Britische Unterhauswahl und Schottland

Zwischen Unabhängigkeitsstreben und Wahlmüdigkeit

Glasgow
Eine Frau nimmt am Unabhängigkeitsmarsch am 3. Juni in Glasgow statt. © imago/Robert Perry
Von Burkhard Birke |
In zahlreichen Wahlbezirken in Schottland wird bei der vorgezogenen Unterhauswahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den schottischen Nationalisten der SNP und den Konservativen erwartet. Die SNP könnte das Zünglein an der Waage werden. Für Premierministerin Theresa May wäre das eine Katastrophe.
Die Sonne bricht durch den regenverhangenen Himmel: Ihre Strahlen setzen ein paar orange und rosafarbene Tupfer in das Einheitsgrau: Granite City: Granitstein Stadt wird Aberdeen genannt. Selbst die modernen Gebäude fügen sich ins Einheitsgrau der 210.000 Einwohnerstadt ein, deren Schicksal aufs Engste mit der Öl- und Gasförderung verknüpft ist, wie der amtierende Lord Provost Barney Crockett betont:
"Das Herzstück der europäischen Öl- und Gasindustrie liegt in Aberdeen und wir machen gerade schwierige Zeiten durch. Hinzukommt, dass wir ein enormes Ungleichgewicht zwischen einer extrem erfolgreichen Privatwirtschaft und einem sehr armen, kleinen öffentlichen Bereich haben. Der öffentliche Sektor ist sehr klein."
Erst vor wenigen Tagen ist der Labour-Politiker von einer ungewöhnlichen Koalition aus Konservativen- und Labour- Stadträten in das Amt des Lord Povost gewählt worden, eine Position, die auf das Mittelalter zurückgeht. Barney Crockett ist Bürgermeister und Statthalter der Queen in Aberdeen und steht jetzt vor der Herausforderung, die Folgen der Ölkrise abzufedern.
"Die Investitionen gehen zurück. Die Zahl der Beschäftigten ist zurückgegangen, da die Branche Kosten senken und die Effizienz steigern muss. Das hat direkte Auswirkungen auf Schottland, vor allem auf den Nordosten und Aberdeen. Viele Menschen haben in den letzten beiden Jahren ihren Job verloren. Insgesamt hat die Branche 120.000 Jobs in Großbritannien abgebaut: Etwa die Hälfte davon in Schottland."
Professor Paul de Leeuw bleibt aber optimistisch. Die Öl- und Gasförderung trägt rund 15 Prozent zum schottischen Bruttosozialprodukt bei und hat eine Zukunft, sagt der Experte vom Oil- and Gas Institute der Robert Gordon University. Neue Felder sind unlängst vor den Shetlandinseln entdeckt worden. Zwar werden auch in Schottland die Weichen für eine CO 2-freie Energieversorgung gestellt. Schon allein aus Gründen der Versorgungssicherheit wird man die Förderung aus der Nordsee aber aufrechterhalten, vorausgesetzt der Preis stimmt.
"Die Förderkosten sind um 45 Prozent auf 16 Dollar pro Barrel gesenkt worden. Damit sind wir wettbewerbsfähig, auch das Steuersystem hilft, es gibt genügend Rohstoffe und ausgezeichnete Zulieferindustrie."
Wirbt Deirde Michie, die Hauptgeschäftsführerin des Branchenverbandes UK Oil- and Gas trotz vermeintlicher Brexit-Unsicherheiten um neue Investoren bei einem wieder auf rund 50 Dollar pro Barrel gestiegenen Preis für Nordseeöl.
Ausbaden müssen das Ganze die Arbeitnehmer: 30.000 Jobs seien allein in Aberdeen und Umgebung weggefallen, klagt Jake Molloy. Der Boss der Gewerkschaft RMT in Aberdeen stöhnt aber vor allem über die Verschärfung der Arbeitsbedingungen:
"Der Druck die Kosten zu reduzieren ist enorm. Deshalb wird an den Arbeitsbedingungen geschraubt. Das sorgt für Ärger und Frust bei den Arbeitern, vor allem die Verlängerung der Arbeitszeit um bis zu vier Wochen pro Jahr ohne Lohnausgleich!"

Überleben ohne Arbeit

Das ist hart. Diejenigen, die ihren Job behalten haben, dürfen sich jedoch glücklich schätzen. Die Ölindustrie zahlt immer noch überdurchschnittlich gut. Ohne Arbeit freilich wird das Überleben immer mehr zur Kunst.
Nur wenige Blocks vom schicken Gewerkschaftsbüro in der Crown Street entfernt, liegt – inmitten von Lagerhallen – die Food Bank der Community Food Initiatives, eine von zahlreichen Gratisverteilstellen für Lebensmittel der Stadt. Ein Ehepaar, beide Mittvierziger, hat gerade eine große Plastiktüte mit Nudeln, Tomatensauce, Cornflakes, Milch und etwas Gemüse abgeholt.
"Wir haben unser ganzes Leben gearbeitet. Wir haben harte Zeiten durchgemacht und sind jetzt beide erwerbsunfähig. Ich bin unheilbar krank und es wird immer schlimmer, aber die Sozialhilfetests werden immer härter. Wie kann es sein, dass ich immer weniger bekomme, obwohl meine Krankheit schlimmer wird?"
Dieses Ehepaar fühlt sich allein gelassen, vor allem von der Politik.
"I am not voting…"
Sie wird nicht wählen. Die Enttäuschung über die Politik sitzt tief bei den Ärmsten. Nahezu ein Fünftel der 5,3 Millionen Schotten lebt in Armut. Vor allem Kinder sind zunehmend betroffen.
"Jeden Tag kommen zwischen 40 und 50 Personen, um Lebensmittelpakete abzuholen. Menschen, die elendig arm sind, die Probleme haben, um über die Runden zu kommen. Menschen, die sich entscheiden müssen entweder zu essen oder zu heizen. Mütter, die nicht essen, damit ihre Kinder essen können oder um den Kindern Schuhe zu kaufen."
Dave Simmers ist Hauptgeschäftsführer von Community Food Initiatives. Die Sparpolitik der in London regierenden Tories hat auch in Schottland ihre Spuren hinterlassen. Die schottische Regierung in Edinburgh kann die von der Zentralregierung verhängten Sozialhilfekürzungen abfedern, allerdings nur bedingt, meint Simmers.
"Die schottische Regierung hat ausgezeichnet reagiert und 100 Millionen Pfund bereitgestellt, um die schlimmsten Folgen der Sozialhilfereform abzufangen. Sie hat den Gemeinden beispielsweise Geld zur Verfügung gestellt, um die Schlafzimmersteuer zu vermeiden."

Die Regierung in London kürzt Personen nämlich neuerdings das Wohngeld, sollten sie in einer Wohnung mit zu vielen Schlafzimmern leben, obwohl ein Umzug meist viel teurer ist.
In Edinburgh indes regieren die klar links verankerten schottischen Nationalisten der Scottish National Party, SNP, die sich ihrem Ziel eines unabhängigen Schottlands in der EU nach dem Brexit Votum wieder ein Stück näher sehen.
"Ich glaube nicht, dass wir jetzt entscheiden sollten, sondern am Ende der Brexit- Verhandlungen, wenn wir wissen, welches die Konsequenzen sind, sollte Schottland über seine Zukunft entscheiden."
Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon 
Schottlands Erste Ministerin und Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) ist mit einem Hubschrauber auf Wahlkampftour. Hier am 5. Juni in Hawick.© imago/JanexBarlow

Ein unabhängiges Schottland ist immer noch Thema

Schottlands Erste Ministerin und Regierungschefin Nicola Sturgeon will ein neues Referendum für ein unabhängiges Schottland in der EU – das sie aber erst 2025 sieht.
"I am sick of it…"
Es mache sie krank, es spiele doch keine Rolle, wer an der Regierung sei – viele Schotten scheinen wahlmüde wie diese Bäuerin aus Aberdeenshire oder sind sauer auf die SNP Regierung in Edinburgh.
"Die sind zu mächtig geworden. Die haben kein Interesse an uns hier oben, nur an der Zentralregion. Die kümmern sich nicht um uns Bauern. Die haben 180 Millionen Pfund für ein Computersystem zur Zahlung der EU Beihilfen ausgegeben, und es klappt noch immer nicht. Sie sagen, sie arbeiteten für Schottland, aber das stimmt nicht."
Schottische Probleme vermischen sich mit britischen. Auch wegen fallender Leistungen der Schüler, Probleme im Schulsystem wird die schottische Regierung kritisiert. Terror spielt im schottischen Wahlkampf nur bedingt eine Rolle: Im Gegensatz zu England und Wales wurde die Zahl der Polizisten in Schottland nicht reduziert – ein Punkt, den sich die in Edinburgh regierenden Nationalisten von der SNP auf die Fahne schreiben können.
Bei der letzten Unterhauswahl gelang der SNP fast ein Durchmarsch. Von den 59 Unterhaussitzen für Schottland eroberte sie 56. Jetzt müssen viele Abgeordnete allerdings um ihren Sitz im Parlament von Westminster bangen, obwohl sich die schottische Regierung bemüht, die sozialen Einschnitte der Regierung in London abzufedern. Der erst 25-jährige Stuart Donaldson aus Aberdeenshire ist einer von ihnen.
"Wir fordern die Beibehaltung der Rentensteigerungsformel, Steuererleichterungen für die Öl- und Gasindustrie, damit wieder mehr Leute dort beschäftigt werden, und wir wollen mehr Hilfen für unsere Bauern mit Blick auf den Brexit. Die SNP hat bewiesen, dass nur sie solche Veränderungen durchsetzen kann."

Die schottischen Nationalisten wollten ein Mitspracherecht bei den Brexit-Verhandlungen: Die Tories von Premierministerin Theresa May lehnen das ab. Bei der Unterhauswahl gilt es jetzt ein Gegengewicht zu schaffen. Genau das will Torykandidat David Bowie in Aberdeenshire verhindern.
"Die Leute haben die Nase voll von der SNP und nicht gehaltenen Versprechen wie der Unterstützung für die Öl- und Gaswirtschaft oder pünktlicher Beihilfenzahlungen für die Bauern. 1100 Bauernhöfe warten heutzutage immer noch auf Zahlungen aus dem letzten Jahr. Das ist schrecklich. Die Leute haben genug von den Nationalisten und wollen Veränderung. Und das sind wir die Konservativen."
Das gebetsmühlenhaft vorgetragene Hauptargument bleibt jedoch: Nur Theresa May sei geeignet den Brexit auszuhandeln. Bis 2022 versprechen die Tories den Bauern Beihilfen auf dem heutigen Niveau. Ob sie ihre Versprechen halten?
In Aberdeenshire West wie in einem Dutzend anderer Wahlbezirke in Schottland wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den SNP und den Kandidaten der Konservativen geben. Labour und die Liberaldemokraten sind zum Zuschauen verdonnert – UKIP, die UK Independence Party, ist hier im Norden bedeutungslos.
Die SNP könnte zum Zünglein an der Waage werden, sollten sich die Prognosen für die Unterhauswahl bewahrheiten, die den Tories keine absolute Mehrheit prophezeien. Das wäre eine Katastrophe für Theresa May, die diese Wahl überraschend anberaumt hat, und die Chance für die SNP, eine Labour-Regierung zu stützen.
Theresa May
Die britische Premierministerin Theresa May während einer Wahlkampfveranstaltung am 5. Juni in Edinburgh.© imago/Stefan Rousseau
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