Brillante Gelehrtenprosa

Dieses glanzvolle Fragment hat alles, was kluge Geschichtsschreibung verlangt: den großen Gedanken und das farbige Detail, die spannende Erzählung und den unverwechselbaren Ton.
Heinz Dieter Kittsteiner, der 2008 im Alter von nur 66 Jahren verstorbene Historiker, ein Schüler Reinhart Kosellecks, wollte eine Geschichte der Moderne vor allem in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert in sechs Bänden vorlegen. Der erste Band ist nun unter dem Titel "Die Stabilisierungsmoderne" aus dem Nachlass erschienen – eins der wichtigsten Geschichtsbücher unserer Zeit.

Es behandelt das Jahrhundert von 1618 bis 1715, also vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekriegs. Doch nicht Krieg und Politik allein dominieren das Geschehen. Es geht, wie der Titel andeutet, um die Entwicklung einer neuen Lebensordnung, die von Angst, Gewalt und Chaos zu relativer Ordnung, Frieden und Sicherheit führt.

Diese Entwicklung verfolgt Kittsteiner auf drei Ebenen: In der politisch-staatlichen Welt werden religiöse Gewalt und anarchische Söldnerkriege von halbwegs gefestigten Staaten mit eingehegten Konfessionen abgelöst. Im Weltbild der Menschen folgt auf Satansfurcht und Hexenwahn durch eine neue Kosmologie, die das Universum als mathematisch berechenbare Ordnung vorführt, ein neues Vertrauen in die Regelmäßigkeit der Natur; Magie und Teufel verlieren ihre Macht über die Gemüter.

Damit wandelt sich drittens auch das Gottesbild: Aus einem Gott des Zornes und des Strafens wird der Gott von Liebe und Barmherzigkeit. Höllenangst und Religionshass können so durch ein verinnerlichtes Gewissen, am Ende durch Toleranz und Vernunft abgelöst werden.

Diese verschlungenen Prozesse, zu denen die Entfaltung des ersten kolonial ausgreifenden Weltmarkts und die Etablierung des europäischen Gleichgewichts der Mächte kommen, veranschaulicht Kittsteiner sowohl in der kühnen erzählerischen Totalen wie in bewegenden Einzelschicksalen.

Der Dreißigjährige Krieg wird knapp in seine Einzelkonflikte zerlegt, der Leser sieht ihn wie in Google-Earth von oben, dann bekommt er den Zoom zu den Fährnissen eines einzelnen Söldners, der auf allen Schauplätzen zwischen Magdeburg und Oberitalien kämpft, seine Frau dabei hat, andere Frauen vergewaltigt, Städte plündern hilft, selbst beraubt wird und bei alledem sechs Kinder zeugt, von denen ein einziges überlebt.

Das Wachsen der Vernunft zeigt Kittsteiner im unbeirrbaren Streben von Johannes Kepler nach einer neuen Sternenkunde, während gleichzeitig seiner Mutter der Prozess als Hexe gemacht wird. Eine Fortschrittsgeschichte? Ja, aber, dem Bewusstseinsstand unserer Zeit gemäß, mit der Skepsis der Vorläufigkeit.

Kittsteiners Werk hätte über die "Fortschrittsmoderne" der industriellen Epoche und die "Heroische Moderne" vor allem in Deutschland bis zu den Abgründen des 20. Jahrhunderts geführt. Ein Ton trauriger, aber immer heller Ironie liegt über dieser brillanten Gelehrtenprosa mit ihren vielen überraschenden Blickwechseln. Anregender, unterhaltsamer kann heute wissenschaftliche Historiographie nicht sein.

Besprochen von Gustav Seibt

Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618 bis 1715
Hanser Verlag, München 2010
446 Seiten, 29,90 Euro