Brigitte Kronauer über ihr Leben und die Literatur

Ohne Schablonen

29:56 Minuten
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer sitzt auf einem Sessel in ihrer Wohnung in Hamburg, im Hintergrund liegen Bücher und Unterlagen (aufgenommen 2015).
Brigitte Kronauer 2015 in ihrer Wohnung in Hamburg. © dpa/ Daniel Reinhardt
Brigitte Kronauer im Gespräch mit Maike Albath |
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Mit flirrender Eleganz tauchte sie in Abgründe, so dass Alltägliches schnell zwielichtig und doppelbödig erschien. Die am 22. Juli 2019 verstorbene Schriftstellerin Brigitte Kronauer trieb ein ironisches Spiel mit der vermeintlichen Wirklichkeit.
Es ist Winter in Hamburg-Nienstedten. Tief verschneit liegt ein spitzgiebeliges Backsteinhäuschen da. In der Tür steht eine schmale Person, die selbst in schweren Kleidern etwas Schwebendes besitzt. Genauso wie ihre Romane und Erzählungen.
[Brigitte Kronauer bei einer Lesung] ",Wir gehören zusammen, wie der Wind und das Meer, das Meer‘, summte es in meinem Kopf zum Takt der Bügeleisenschwünge. Wer war der Wind? Wer war das Meer? Egal."
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer, Bewohnerin filigraner Sprachwelten und mehrerer Wirklichkeiten. Sie verfährt mit ihrer Umgebung wie eine erkenntnishungrige Forscherin und zerlegt sie in eine Fülle von Beobachtungen, Wahrnehmungen, Ereignissen und Gefühlen, die immer mehr als zwei Seiten haben. Neun Romane, drei Essaybände und etliche Erzählungen liegen von ihr vor. Die Titel verraten ihre Schwäche für Mehrdeutigkeit: "Frau Mühlenbeck im Gehäus", "Berittener Bogenschütze", "Die Kleider der Frauen", "Errötende Mörder" und zuletzt "Zwei schwarze Jäger".

Dieses Gespräch ist die Wiederholung eines Beitrags aus der Sendung "Literatur" von Deutschlandradio Kultur vom 28. Dezember 2010.

Unvorstellbar, dass Brigitte Kronauer morgen ihren 70. Geburtstag feiert, so quecksilbrig fegt sie durch ihr Haus, läuft treppauf, treppab, bringt Wasser, holt ihre Brille, zündet sich eine Zigarette an. Wir setzen uns ins Wohnzimmer. Bücherregale und Bilder an den Wänden, ein großer Esstisch. Eine Katze rekelt sich auf dem Sofa und nimmt die Besucherin abwartend ins Visier. Vor dem Fenster steht ein knorriger Baum, an dessen Schnee beladenen Ästen ein paar rote Äpfel aufblitzen.
[Brigitte Kronauer bei einer Lesung] ",Was mich immer gewundert hat‘, sagte sie, meine Mutter, über die ich mit niemandem außer mit mir selbst sprechen will, nie mehr. Niemand außer mir hat das richtige Bild von ihr. Sie beugte sich über den Bügeltisch: 'Was mich wundert, ist das Verhalten des Aladin, als er die Prinzessin endlich…'"
Das Erzählen war für Brigitte Kronauer von Anfang an da:
"Das hat mich einfach, in meiner Erinnerung zumindest, umschwirrt. Es war vor allen Dingen meine Mutter. Das fing, als ich noch sehr klein war, mit dem Aufstehen an. Sie hat sehr gern erzählt, als ich etwas größer war, da war ich vier, da war sie berufstätig, weil mein Vater noch in der Kriegsgefangenschaft war, dann hat sie das natürlich auf morgens und abends beschränkt. Aber sie war einfach jemand, neben den Verwandten, damals lebte man noch in größeren Familien zusammen, notgedrungen auch, weil viele Häuser kaputt waren, auch meine Tanten waren ganz gute Erzählerinnen, aber meine Mutter war schon die beste und auch vielleicht die belesenste. Das heißt nicht, dass sie bewusst Tricks von der Literatur übernommen hat, aber sie ist daran sicherlich geschult worden, und sie konnte auch... sie hat meinem Vater Kriminalromane erzählt. Die wollte er gar nicht lesen, sondern von ihr hören, und die sind bestimmt nicht schlechter dadurch geworden."

Frühlingswiesen und Trümmer

Maike Albath: Wie können wir uns das Umfeld vorstellen, Sie sind Jahrgang 1940, in das Sie hineingeboren wurden? Es war ja noch ein Land im Krieg.
Brigitte Kronauer: Wir sind 1943, wir wohnten eigentlich in Münster… Ich bin in Essen nur so nebenbei zu Welt gekommen, beim Besuch bei den Schwiegereltern. Das war eine Stadt, die 1943 sehr stark bombardiert worden ist, und deshalb sind wir nach Österreich gegangen, meine Mutter, mein Bruder und ich. Ich habe dann von den Bombardierungen als ganz kleines Kind eine diffuse Erinnerung an einen umkippenden brennenden Kirchturm und an die Fliegerangriffe, also dass wir dann bei Fliegeralarm in den Keller mussten, das ist eine nur noch gefühlsmäßig dunkle Erinnerung. Dann kam diese wunderbare Zeit in Österreich, wo wir zweieinhalb Jahre waren, die einfach eine Erinnerung ist, die jetzt immer noch entsteht, wenn ich Frühlingswiesen sehe. Wenn die kleinen Blumen kommen, das ist die Höhe, die man als Kind hat, dann ist sofort, auch atmosphärisch, diese Erinnerung an diese Almwiesen und an diese völlig idyllische Umgebung und Landschaft fern vom Krieg da. Und dann kam etwas wie ein Schock, das völlig zerstörte Ruhrgebiet. Wir haben in Trümmern gespielt, für uns als Kinder wunderbar, aber es hat dann doch die Natur gefehlt.
Maike Albath: Kinder haben dann vielleicht doch Möglichkeiten, sich zu entziehen und die Fantasie zu benutzen, um auch dieses Trümmerhafte und das Kaputte bewohnbar zu machen für sich.
Brigitte Kronauer: Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Wir haben zum Beispiel die Trümmer als Fundgrube benutzt. Mir fällt jetzt dann auch noch mal ein, in der Nähe war offenbar ein Dentist, der seine Gipsgebisse, die Abdrücke dahin geschmissen hat, der hat das als Abfalldeponie benutzt, und wir haben die dann sehr gierig gesucht, weil man damit sehr gut auf den rauen Bürgersteigen schreiben konnte. Und dieses Spiel, was man jetzt nur noch sehr selten sieht, dass wir uns Zimmer auf die Bürgersteige gemalt haben, das waren wahrscheinlich immer nur sehr kurze Spiele, aber sehr eindrücklich, dass wir dann in diesen Zimmern wohnten. Das waren sehr elegante Räumlichkeiten mit Kinderzimmern und großem Bad und so weiter, wie wir uns das vorstellten, man konnte sich da nur reinstellen, aber es war irgendwie ein Vergnügen.
Maike Albath: Das kann ich mir gut vorstellen. Dass man sich da eine Behausung schafft in dem augenscheinlich Unbehausten. Mir erklärt sich auch, dass Sie vielleicht eine so große Nähe zu Bergen oder zu diesen ganz starken Naturlandschaften immer wieder herstellen in den Büchern, in den Romanen. Die Figuren sind ja oft mitgerissen von der Wuchtigkeit, häufig sind es eher Schweizer Berge, wenn ich mich jetzt erinnere an den Mont Blanc in "Zwei schwarze Jäger", aber das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Sie das als Kind sehr stark so erlebt haben.
Brigitte Kronauer: Ganz sicher. Und vor allem in dem Kontrast. Wobei es bei mir so ist, dass ich es fast datieren könnte, dass es eigentlich Wald- und Meereslandschaften sind am Anfang, und dann habe ich so Anfang der 90er-Jahre richtig die Berge kennen gelernt, und das war für mich deshalb auch noch mal großartig, weil ich nicht gedacht habe, ich würde von einer Landschaft so überwältigt werden. Und jetzt mit den Bergen − natürlich in einer Rückkoppelung zu den ganz frühen Erinnerungen, mit dieser ganz anderen Landschaft, auch als meine Flachlandumgebung hier, konfrontiert zu werden. Da war das Sensorium vorbereitet beziehungsweise nicht vorbereitet, aber es war sehr aufnahmefähig für diese großen Volumina und Perspektiven, die die Gebirgswelt dann bietet.

Der ungeheure Eindruck der Berge

Maike Albath: Es kommt ja in sehr vielen Büchern vor, vor allem in den letzten Romanen. Mir ist auch aufgefallen, dass trotz dieser Erfahrung, dass es eigentlich abgegriffene Motive sind, was die Figuren ja häufig reflektieren, sie dennoch diese Tiefe dann erleben. Sie können sich dem Eindruck, der dann doch so ungeheuerlich ist, nicht entziehen. Da gibt es also immer noch ein ursprüngliches Moment. Woran liegt das?
Brigitte Kronauer: Das liegt vielleicht daran, weil ich einerseits natürlich ganz bewusst gegen Klischees arbeite und vielleicht ganz besonders dann auch gegen touristische Klischees, aber das ist für mich eigentlich nicht sehr schwer. Das ist ja das Großartige an den Bergen, dass der Eindruck so ungeheuer ist, dass es mich direkt trifft, alles das, was ich vielleicht als Postkartenmotiv kenne, verblasst dahinter. Ich hab's dann als ganz anders empfunden, ich lese im Augenblick wieder verstärkt so zwischendurch Stifter, bei dem ja auch die Gebirgswelt eine Rolle spielt und kann nur mit großer Bewunderung sagen, dass er es wunderbar beschreibt, und es ist erstaunlicherweise, so wie er es beschreibt, auch nicht ein Klischee von heute geworden. Es trifft mich im Grunde genommen bei ihm in der Beschreibung genauso stark wie in der Wirklichkeit.
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer steht lächelnd an der Wand gelehnt an einem Durchgang in Mainz.
Brigitte Kronauer schaffte den Durchbruch 1980 mit ihrem ersten Roman "Frau Mühlenbeck im Gehäus". Auf diesem Bild ist sie 2000 in Mainz zu sehen.© dpa
Maike Albath: Das ist auch etwas, was ein ästhetischer Zugriff leistet − seine Art zu schreiben −, der nicht abnutzbar ist. Das ist schon verblüffend, und das liegt vermutlich wieder an der Form. Die Form spielt ja für Sie auch immer eine große Rolle, gerade gegenüber diesen automatisierten Wahrnehmungen. Wie können Sie da bestimmten Schablonen entkommen?
Brigitte Kronauer: Die Schablonen lösen sich einfach schnell auf. Ich empfinde sie als falsch. Wie man Kleider als zu eng oder zu weit empfindet. Es besteht gar kein Kontakt zwischen meinem Erleben und den Schablonen. Nur wenn man vielleicht sehr unkonzentriert ist oder sehr mit anderen Sachen befasst, sehr zerstreut, dann fällt man natürlich in Schablonen. Ich würde nicht sagen, dass mir das nie passiert, auch Menschen gegenüber, und Schablonen sind ja auch eine gewisse Hilfe, um sich vor zu starken Eindrücken oder Zerstreuungen oder zu großer Differenziertheit oder zu großer Subtilität, dagegen zu wehren. Aber wenn ich einigermaßen wach bin, ist das persönliche Erleben so stark, dass die Klischees, die allgemeinen Muster gar keine Chance haben. Man muss dann aber beim Schreiben aufpassen, dass man nicht doch in diese Sachen reinfällt, und ich würde auch nicht sagen, dass mir das nicht gelegentlich passiert. Aber man überarbeitet ja Texte, und dann, wenn ich dabei bin, bei der Überarbeitung, stört es mich entsetzlich. Dann muss es natürlich zerstört oder eliminiert werden, oder manchmal genügt eine kleine Drehung, ein einziges Wort, um die Sache wieder etwas originärer oder origineller zu machen.

Gegen das Erzählen der Mutter zur Wehr gesetzt

Maike Albath: Gerade durch dieses Erzählen, von dem Sie so umgeben waren, von ihrer Mutter und von den Tanten, haben sich ja auch verschiedene Muster vermutlich verfestigt. Sie schildern das in der Schiller-Rede, die Sie in Marbach gehalten haben, dass das so einen Widerstand erzeugt hat bei Ihnen, sich dann auch selber die Welt aneignen zu wollen und erzählen zu wollen. War das ein ganz bestimmter Zeitpunkt, als das plötzlich ins Spiel kam?
Brigitte Kronauer: Ich könnte ihn nicht definieren. Aber ich vermute, je mehr man dann ein eigenständiges Lebewesen wird, wird einem bewusst, dass da eine Differenz besteht und man diese eigentlich sehr schöne Art und Weise, wie erzählt wird, doch auch als eine Art Vergewaltigung des eigenen Erlebens empfindet. Ich hab' sicherlich eine längere Zeit gebraucht, um zu einer Gegenmaßnahme zu kommen, die vielleicht bis heute noch wirksam ist, dass ich mich im Grunde genommen gegen dieses packende Erzählen meiner Mutter zu Wehr setze. Ich will nicht sagen, dass ich extra gestottert habe, aber es ist eine Art Trotz entstanden und natürlich der Ansporn, dahinter zu kommen, wie sehe ich's denn eigentlich.
Das bezieht sich auch auf die Form, auch auf die Struktur, diese von ihr virtuos beherrschten Geschichtenmuster, ich will nicht sagen, zu zerstören zunächst mal, das ist nachher gekommen, aber ein bisschen eine Erosion ins Spiel zu bringen und sie zu verbiegen und eine Pointe zu umgehen oder ein Ende etwas ausklingen zu lassen oder einen Anfang nicht so dezidiert zu setzen. Das ist etwas, was ich dann, als ich älter geworden bin, das ist aber ein langer Prozess gewesen, sehr bewusst zu einer formalen Maßnahme gemacht habe. Zu Experimenten, wie man die mächtige Geschichtenstrukturierung zerstören könnte.
Maike Albath: Sie haben ja in den 70er-Jahren angefangen, im "Nachtcafé" zu veröffentlichen und in diesen kleineren Verlagen, Berr Schlender, und Dreibein fällt mir noch ein, und haben dann ja festgehalten am Schreiben, obwohl Sie keinen großen Verlag fanden. Was hat Ihnen da die Kraft und die Lust gegeben, weiter zu schreiben?
Brigitte Kronauer: Die Lust war kein Problem, die war da, es war mehr als eine Lust, es war fast so etwas wie ein Überlebensprinzip. Wenn ich nicht geschrieben hätte, dann hätte ich die Freude am Leben verloren. Es hätte mir etwas ganz Entscheidendes gefehlt, also es war offensichtlich ein Antrieb oder sogar Trieb, eine Energie da, die unbedingt jetzt nicht darüber schreiben wollte, was in mir steckt, sondern wie ich die Welt mir darstellen will. Was die Ausdauer betrifft, so hat es ein paar Freunde gegeben, die mich gestützt haben. Ich war mir mit meinem Mann sehr darüber einig, dass ich das weiterführen wollte. Es gab dann die finanzielle Möglichkeit, das weiter zu machen und dann auch mit meinem Brotberuf als Lehrerin aufzuhören.
Ich glaube, es ist aber letzten Endes, von diesen äußeren Bedingungen abgesehen, doch so etwas, würde ich heute ungeniert sagen, wie ein Schicksalsimpetus, der nicht auszurotten war, trotz, das will ich gestehen, großer Entmutigungen. Die immer zurückkommenden Manuskripte waren schon eine harte Nuss. Das ist nicht leicht für mich gewesen, hat mir auch schweren Kummer gelegentlich gemacht, aber jetzt daraus die Konsequenz zu ziehen zu sagen "Ich lasse es", das hat sich für mich nicht gezeigt, obschon ich sagen muss, dass ich damals vor Lektoren einen viel größeren Respekt hatte. Ich hab' ihnen ein großes Urteilsvermögen zugetraut, aber das Vertrauen in mein eigenes Urteilsvermögen ist dann offenbar doch stärker gewesen.
Maike Albath: Vielleicht hat es Ihnen auch geholfen, an Ihrer Art des Erzählens festzuhalten. Wenn Sie schon viel früher zu Klett-Cotta oder zu einem anderen Verlag gekommen wären, 1980 haben Sie dann mit "Frau Mühlenbeck im Gehäus" bei Klett-Cotta begonnen, dann hätte das vielleicht dazu geführt, dass Sie Ihren Stil auch verändert hätten. So waren Sie eine fertige Erzählerin, als Sie dann schließlich einem größeren Publikum bekannt wurden. Vielleicht konnten Sie auch heranreifen in dieser sehr langen Phase des Für-sich-Schreibens.
Brigitte Kronauer: Ich bin davon überzeugt. Ich weiß, dass es heute ganz andere Möglichkeiten gibt für junge Autoren. Ich kann jetzt nicht beurteilen, wie schädlich Literaturinstitute und diese vielen Foren und sehr früh einsetzenden Stipendien sind. Für mich beklage ich nicht diese Phase. Und ein bisschen mehr Strenge würde möglicherweise auch jungen Autoren gelegentlich nicht schaden. Es wird ihnen etwas vorgegaukelt, dass das eine Berufskarriere ist, die man fast wie einen anderen Beruf ergreifen kann, und wenn sie etwas älter sind, werden sie merken, dass sie sich ungeheuer täuschen, und zwar auf zweierlei Ebenen, auf der finanziellen und auch auf der formalen Ebene. Ich glaube, dass vielen dann das passiert, dass sie einen Erfolgsroman sehr früh schreiben und plötzlich gar nicht mehr wissen, wie soll ich denn schreiben, und dann abgleiten in so einen allgemeinen Mainstream. Sie werden normalisiert. Und das Normalisiert-werden ist für einen Schriftsteller, wenn man das jetzt als Kunst auffasst, für eine künstlerische Literatur sicherlich tödlich. Denn es kommt ja gerade darauf an, dass man diesen Unterschied zum allgemeinen Sprechen festhält und daraus seine Kraft bezieht und dadurch in der Lage ist, etwas eigenes herzustellen, aber auch die Kraft dieses Widerstandes für das eigene fruchtbar zu machen.

Im Bett mit Enzensbergers Lyrikband

Maike Albath: Für Sie war ja die Avantgarde sehr wichtig, die Entdeckung der Avantgarde. Lag das auch an dieser sehr revolutionären und sehr eigenen Formgebung, die da für Sie ganz neu war zunächst?
Brigitte Kronauer: Ich rekonstruiere es so für mich, dass wir natürlich in der Oberstufe des Gymnasiums sehr mit Nachkriegsliteratur, mit älterer, und dann eben mit der damals sehr gefeierten Literatur, also das war dann so was wie Heinrich Böll … oder Bergengruen fällt mir jetzt gerade so ein. Ich will diese Leute jetzt gar nicht schlecht machen, aber das war eben eine Literatur, die mir sehr normal vorgekommen ist. Sie hat mich nicht sehr angesprochen damals, und dann hörte ich gewissermaßen, dass es so etwas gab wie eine Avantgarde. Da war für mich, das war unmittelbar nach dem Abitur, dieser Lyriksammelband von Hans Magnus Enzensberger, "Das Museum der modernen Poesie" − ein Fach also, zu dem ich gar nicht geneigt habe, Lyrik − war für mich eine Offenbarung. Ich weiß noch, dass ich in Bochum, ich habe da gejobbt, bei einem Buchhändler alle zwei Tage hingerannt bin und gefragt habe: Ist das Buch jetzt raus? Der hatte mir davon erzählt: "Da kommt etwas ganz Tolles, wenn Sie sich für moderne Sachen interessieren", und als es dann endlich da war, ich war 19 Jahre alt und hatte dann dieses Buch, 1960 erschienen, druckfrisch in der Hand, das war noch so eine Art Paperback, es ist später dann als Hardcover erschienen, das war für mich so etwas wie eine Bibel. Ich glaube, ich bin damit wirklich ins Bett gegangen. Und da war das für mich, als würde eine Glocke geöffnet, wo jetzt die frische Luft rein kam.
Maike Albath: Sehr wichtig für Sie ist ja dieses Spannungsverhältnis, das immer besteht zwischen der Form und dem, was man erzählen will, also diesem Stoff. Viel, das betonen Sie ja auch an manchen Stellen, nehmen Sie doch aus Ihrem ganz alltäglichen Erleben. Also, dieses Verhältnis zur eigenen Wirklichkeit, die einen umgibt: Ist man da eigentlich sehr räuberisch im Umgang?
Brigitte Kronauer: Ja. "Ausbeuterisch" könnte man sogar noch etwas strenger mit sich selbst sagen, übrigens auch dem eigenen Leben, nicht unbedingt jetzt in einem autobiografischen Sinne, aber doch, was Details etwa der Kindheit betrifft. Da muss man gar nicht von der Kindheit reden, aber die starke Eindrucksfähigkeit, die man als Kind hat und die ich mir hoffentlich etwas erhalten habe, die wirkt fort. Ich beziehe aus der alltäglichen Umgebung, aus dieser sehr normalen Umgebung, in der ich lebe, sehr viel, was auch damit zusammenhängt, dass mich Exotik in dem Sinne wenig interessiert hat. Ich habe das Gefühl, da wird schon etwas Originelles vorgegeben, während es mir darauf ankommt, und zwar nicht nur mit dem Kopf, sondern in einer tiefen Lebens- und Menschenüberzeugung, dass die Menschen originell sind. Und dass sie eigentlich oft, zumindest, was ihre Artikulation betrifft, Opfer der Konvention sind und sich zunächst immer so sehr normal und vielleicht auch abgegriffen äußern, wenn man einen glücklichen Moment erwischt und länger spricht, zum Beispiel im Zug auch, kommen da ganz erstaunliche Sätze aus den Leuten raus.
Dann stelle ich natürlich meine Ohren auf und bin hellwach, und das sind dann so wichtige Spuren für mich, zu vermuten, dass das Innenleben der Leute und ihre Wahrnehmung − und die bestimmt ja sehr stark die Wirklichkeit, man soll das Innenleben nicht immer so als handlungsarm abqualifizieren, es bestimmt ja unsere Handlungen − dass da ein viel differenzierterer Kosmos ist, der im gesellschaftlichen Normalleben nicht ermutigt wird, sondern ganz im Gegenteil lernt man als Mensch: Drücke dich bescheiden aus, sonst könntest du für hochgestochen gehalten werden, du wirst nicht verstanden, oder du machst dich wichtig. Das hat ja auch seine Gründe, dieses sehr pragmatisierte Sprechen, aber es gibt uns Menschen zu leicht das Gefühl, dass wir innen auch so sind, und das ist eigentlich hoffnungslos. Also insofern glaube ich sehr an das Individuum in seinen Wahrnehmungsfähigkeiten.
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer steht mit ihrem Buch vor einem Spiegel und blick uns aus diesem lächelnd entgegen. Sie erhielt 2005 in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis.
Brigitte Kronauer wurde 2005 in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. © dpa/ Carmen Jaspersen
Maike Albath: Dazu passt auch Ihre große Vorliebe für das Zweideutige. "Zweideutigkeiten" heißt ein Essayband von Ihnen. Eigentlich ist es ja immer so, dass Sie nach diesem Aspekt im Menschen suchen, in Ihren Figuren gibt es diese Häutungen häufig. Was macht die Ambivalenz so interessant für uns?
Brigitte Kronauer: Zunächst mal halte ich die ambivalente Perspektive, eine Perspektive, die Ambivalenz erkennt, für die richtigere. Und ich könnte sogar sagen, für die wahrere. Ich glaube, dass die Einheitssicht oder dass der Glaube an ein homogenes Inneres ein Trugschluss ist, und ich muss da fast selber korrigieren, wenn ich gelegentlich geschrieben habe, so etwa "Das ist der Beginn der Moderne", das ist eigentlich Quatsch. Bei guten Autoren entdeckt man die Ambivalenz, ohne dass sie pragmatisch betrieben wird, immer wieder. Ich bin immer ganz glücklich, wenn ich wieder feststelle, wenn ein Autor den Held plötzlich dreht, in ein anderes Licht stellt, einen Schluss zweiköpfig, janusköpfig werden lässt, wobei man es auf gar keinen Fall wiederum zu einer Manier werden lassen soll, das ist schon klar. Aber man kann wohl sagen, dass in der Moderne, egal, wo man die jetzt ansetzen will, diese Betrachtung oder dieser Unglaube an einen homogenen Helden, entscheidend ist. Und ich halte das deshalb für wichtig, weil es nicht nur der wahre Blick auf die Verhältnisse ist, sondern weil es uns viel mehr Freiheit gibt. Dass man sich darüber im Klaren ist. Es gibt fast zu allen Dingen und auch zu allen Menschen in der Beurteilung von Menschen, von Sachverhalten, von Lebensabschnitten, und man ist nicht nur zu einer Wirklichkeit und einer Sicht verdammt, sondern man kann sich etwas verrücken, und die Sache sieht vielgestaltiger aus. Und ich glaube, dass wir Menschen uns gelegentlich schon dadurch unglücklich machen, dass wir so besessen sind von einer fast ideologischen Perspektive.

Das Alter ist ein schreckliches Klischee

Maike Albath: Das hat mir auch sehr gut gefallen an diesem Aufsatz über das Altern in dem Band "Zweideutigkeiten", Krokodile und Leguane kommen in der Überschrift vor, daran erinnere ich mich, und da ist es ja genau dieses Polyperspektivische, was man gewinnt, wenn man es schafft, auf eine gute Art und Weise älter zu werden. Dann ist es aber vermutlich auch so, dass man es lernen muss, Ambivalenz überhaupt auszuhalten, denn das ist vielleicht heute manchmal schwierig. Es besteht eine gewisse Ambivalenz-Unlust, in der Gesellschaft zumindest wird es einem so dargeboten, als solle man immer eindeutig sein und diesen Pragmatismus haben im Leben und auch schon in den Ausdrucksformen, wie Sie schon sagten.
Brigitte Kronauer: Zweifellos. Man fühlt sich im Klischee wohler. Es ist einfacher und das ist, wenn Sie das mit dem Altern ansprechen, der große Gewinn, wenn man es geübt hat, in Ambivalenzen zu denken, denn man hat nicht die Sicherungen der Gesellschaft, für jeden Topf einen Deckel zu haben, aber gerade da zeigt sich meiner Ansicht nach der Gewinn. Denn eines der schrecklichsten Klischees ist natürlich das Alter, was bei manchen Leuten schon furchtbar früh einsetzt, und man denkt sich, wie viele Jahre muss jetzt eigentlich mit diesem schrecklichen Label gelebt werden, und alles wird verschlungen, alles wird dieser Vorstellung aufgelastet. Es liegt am Alter, es geht diesen Weg. Dass es da ganz bestimmte Ereignisse und Merkmale gibt, ist vollkommen klar, aber sie werden wieder zugeschüttet von dem, was einem auch ermöglicht wird, und das ist, ohne jetzt in irgendeiner Weise Trostpflästerchen austeilen zu wollen, das ist tatsächlich mit dem Älterwerden ganz andere Blicke gibt, dass sich das Leben ja auch um die Kindheit, um den Blick auf die Kindheit, auf die Jugend, auf ein, sagen wir mal, Alter zwischen 30 und 40, dass sich der erweitert durch neue Interpretationsmöglichkeiten, das finde ich eigentlich sehr deprimierend, das wird durch die Feuilletons, das wird durch die Medizin, das wird durch die Talkshows, den Leuten immer wieder gesagt: "Jetzt seid ihr Senioren, jetzt werdet ihr so fotografiert".
Die Fotos von alten Leuten, von älteren Leuten, die sind immer entsetzlich, fast immer ganz deprimierend, als wären das nur noch irgendwelche Ungetüme, die eigentlich besser zur Abfallhalde gingen, und wie Leute im Altersheim fotografiert werden, wenn sie dann noch beim Tänzchen sind, es ist entsetzlich. Es müsste eine Herausforderung sein für Fotografen, das so zu fotografieren, dass man sieht, diese Leute sind doch einen Lebensweg gegangen. Sie sind um ein ganzes Leben reicher als ein Teenager, der jung und glatt, aber auch irgendwo etwas dämlicher in die Welt guckt als ein alter Mensch. Und dieser Aspekt des filigranen Gesichtes, des faltigen Gesichtes, des wissenden Gesichtes, des meinetwegen auch langsam wieder verdämmernden Gesichtes, das muss meines Erachtens als Ästhetik erst entdeckt werden.
Maike Albath: Sehnsucht ist ja eigentlich ein Gefühl, was bei allen Figuren, in allen Romanen immer wieder vorkommt. So eine Sehnsucht, aus dem eigenen Dasein − vielleicht sind es auch wieder die Schablonen, in denen man fürchtet zu sein − auszubrechen. Auch bei dem Jobst Böhme, wenn ich mich an den erinnere aus "Errötende Mörder", oder Rita Palka hatte davon auch etwas an sich… Schaffen es die Figuren dann eigentlich, das zu sprengen? Was muten Sie ihnen zu, und was erlauben Sie ihnen auch?
Brigitte Kronauer: Ich erlaube ihnen, ihre Sehnsucht vergleichsweise trivial zu stillen, indem sie etwa in die Berge oder nach Italien fahren, vielleicht auch, indem sie ein Stück gute Schokolade essen, um mal den primitivsten Fall zu nehmen. Es kommt mir nicht auf das Stillen an. Es kommt mir darauf an, dieses Gefühl ernst zu nehmen. Und dieses Gefühl ist natürlich eines, was nie gestillt werden kann. Das ist etwas, was mich selbst immer noch beschäftigt, und ich bin auch noch zu keiner Klarheit gekommen, dass ich auf der einen Seite ein Wirklichkeitsfanatiker bin und der Meinung bin, dass, wenn man die Wirklichkeit nur genau und offen ansieht, ohne ihr Bedeutung aufzuhalsen, dass sie eigentlich alle Bedürfnisse stillen könnte, aber sie tut es eben doch nicht.
Es ist offensichtlich ein Grundlebensgefühl bei mir, dass diese endliche Wirklichkeit nicht ganz ausreicht. Warum, das steht in den Sternen. Wobei man sagen muss, die Sehnsucht ist ja eigentlich nicht in unserer Gesellschaft tabuisiert. Jede Reklame, die für irgendeinen Diamanten wirbt, spielt ja mit diesem Gefühl, es können auch neue Jeans sein. Es ist eigentlich ein ganz wichtiges Element in der Werbung. Nur macht die Werbung den Leuten vor, dieses Gefühl würde damit gestillt, sie spielen, die Werbung spielt mit einem auf etwas ganz anderes zielenden Gefühl. Das ist der Unterschied. Und das so ein bisschen anzustacheln, dass es nicht mit dem neuen Diamanten oder mit dem neuen Fernseher gestillt werden kann, sehr vorsichtig zu zeigen, es geht noch ein bisschen weiter in Wirklichkeit, das Gefühl ist viel kräftiger als diese Dinge, das wäre schon ganz gut, wenn mir das ein bisschen gelänge.

Die zweite Zigarette

Wir unterhalten uns noch eine Weile über Sehnsüchte, die Magie der Berglandschaften und die Geheimnisse des Rätoromanischen, trinken Tee und später Espresso. Zur Feier des Tages gibt es heute eine zweite Zigarette. Draußen hängen die roten Äpfel im verschneiten Baum. Ein bezwingender Gegensatz, genauso vieldeutig wie die Bücher von Brigitte Kronauer.
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