Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
415 Seiten, 24,90 Euro
Er durfte im Feuermeer sterben
Ungewöhnliche Kriegskorrespondenz enthält eine Briefsammlung des Ehepaars Lily und Otto Braun. Alle vier Schreiber halten den Ersten Weltkrieg für einen Gewinn und versuchen, jedem Ereignis einen idealistischen, teils verblasenen Sinn zu geben.
"Eine Familie im Krieg" ist ein Buch, das körperliche Reaktionen provoziert. Man schüttelt den Kopf und murmelt "Das gibt's doch gar nicht". Denn die Familie Braun samt Hausfreundin Julie Vogelstein erlebte den Ersten Weltkrieg in einer Verfassung, die aus heutiger Sicht fremd, seltsam und oft auch bizarr erscheint. Anhand der Kriegskorrespondenz (etwa 2.000 Briefe) entfaltet die Historikerin Dorothee Wierling ein komplexes, intimes Psychogramm der vier Protagonisten, das zugleich ungewöhnliche Innenansichten des Krieges bietet.
Die Konstellation erscheint romanhaft. Lily Braun (geboren 1865) war Sozialdemokratin und Feministin, hatte neben ihrem Mann den italienischen Liebhaber Tancredi, gab sich stets klug, gebildet, progressiv − und war zugleich nationalistisch, antisemitisch, irre kriegsverliebt, sobald die Waffen sprachen, und fanatisch genug, um trauernden Soldatenmüttern zu diktieren: "Für all die Hirne, die die Kugeln durchbohren, schafft andere Hirne, viele kleine Kinderhirne." Lilys Mann, Heinrich Braun (geboren 1854), unterstützte ihre Projekte und ihre Liebschaft, litt an Geldsorgen und wurde angesichts seines Scheiterns in der SPD und als Zeitschriften-Herausgeber depressiv. Woran auch seine Beziehung zur viel jüngeren Julie (geboren 1883), einer Kunsthistorikerin mit schrulliger Antikenfaszination, wenig änderte.
Alle drei hatten einen Fetisch: Otto, den hochbegabten, altklugen Sohn (geboren 1898), der passabel dichtete, Stefan George verehrte und 1914 freiwillig an die Front ging. Seine Erlebnisse als Soldat sind der chronologische Faden des Buches. "Ein Mensch wie Gott sich ihn erträumt und er ihm nur dies eine Mal geglückt!" schwärmte Julie. Sie ging mit den Eltern davon aus, dass Otto nach dem Krieg einer der Gestalter Deutschlands werden würde. Aber im April 1918 zerriss ihn eine Granate. Das Phantasma seiner Unsterblichkeit war dahin − verklärt wurde er umso mehr.
"Leben im Tod für's Vaterland"
Alle vier Briefschreiber halten sich selbst für bedeutend und den Krieg, trotz Leid und Leichen, für einen persönlichen, kulturellen und nationalen Gewinn. Sie versuchen jedem Ereignis einen idealistischen, teils verblasenen Sinn zu geben. Als etwa ein Freund Ottos fällt, jubelt Julie: "Statt zu versanden, durfte er nun im Feuermeer sterben. Das Griechentum stieg einmal aus seinen Büchern und ward Leben statt Papier, Leben im Tod für's Vaterland." Und alle können auf ihre Weise gut formulieren. So gut, dass Wierlings Erläuterungen teils redundant und banal wirken, zumal sie nicht die politisch-gesellschaftliche Situation in den Kriegsjahren aufblendet, sondern stets im Privaten bleibt.
Über die Deutschen im Krieg sagt das oft packende, in den Wierling-Passagen manchmal nervige Buch wenig aus. Das Individuelle übertrumpft das Allgemeine bei weitem. Gleichzeitig liegt darin der Reiz. Objektive Informationen über den Ersten Weltkrieg gibt's genug. Wierlings Buch erlaubt es, ihn aus einer radikal subjektiven Perspektive nachzuerleben − und die immense Distanz zu spüren, die man heute zu den Protagonisten hat. Als Otto 1915 im Schützengraben ankommt und ihm zersprengte Leiber um die Ohren fliegen, schreibt er: "Es ist eben so wunderbar schön, schön, schön, trotz des Grauenhaften, was ich gerade hier sah." Kaum nötig zu sagen: Die Unterstreichungen stammen von Otto selbst.