"Bridgerton", Staffel 2
Entspannt in die zweite Staffel: Anthony und Benedict Bridgerton. © Liam Daniel/Netflix
Den Figuren fehlt der Mut
06:35 Minuten
Die erste Staffel der Netflix-Serie "Bridgerton" war ein Riesenerfolg. Nun ist die zweite gestartet, doch die kann mit dem Auftakt nicht mithalten. Die Erzählwelt dümpelt dahin, die Figuren wirken mutlos.
Daphne ist heiratsfähig und wird als Debütantin in die feine Gesellschaft eingeführt. Ihr ältester Bruder Anthony ist Ende 20 und Herr des Hauses. Als beide nicht schlafen können, wollen sie Milch aufwärmen in der Küche: Sie stehen vor dem Ofen und wissen nicht, wie man ihn entzündet. Das Personal schläft schon.
Die acht ersten Folgen "Bridgerton" waren nach Weihnachten 2020 die damals meistgesehene Netflix-Produktion (im Herbst 2021 überholte dann "Squid Game"). Nachdem Daphne in Staffel 1 ihr Glück mit Herzog Simon fand, geht Jonathan als Hauptfigur acht weiterer Folgen viel kühler und methodischer auf Brautschau: eine arrogante Figur, wie sie vor 25 Jahren von Hugh Grant gespielt worden wäre.
Die zweite Staffel misslingt, weil Anthony nicht kämpft, keine neuen Dinge ausprobiert, nie tragisch scheitert und über sich hinauswächst, sondern Stunden schweigend überlegt, ob eine vernünftige Ehe mit der stillen, herzigen Edwina Sharma reicht, oder ob er gegen alle Vernunft Edwinas ältere, bissigere Schwester umwerben soll. Diese Schwester schweigt ebenfalls die meiste Zeit und überlegt, was sie Edwina damit antäte, schließlich sucht sie ja gar keinen Ehemann, sondern will nach Indien heimkehren und als Gouvernante leben.
Adels-Märchen im "Sissi"-Stil
"Bridgerton" ist Farbe und Exzess. Zu viele Figuren, zu viele Intrigen, viel zu viele Bälle, Blumengirlanden, Etageren. Doch unter jeder Frauenfigur kann jederzeit der Boden wegbrechen: zu wenige Rechte, zu wenig Besitz, zu wenige Möglichkeiten, sich zu wehren und zu verwirklichen. Der Druck, mit dem Kate ihre Schwester Edwina durch die Londoner Ballsaison 1814 lotst? Anthonys Ängste, für seine verwitwete Mutter und seine sieben Geschwister sorgen und entscheiden zu müssen? Figuren voller Verve, Schwung und Tricks, die aber oft keinen Ofen anwerfen können, oder - wie Daphne in Staffel 1 - noch weit nach der Hochzeitsnacht nichts über Verhütung wissen.
Wer das als bloßes Adelsmärchen im "Sissi"-Stil genießt, findet auch in den neuen Folgen ein (zu langes) Pferderennen, ein (zu langes) Krocket-Match und, als Tief- und als Höhepunkt einer schleppenden Staffel, ein Fest, auf dem niemand erscheint - also tanzt die Gastgeber-Familie endlos alleine selbst im Kreis, für sich. Wer die vielen charismatischen Darsteller*innen mag, mag sie danach noch mehr. Die Figuren aber verlieren, denn die Erzählwelt dümpelt dahin.
Color-conscious Casting
Was also lief hier schief? - Von 2000 bis 2006 erschienen acht "Bridgerton"-Romane, in denen Romantik-Autorin Julia Quinn je eins der Bridgerton-Geschwister die große Liebe finden ließ. Eine Familie aus Nebenrollen, die dann für jeweils einen Band zur Hauptfigur werden. Die Netflix-Version will alle acht Romanzen erzählen (Staffeln 3 und 4 sind in Arbeit) und nimmt sich erzählerische Freiheiten: Im Roman hat Kate Angst vor Gewittern und bricht sich das Bein bei einem Unfall in der Kutsche. Bei Netflix reitet sie durch den Sturm und treibt ihr Pferd zu Sprüngen an.
Markant an der Verfilmung ist, was die Presse gern "Colorblind Casting" nennt, doch Showrunner Chris van Dusen lieber "color-conscious Casting": bewusst und aufmerksam statt blind. Figuren, die bei Julia Quinn allesamt weiß sind, werden bei Netflix als Menschen of Color gezeigt. Das liegt, erklärt die Serie in einem Nebensatz, an Königin Charlotte von Mecklenburg-Strelitz. Tatsächlich könnten einige von Charlottes Jahrhunderte entfernte Vorfahren Menschen of Color gewesen sein.
Die Serie aber geht viel weiter. Dort erklärt Lady Danbridge: "We were two separate societies, divided by colour until a king fell in love with one of us." Weil König George eine Frau of Color liebt, ist Rassismus kein Thema mehr - und überall tanzen vermögende Adlige of Color? Was in Staffel 1 anfangs utopisch, subversiv und mutig wirkte, wird dürftiger mit jeder weiteren Folge, in denen niemand über Kolonialismus spricht oder über Sklaverei in Amerika.
Komplizierter Plot macht keinen Spaß
Wie progressiv will diese Serie sein? In Staffel 1 traf Schöngeist Benedict Bridgerton einen schwulen Mentor. Jetzt fehlt die Figur. In Staffel 1 musste Anthony von seiner Geliebten, der Opernsängerin Siena, unangenehme Wahrheiten hören. Staffel 2 verzichtet auf Siena und macht Anthony deutlich verkniffener, bürgerlicher.
Statt die 30, 40 Nebenrollen zu interessanten neuen Duos zu mischen oder in andere Milieus zu schaffen, zeigt Staffel 2 über alle Figuren nur, was die acht ersten Folgen schon zur Genüge erklärten, besonders ein komplizierter Plot über die Frage, wer unter dem Decknamen "Lady Whistledown" anonyme Flugblätter voller Gerüchte drucken lässt und, ob das feministisch ist oder vor allem Schaden anrichtet, macht an keiner Stelle Spaß: Wegen Whistledowns Newsletter wurde schon Staffel 1 gern mit der Teenie-Reihe "Gossip Girl" verglichen (die "Gossip Girl"-Romane erschienen erst nach Julia Quinns Büchern). Ohne Mühe könnte fast jede Szene in Staffel 2 alles ändern, vertiefen, toll verkomplizieren - hätte eine Figur Mut, etwas zu sagen oder zu fragen, vor dem sie Angst hat.
Soap-Bausteine nach Schema F
Staffel 1 hatte zwei solcher Mut-Figuren: Daphne und Herzog Simon waren schon nach drei, vier Folgen ein festes Paar, nach Folge 5 verheiratet, und trotz großer Liebe musste alles von ihnen ausgehandelt, erklärt und erstritten werden: Hat Simon gute Gründe, kinderlos zu bleiben? Wie gehen wir mit der sexuellen Gewalt um, die Sympathie-Figur Daphne verübt, indem sie Simon beim Sex nicht aufhören lässt, sondern einen Samenerguss erzwingt? Je schiefer diese Widersprüche, je ungeheuerlicher jede Wendung, desto mehr packt "Bridgerton": Erst Kate und Anthony sind umringt von Nebenrollen im Warte- und Leerlauf-Modus, und tun selbst nicht nur nichts Falsches oder Schlimmes, sondern gar nichts.
Eine geplante Ableger-Serie über die junge Königin Charlotte macht Hoffnung - und auch, dass Staffeln 3 und 4 von einer neuen Showrunnerin verantwortet werden, Jess Brownell. Dass der große Star von Staffel 1, Simon-Darsteller Regé-Jean Page, fehlt, ist verkraftbar: Die "Bridgerton"-Welt ist groß und wird nur besser, wenn sie endlich wieder wachsen, wuchern, eskalieren darf.
Staffel 2, das war wie Milli und Steffi bei "Verbotene Liebe" 1999, als Nick die falsche Schwester zum Altar führt und, statt das Jawort zu geben, auf Milli starrt. Oder Dana und Marlene bei "Verbotene Liebe" 2011, als Hagen die falsche Schwester zum Altar führt und statt der Braut plötzlich Dana laut antwortet: "Ja, ich will." All das sind Soap-Bausteine nach Schema F, die niemand sehen muss, der für das Genre keine Grund-Geduld und -Neugier aufbringt.