Brexiteers und ihr überraschendes Geschichtsbild

Piraten, Kaperfahrten und Wagemut

07:55 Minuten
Historische Darstellung der Eroberung der andalusischen Hafenstadt Cádiz 1596 während des Englisch-Spanischen Krieges. Mehrere Schiffe vor einem Hafen.
Eroberung der andalusischen Hafenstadt Cádiz 1596 während des englisch-spanischen Krieges. Mit dabei war Francis Drake, auf den sich Brexiteers gern beziehen. © picture alliance / dpa / The Print Collector/Heritage Images
Von Ada von der Decken · 27.11.2019
Audio herunterladen
Häufig erzählen Brexiteers in Großbritannien gar nicht die Geschichte des großen, weltumspannenden Empires - sondern machen sich und die britische Geschichte eher klein. Warum? Die Erinnerung an den Niedergang des Weltreiches ist zu schmerzhaft.
"Unsere Geschichte ist ein Geschichte des Handels und der Freibeuterei , die zurückgeht auf Drake und darüber hinaus. Darin sind wir gut!"
Der Pirat Francis Drake ging im 16. Jahrhundert im Auftrag von Königin Elisabeth gegen die Spanier auf Kaperfahrt. Darauf bezieht sich David Davis, der später Brexit-Minister werden sollte, in einem Kampagnenfilm für den Brexit vor dem Referendum.
Brexit-Befürworter beziehen sich gerne auf diesen Teil der britischen Geschichte, als vermeintlich tapfere Piraten und Freibeuter in die Welt hinauszogen. Statt auf Great Britain beziehen sie sich auf "Little Britain": Ein Völkchen listiger Abenteurer, die immer schon eine Gewichtsklasse über der eigenen gekämpft hätten.
Das Zeitalter des britischen Empires blenden sie hingegen lieber aus. Sonst müssten sie schließlich auch dessen Niedergang anerkennen, was zu schmerzhaft für die Brexiter-Seele wäre. So beschreibt der Historiker Robert Saunders das Geschichtsbild derjenigen, die ihr Land aus der EU herauslösen wollen. Und urteilt harsch: "Geschichte ist hier die Maske, die sich die Ideologie aufsetzt, wenn sie als Erfahrung durchgehen will."

Das kleine Völkchen auf der kleinen Insel

Die Brexiteers bedienten sich in der Geschichte, wo es ihnen passt, schreibt Saunders im Magazin "The New Statesman". Der Kniff bestehe darin, sich beim Blick auf die Geschichte nicht auf die einstige Größe, sondern auf das angeblich eigentliche Wesen des kleinen Völkchens der kleinen Insel zu beziehen.

Die Idee vom "Klein-Britannien" ignoriere die imperialen Vergangenheit und gebe vor, dass das Land auch künftig allein durch Optimismus wieder eine Handels-Supermacht werden könne. Der Mythos von Großbritannien als Little-Britain berge Gefahren, weil es das Selbstbild der Briten für die Zukunft definiere.
Auch Boris Johnson bezieht sich gerne auf die angeblich so ruhmreiche Vergangenheit des Landes, wenn er "Global Britain" für die Zukunft ausruft. Etwa in seiner Antrittsrede im Juli vor der Downing-Street Number 10:

"Nach drei Jahren unbegründeten Selbstzweifels steht eine Zeitenwende an: Zurück zu unserer natürlichen und historischen Rolle als aufgeschlossenes, nach außen orientiertes und wirklich Global Britain – mit einem großzügigen Charakter und mit der Welt verbunden. In den letzten Jahrhunderten wurden all jene eines Besseren belehrt, die den Mut, die Tapferkeit und den Ehrgeiz dieses Landes unterschätzt haben."
Auch im aktuellen Wahlkampf gibt Johnson sich kämpferisch und wie gewohnt optimistisch: Lasst uns den Brexit über die Bühne bringen und unser Potential entfalten. Mit Johnson an der Spitze soll Great Britain "Global Britain" werden!

Erzählung vom freibeuterischen Underdog

Bei den Wählerinnen und Wählern kommen die Botschaften an. In Umfragen stehen die Konservativen derzeit gut da. Auch dank der Erzählung vom freibeuterischen Underdog der anderen Nationen ein Schnippchen schlägt.
Uta Staiger vom Europäischen Institut am University College London: "Es ist einfach eine Eigendarstellung, die so hervorragend passt auf die verschiedensten Situationen und Verhandlungsgeschicke, die hier angegangen werden."
Ein positiver, optimistischer Blick auf die Zukunft von "Global Britain". Das kommt an. Uta Staiger hält dieses Geschichtsbild vom Klein-Britannien für einseitig:
"Es ist natürlich so, dass Großbritannien schon weiß, dass es im Vergleich mit den großen Handelsnationen wie jetzt den Vereinigten Staaten oder China nicht ganz in der Größe und Umfang des Bruttosozialprodukts mithalten kann. Aber es möchte sich trotzdem als eine in der Zukunft glorreiche und handelnsintensive Nation verstehen. Daher möchte sie natürlich das Narrativ abkoppeln von der eigentlichen Größe des wirtschaftlich Umfangs. Und darauf pochen, dass man schon in der Vergangenheit als ein relativ kleiner Inselstaat es geschafft habe, ein globales Imperium aufzuziehen. Und warum sollte man das nicht wieder machen können?"
Die Brexiteers, so Staiger, vergessen aber gerne die Tatsache, dass die Briten ihre Handelswege mit Militärmacht erzwungen haben. Es war eben weniger der von den Brexiteers gepriesene Freihandel, der Großbritannien groß gemacht habe, sondern doch eher Kriegsschiffe, Kanonen und Kolonialismus.
Und bei diesem Blick auf die Geschichte schwingt auch eine gehörige Portion Selbstüberschätzung mit. Wenn Großbritannien sich tatsächlich nach dem Brexit neu ausrichten muss, wird dieses "Global Britain"-Selbstbild vermutlich in sich zusammenfallen.
Helene von Bismarck: "Aber die Art und Weise wie Geschichte in der Diskussion über den Brexit instrumentalisiert und wirklich auch als Waffe gebraucht wird. Wie oberflächlich das zum Teil ist und wie verzerrt Dinge dargestellt werden. Tut mir geradezu weh manchmal, muss ich wirklich sagen."

Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung

Helene von Bismarck ist Historikerin. Sie weist in der Debatte auf den Unterschied zwischen tatsächlicher Geschichte und der dann nachträglich erzählten Erinnerung hin. Es sei eben die Erinnerung, die das Selbstbild eines Landes von sich präge und politisch wirkmächtig werde. Das Selbstbild, das die Brexiteers formulieren, sieht sie kritisch:
"Diese ganze Geschichtspropaganda muss man wirklich zum Teil sagen. Die ist voller Widersprüche. Und die Frage nach dem Global Britain und oder auch die dem Little England ist ein klassisches Beispiel davon. Einerseits ist man sozusagen zu sehr historische Weltmacht, zu sehr Global Player für Europa, oder für die Europäische Union. Aber, wenn es darum geht, sich auf bestimmte historische Momente zu berufen, wird der globale Aspekt auch ganz gern mal ein bisschen ausgeblendet. Und es wird vor allem auf diese stolze Insel-Haltung abgehoben."
Ein Beispiel: der Zweite Weltkrieg. In Großbritannien werde gerne die Rolle der Amerikaner heruntergespielt. Vielmehr beziehe man sich auf das "Wir gegen den Rest der Welt"-Gefühl mit Winston Churchill im Fokus.

Zu der Selbstbetrachtung gehört auch, dass Großbritannien sich von den kontinentaleuropäischen Ländern gehemmt sieht. Ein britischer Exzeptionalismus wird betont. Die Annahme, dass Großbritannien eben vom ganzen Wesen andersartig sei. Ein problematischer Ansatz, sagt von Bismark:

"Warum haben jetzt Großbritannien und Frankreich weniger miteinander gemeinsam, als Polen und Portugal? Warum sind diese anderen Länder gleicher miteinander, als sie es mit Großbritannien sind? Und das ist meiner Ansicht nach der intellektuelle Fehlschluss, auf dem dieses ganze exzeptionalistische Argument beruht. Weil man nämlich über sich selbst redet, davon ausgeht, man sei anders als die anderen. Man setzt sich aber gar nicht damit auseinander, wie die anderen eigentlich sind."

Mehr zum Thema