John Darwin: Das unvollendete Weltreich. Aufstieg und Niedergang des Britischen Empire 1600-1997
Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz
Campus Verlag, 482 Seiten, 39,90 Euro (eBook 34,99)
400 Jahre Geschichte in vielen Grautönen
John Darwin bearbeitet 400 Jahre britische Geschichte leicht und doch präzise formuliert. Er schreibt weder antiimperialistisch noch nostalgisch und macht Lust, hinter die gängigen Klischees zu blicken.
Deutsche Wochenschau über die Krönung Elisabeths II.: "Der große Augenblick war gekommen, als der Erzbischof der jungen Monarchin die Krone aufs Haupt setzte. Jene Krone, die ein Viertel der Menschheit verbindet."
Als Elisabeth II am 5. Juni 1953 zur Königin von England gekrönt wird, ist das Britische Empire noch ein Weltreich.
"Es war das prunkvollste Schauspiel, das die Welt seit dem Mittelalter erlebte. Nach der Krönung marschiert die Heeresmacht Englands mit allen Waffengattungen auf. Alle Formationen des weltumspannenden Reiches sind vertreten."
England, Irland, Schottland, die amerikanischen, karibischen, afrika-nischen Kolonien und Überseegebiete, Indien, Hong Kong – als Elisabeth II das Zepter übernimmt, ist der Auflösungsprozess dieses Empires allerdings schon in vollem Gange.
Mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 hat er seinen sichtbaren Anfang genommen. Denn, so schreibt der britische Historiker John Darwin:
"Die Kolonialherrschaft hatte den letzten Rest ihrer moralischen Rechtfertigung als eine Form der aufgeklärten Treuhänderschaft verloren. Die ideale Nachkriegsordnung verkörperte sich in der Charta der Vereinten Nationen, in der alle Formen des Kolonialismus abgelehnt und durch das universelle Ideal des souveränen Nationalstaats ersetzt wurden."
Wer sich an diese Geschichte wagt, muss eine Idee haben
Fast 400 Jahre immerhin, von 1600 bis 1997, so der Untertitel von John Darwins umfassender Geschichte des britischen Empires, prägte dieses Reich wie kein anderes die Weltgeschichte. Wer sich an diese Geschichte wagt, muss eine Idee haben, denn sie ist schon Hunderte Male beschrieben worden, in allen Facetten.
Der in Oxford beheimatete Darwin wartet mit einer besonderen auf, die sowohl in der intellektuellen Zuspitzung wie in ihrer Darstellung fasziniert. Er nennt dieses Herrschaftsgebilde, das die ganze Welt umspannte, kühn ein "unvollendetes".
"Wenn wir die alten Weltkarten betrachten, auf denen riesige Flächen in dem für die britischen Besitzungen typischen Rot eingefärbt sind, gerät leicht aus dem Gedächtnis, dass diese Empire stets im Werden war und tatsächlich kaum zur Hälfte vollendet wurde. Zum Ersten waren seine Gründer von keiner einheitlichen Vorstellung beseelt, was dieses Reich eigentlich sollte.
Zum zweiten war die Führungs- und Herrschaftsstruktur dieses Imperiums zu allen Zeiten unzureichend und ziemlich oft sogar chaotisch. Die Ansicht, dass ein in London ausgesprochener Befehl überall auf der Welt von diensteifrigen Statthaltern ausgeführt worden sei, ist eine historische Fantasievorstellung, wenn auch eine recht populäre."
Darwin geht thematisch vor, nicht chronologisch
Geschichte wird nicht schwarz und weiß gemalt, sondern zeigt sich in vielen Grautönen. John Darwins Erzählung des britischen Empires ist demnach weder nostalgisch verbrämt – wie in konservativen Zirkeln in Großbritannien bis heute üblich –, noch mit antiimperialistischem Impetus versehen, wie er in der Forschung der letzten Jahrzehnte vorherrschte.
Sein Geschichtsbuch, leicht und dennoch präzise formuliert, macht Lust, hinter die gängigen Klischees zu blicken. Vor allem weil er nicht chronologisch vorgeht, sondern thematisch. Wenn es schon keinen Masterplan für das Empire gab, was waren seine Erfolgsprinzipien?
Der Freihandel, symbolisiert in der Gründung der Ostindien-Kompanie, und die gut organisierte Militärmaschine waren Garanten für den Aufstieg zur Weltmacht. Nicht zu vergessen ein pragmatischer Blick auf die Dinge, den ein Mann – wenn auch am Ende der Erfolgsgeschichte – unvergesslich formuliert hat: "Ich habe Euch nicht anderes zu bieten als Blut, Mühsal, Schweiß und Tränen", erklärte Winstons Churchill am 13. Mai 1940 im britischen Unterhaus seine Strategie gegenüber Nazi-Deutschland.
Diese nüchterne Sichtweise allerdings lässt auch erahnen, wie sehr die britische Politik auch letztendlich an ihre Überlegenheit glaubte. "Die Briten konnten ein Weltreich errichten, weil sie die Möglichkeiten der globalen Vernetzung besser nutzten als ihre Konkurrenten", schreibt Darwin. Das taten sie nicht ohne koloniales Machtgehabe, sprich der konsequenten Anwendung von organisierter Gewalt, wie Darwin trocken so formuliert:
"... die weniger schönen Begleiterscheinungen der Eroberungen und Besiedlungen, etwa die Vertreibung und Unterjochung ganzer Völker, als ein Preis, den man zu zahlen hatte. (...) Ein oft ziemlich unsauberes, wenn nicht sogar blutiges Geschäft."
Eckdaten 1600 und 1997
Ausbeutung und Rassismus gehören als "Regierungsmethoden" zur Geschichte des britischen Empires ebenso dazu wie der Erfolg der Ostindien-Kompanie, ein Synonym für das, was wir heute "Globalisierung" nennen würden. Wie sie damals funktionierte, beschreibt Darwin fast journalistisch anhand von vielen Beispielen, die mehr als nur eine Parallele zu heute aufweisen.
Bleibt die Frage, warum John Darwin die etwas krummen Eckdaten 1600 und 1997 für seine Geschichtsschreibung wählt? Das erste Datum nennt die Gründung der Ostindien-Kompanie. Das zweite die Aufgabe der letzten Kronkolonie. Am 1.Juli 1997 übergibt der letzte britische Gouverneur Chris Patton die Kontrolle über Hong Kong an die Volksrepublik China. Ein Imperium verabschiedet sich. Auch wenn es sich – siehe den Konflikt um das britische Überseegebiet der Falklandinseln – noch aufbäumt. John Darwin wäre kein Brite, wenn er es schlimm fände:
"In der langen Abfolge der Weltgeschichte war die Ära des Britischen Empires nur eine kurze Phase und ein außergewöhnlicher Moment. Sie wurde durch eines der unvorhersehbaren Zusammentreffen ermöglicht, die es in der Geschichte immer wieder gibt. Ein schwaches und passives Ostasien und ein Europa, zwischen dessen rivalisierenden Großmächten gerade ein prekäres Gleichgewicht herrschte, und ein introvertiertes Amerika."