Wie Skiffle die Welt veränderte
Nach zwei Jahren auf Tour brauchte der britische Singer-Songwriter Billy Bragg eine Pause vom Musikbusiness. Also schrieb er ein Buch über Skiffle – ein Genre, das ihm zufolge so wichtig ist wie Punk Rock und doch bislang vernachlässigt wurde.
Carsten Beyer: Wieso schreibt ein erfolgreicher Musiker wie Sie eigentlich ein Buch? Wollten Sie einfach mal etwas anderes machen oder hatten Sie zu viel Zeit?
Billy Bragg: Es war eine Mischung aus beidem. Ich kam gerade von einer sehr intensiven Tournee-Phase mit meinem Album "Tooth and Nail" zurück. Mit meiner Band war ich fast zwei Jahre lang unterwegs und brauchte danach einfach eine Pause vom Musikgeschäft. Ich wollte in dieser Zeit etwas anderes tun. Das entwickelte sich dann zu einer Mischung aus Ferien und Sabbatical, in der ich mich mit Skiffle beschäftigte, der mich schon sehr lange interessierte. Und so entstand mein drittes Buch. Ein Buch zu schreiben ist wirklich eine sehr wirksame Methode, um den Kopf frei von dem zu kriegen, was man so in der Musikindustrie erlebt.
Beyer: Sie hätten ja auch Ihre Memoiren schreiben können, so wie das auch viele andere Musiker getan haben. Aber sie haben sich stattdessen dafür entschieden, über andere Musiker zu schreiben; über die Leute, die in den 50er Jahren den Skiffle nach England gebracht haben, also Leute wie die Brüder Ken und Bill Collier, Chris Barber oder Lonnie Donegan. Was hat sie an diesen Leuten so fasziniert?
Bragg: Nun, am meisten zog mich das Gefühl an, dass der Skiffle viele Parallelen zum Punk Rock hatte. Ich dachte: Was ich als 19-Jähriger im Punk Rock erlebt hatte, würde mir helfen, Skiffle-Musik so zu verstehen, wie es bisher in keinem der Bücher über Skiffle zum Ausdruck gekommen ist. Es gibt ja einige gute Bücher über Skiffle, etwa die von Chas McDevitt oder Mike Dewe (Do-we). Aber beide beschreiben Skiffle aus der Innenperspektive der Skiffle-Blase. Sie erzählen, wie es den Autoren ergangen ist, als sie die Skiffle-Ära erlebten. Es fehlte bislang etwas, das den Skiffle in einen größeren Kontext einordnet. Und ich war überzeugt, dass dem Skiffle die gleiche Bedeutung zukommt wie etwa dem Punk Rock. Deshalb habe ich darüber ein Buch geschrieben, das diese These untermauert.
Ein Genre das stiefmütterlich behandelt wurde
Beyer: Sie haben es angesprochen: Es gibt schon einige Bücher über Skiffle, aber insgesamt ist dieses Genre in der Geschichte der britischen Popmusik bisher eher stiefmütterlich behandelt worden. Sie selbst schreiben im Vorwort, diese Tradition ist vielen Musikern fast ein bisschen peinlich. Woran liegt das eigentlich?
Bragg: Zehn Jahre nach Skiffle, 1967, wurde "Sgt Pepper's Lonely Hearts Club Band" veröffentlicht. Kurz darauf erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift "Rolling Stone". Was da passierte war die Verwandlung von leichter Popmusik in Rockmusik, die sich sehr ernst nahm. Wenn damals jemand Jimmy Page nach seinen Lieblingsgitarristen gefragt hätte, dann hätte er wohl "Muddy Waters" oder "Chuck Berry" genannt, nicht aber britische Skiffle-Musiker wie Lonnie Donegan oder Chas McDevitt. Aber auf Youtube gibt es einen wunderbaren Clip, in dem der 14-jährige Jimmy Page in einer Kindersendung der BBC den Song "Mama don't allow no skiffle playing around here" spielt. Es ist offensichtlich, dass es die Skiffle-Musik war, die Page inspirierte. Aber so etwas zu sagen war Mitte der 60er Jahre in den USA einfach unmodern. So hat man sich eine andere Geschichte ausgedacht. Aber wer nach dieser Wahrheit der Geschichte sucht, der wird sie noch immer finden.
Den Durchbruch hat Skiffle einem Mann zu verdanken
Beyer: Der große Durchbruch für den Skiffle kam im Jahr 1956 und war vor allem einem Mann zu verdanken, den Sie schon angesprochen haben: Lonnie Donegan und seine Version von Leadbellys Rock Island Line, die Geschichte einer Zugfahrt im Süden der USA. Billy Bragg, wenn man dieses Stück heute hier hört im Abstand von mehr als 60 Jahren klingt das doch eigentlich ziemlich brav. Wie konnte dieser Song eine ganze Jugendbewegung auslösen?
Bragg: Das liegt an dem gesellschaftlichen Kontext. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Generation, die Lonnie Donegan inspirierte, etwa ab 1940 auf die Welt kam. John Lennon zählt zum Beispiel dazu. Essen und Kleidung wurden in England bis 1954 rationiert. Wir sprechen also von einer ganzen Generation, die ihre Kindheit im Mangel verbrachte. Kinder, die sich nicht einmal Süßigkeiten kaufen konnten, weil sie rationiert waren. Donegan war für diese Kids etwas völlig Neues. Er war der erste britische Gitarrist in den Charts und als solcher eröffnete er den jungen Leuten eine neue Perspektive, ihre eigene Kultur zu entwickeln. Das war nötig weil damals eine Erwachsenen-Kultur vorherrschte, die für sie gerade mal ein paar Kinderlieder im Radio übrig hatte. Hier tauchten also erstmals britische Teenager auf, die rund um die afroamerikanische Bluesmusik ihre eigene Kultur aufbauten, eine Jugendkultur, die gar nichts mehr mit der Kultur ihrer Eltern zu tun hatte.
Beyer: Skiffle sozusagen als Musik von Teenager für Teenager. Auch die erste Musik, bei der die Gitarre eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Das ist natürlich schon etwas Revolutionäres. Aber hatte der Skiffle auch eine politische Komponente? Ihr Buch heißt ja "Roots, Radicals und Rockers".
Bragg: Es war eine radikale Entscheidung, afroamerikanische Rootsmusik zu spielen. Das war keine Musik, die man bei der BBC hören konnte. Das war eine Entscheidung dagegen. Anstatt darauf zu warten, dass die damaligen britischen Songwriter aus der Erwachsenenwelt nun auch Musik für die Jungen schreiben, besorgten die sich ihre Musik lieber aus den USA. Für viele Jugendliche wurde Skiffle also zu einem Akt der Selbstermächtigung, ganz so, wie dies später auch bei der Punkmusik geschah. 1956/1957 war es eine Reaktion gegen die vorherrschende Kultur der Erwachsenen, wenn sich 12, 13, 14-jährige Kinder mit der Welt der Afroamerikaner identifizierten. Ein Skiffle Kid sagte mir mal, dass die meisten Skiffle-Fans das Gefühl hatten, mehr mit einem schwarzen Landarbeiter gemeinsam zu haben als mit ihren eigenen Vätern.
Skiffle machte aus den Beatles eine Rock'n'Roll-Band
Beyer: Billy Bragg, Sie haben es angesprochen: Einige der Protagonisten der Skiffle-Bewegung wurden dann später auch zu wichtigen Akteuren im Rhythm & Blues und im Rock, wie der Gitarrist Alexis Korner beispielsweise, aber auch Musiker wie Ringo Starr oder Roger Daltrey oder auch Jimmy Page, den haben sie angesprochen. Wäre die Geschichte der englischen Popmusik ganz anders verlaufen, wenn es den Skiffle nie gegeben hätte?
Bragg: Sie wäre sehr anders verlaufen, weniger ursprünglich, weniger kantig. Tatsächlich setzte das Folk-Revival in den USA ja erst 1959 ein. Das gab der Gitarre spielenden britischen Jugend mindestens zwei Jahre Vorsprung vor der Amerikanischen. Diese zwei Jahre waren entscheidend, wenn man sich anschaut, was dann in den 60er Jahren geschah. Als die amerikanischen Kids mit dem Gitarrespielen anfingen, da spielten die britischen Kids schon in Hamburg an fünf Abenden in der Woche. Ein Zeitzeuge von damals sagte: "Das Problem mit den Beatles ist, dass sie zu viel Waschbrett-Musik spielen". Er meinte Skiffle-Musik. Skiffle brachte die Beatles nach Hamburg und Hamburg machte aus ihnen diese tolle Rock’n’Roll Band. Als die Beatles dann Anfang 1964 die USA Charts eroberten, folgten ihnen bei der "British Invasion" in den USA viele bereits praxisgestählte junge britische Bands. Ohne Skiffle Musik hätte es so etwas nie gegeben!
Beyer: Billy Bragg, vielen Dank für das Interview und natürlich viel Erfolg mit ihrem Buch "Roots, Radicals and Rockers".
Bragg: Thank you!
Das Audio im Original zum Nachhören: