich im EU-Referendum im vergangenen Jahr in Großbritannien Bahn gebrochen hat, erleben wir momentan in vielfältiger Weise in Wahlen und Abstimmungen in ganz Europa: eine tiefe Verunsicherung über die eigene Zukunft, den Rückzug auf das Nationale, der Frust und gar Hass gegenüber der etablierten Politik, die Sehnsucht nach Provokation und nach radikalen Brüchen.
Für die Briten geht es beim "Brexit" nicht um die technischen Details des Austrittsprozesses, die gerade in Brüssel auf dem Tisch liegen, sondern es geht um ihre Identität. Das Referendum über den Austritt wurde zum Ventil. Das Karikaturhafte der Entwicklungen auf der Insel kann uns zeigen, was auch uns blühen kann, wenn wir es nicht schaffen, derartige Stimmungen aufzufangen.

Die Politikwissenschaftlerin Almut Möller ist Senior Policy Fellow und Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, einer Denkfabrik mit Büros in sieben europäischen Hauptstädten, darunter Paris, Warschau und London.

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