Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf: "Der Briefwechsel"
Hrsg. v. Christoph Hilse und Stephan Opitz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015
335 Seinen, 22,90 Euro
"Rüder Schöngeist" an "prominentesten Literaturkritiker"
Fast 40 Jahre lang tauschten der Schriftsteller Peter Rühmkorf und der damalige FAZ-Literaturchef Marcel Reich-Ranicki Briefe aus. Der von den Herausgebern minutiös kommentierte "Briefwechsel" zeigt, was die beiden für das FAZ-Feuilleton geleistet haben. Obwohl der Umgang miteinander auch rüde war.
"Gott hat für die Erschaffung der Welt sechs Tage gebraucht, und wie viel brauchen Sie für eine Kritik? Doch wird diese gewiss vollkommener sein als jene", schreibt Marcel Reich-Ranicki am 7. Januar 1976 an Peter Rühmkorf. Der seit 1973 als Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) tätige Reich-Ranicki bringt in den wenigen Zeilen zum Ausdruck, was die Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller so problematisch und dennoch lohnend macht: Rühmkorf muss immer wieder gemahnt werden, weil er versprochene Texte nicht termingerecht liefert, doch was den Redakteur erreicht, begeistert ihn in der Regel: "Sie sind ein ekelhafter Mensch. Aber ihr Aufsatz über Gernhardt ist vorzüglich, ja hervorragend", schreibt Reich-Ranicki am 18. Januar 1985 an Rühmkorf.
Der von den Herausgebern minutiös kommentierte Briefwechsel zeigt, wie Reich-Ranicki als FAZ-Literaturverantwortlicher bemüht ist, Peter Rühmkorf an das Blatt zu binden und wie der Schriftsteller zunehmend genervt auf die Ermahnungen reagiert: "Lieber Herr Ranicki, Sie mahnen mal wieder mitten in die Arbeit hinein; was glauben Sie denn, das ich hier seit Wochen hin und herwälze?!", lässt er am 14. November 1985 den Feuilleton-Verantwortlichen wissen.
Reich-Ranicki schweigt
Die 287 Briefe umfassende Korrespondenz zwischen dem "rüden Schöngeist" Rühmkorf und dem "prominentesten Literaturkritiker im deutschen Raum" erstreckt sich über fast vier Jahrzehnte. Im ersten Brief vom Juni 1967 fragt Reich-Ranicki bei Rühmkorf an, ob er an einem Sammelband zu Heinrich Bölls 50. Geburtstag mitarbeiten wird. Meistens sind die beiden freundlich miteinander umgegangen.
Zum Bruch allerdings kommt es, als Reich-Ranicki Günter Grass' "Ein weites Feld" im "Literarischen Quartett" scharf kritisiert und Rühmkorf im Brief vom 27. August 1995 das "autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches und der in ihm vertretenen Meinungen" beklagt. Reich-Ranicki antwortet weder direkt noch indirekt – er schweigt. Rühmkorf versucht im Oktober 1999, nachdem er Reich-Ranickis "Mein Leben" gelesen hat, den Kontakt wieder herzustellen.
Die Drohung wirkt
Doch Reich-Ranicki reagiert weiterhin nicht. Er antwortet erst, als ihm Rühmkorf am 30. Mai 2000 mit einem Gedicht und einer eigenhändigen Zeichnung zum 80. Geburtstag gratuliert: "Fünf Jahre Fehde, das sei, schreiben Sie, genug, zum Frieden sei es nie zu spät. – Recht haben Sie, ich bin ganz und gar einverstanden. Und was nun? Jetzt ist alles wieder in Butter? Nein, mein Lieber, so geht das nicht." Erst wenn der Dichter etwas Respektvolles über Reich-Ranicki schreibt, wäre der Kritiker bereit, das Geschehene zu "verdrängen". Bleibt ein freundlicher Artikel aus, dann "keinerlei Kontakt, bitte." Die Drohung wirkt: Am 27. November 2000 bedankt sich Reich-Ranicki bei Rühmkorf: "Ihr Beitrag über das unlängst erschienene Buch über mich hat mich berührt und gerührt. [...] Nun ist wirklich allerhöchste Zeit, dass wir unseren von Anfang an überflüssigen Streit beenden."
Konsequent – das zeigt der Briefwechsel – setzt Reich-Ranicki alles daran, aus dem Literaturblatt der FAZ das Maßstäbe setzende Feuilleton in der Bundesrepublik zu machen. Dass ihm das gelang, lag auch daran, dass er für dieses Projekt mit Rühmkorf einen "Essayisten und Polemiker von Gnaden" gewinnen konnte.