Erik Kirschbaum: "Rocking the Wall. Bruce Springsteen"
Osnaton-Verlag 2016
176 Seiten, 19,95 Euro
Das Wort "Mauer" durfte er nicht sagen
19. Juli 1988 in Ostberlin: Der US-Sänger Bruce Springsteen tritt vor 300.000 Zuschauern auf. Als Gast der FDJ, die sich davon mehr Zuspruch von jungen Leuten zur DDR erhoffte. Folgt man dem Journalisten Erik Kirschbaum, trat das Gegenteil ein.
Die Szene ist unwirklich: Im Sommer 1988 bejubeln rund 300.000 Ostdeutsche einen Rockstar, der aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommt – dem Hauptfeind des Ostblocks. Die DDR-Jugend singt begeistert "Born in the USA" mit und schwenkt selbstgebastelte US-Fahnen. Es ist die Endphase des Sozialismus.
"Ab '85 hat sich viel geändert im Osten mit Gorbatschow und Glasnost und Perestroika, und in vielen Ländern um die DDR herum gab es Fortschritte, gab es Öffnungen", sagt der US-amerikanische Journalist Erik Kirschbaum. "Aber die DDR blieb so ein stalinistisches Land, ohne viel Reformen, ohne viel Änderungen. Und der Frust in Ostdeutschland und die Ausreiseanträge von den jungen DDR-Bürgern sind ständig gestiegen in den 80er-Jahren."
Gegen-Event zu den Westberliner Mauerkonzerten
Kirschbaum hat ein Buch darüber geschrieben, wie es zum Springsteen-Auftritt kam: 1987/88 gibt es in Westberlin, vor dem Reichstag, Top-Konzerte – etwa von David Bowie, Michael Jackson und Pink Floyd.
Während der Westberliner Events strömen jedes Mal DDR-Fans zur Mauer, um mitzuhören. Für Stasi-Ohren handelt es sich jedoch um Missklänge, der Geheimdienst befürchtet Unruhen und Fluchtversuche. So kommt die SED-Führung auf die Idee, eigene, mitunter regelrechte Gegen-Konzerte zu veranstalten, und zwar auf der Ostberliner Radrennbahn Weißensee. Brian Adams und Joe Cocker treten hier etwa auf – und schließlich, am 19. Juli 1988, Rock-Star Bruce Springsteen. Er ist offizieller Gast der DDR-Jugendorganisation FDJ.
"Die DDR wollte einen Star wie Springsteen haben, um den jungen Leuten in Ostdeutschland ein bisschen das Gefühl zu geben, es ändert sich was, es wird besser. Damit die in der DDR bleiben wollten, dass die glaubten an das Land wieder", sagt Kirschbaum.
Das größte DDR-Konzert aller Zeiten
Das meinten damals Zuschauer:
- "Guter Sänger und so, das hört man nicht alle Tage!"
- "Der ist echt irre, wir finden seine Musik ganz toll und ist auch immer was los."
- "Weil man nicht weeß, wann der das nächste Mal kommt."
- "Ob man das überhaupt nochmal erlebt, das weeß man ja gar nicht!"
- "Guter Sänger und so, das hört man nicht alle Tage!"
- "Der ist echt irre, wir finden seine Musik ganz toll und ist auch immer was los."
- "Weil man nicht weeß, wann der das nächste Mal kommt."
- "Ob man das überhaupt nochmal erlebt, das weeß man ja gar nicht!"
Es ist das größte Konzert, das jemals in der DDR stattfindet. 160.000 Karten sind verkauft worden, aber fast doppelt so viele Besucher rocken schließlich in Berlin-Weißensee ab.
Viele haben mir dann erzählt, sie sind dann an diesen Kartenhäuschen vorbeigelaufen und die waren weggeblasen", erinnert sich Erik Kirschbaum. "Das waren Holzhäuschen, das war alles weg zersprengt, die Leute sind da einfach reingestürmt, und die FDJ hat das alles zugelassen!"
Doch fast hätte die FDJ alles verpatzt. Denn die Funktionäre hatten die Veranstaltung als Solidaritäts-Konzert für Nicaragua geplant, samt Propaganda-Banner auf der Bühne - ohne jedoch Springsteen um Erlaubnis zu fragen. Der Manager des Rock-Musikers erfuhr erst kurz vor dem Auftritt davon, protestierte aber sofort und drohte indirekt mit Springsteens Abreise. So mussten in letzter Minute alle Polit-Plakate entfernt werden.
Das Wort "Mauer" durfte nicht fallen
Noch brisanter: Zwischen den Songs will Bruce Springsteen ein politisches Statement abgeben. "Ich bin gekommen, um Rock 'n' Roll für Euch zu spielen – in der Hoffnung, dass eines Tages alle Mauern umgerissen werden", steht auf seinem Spickzettel. Die DDR-Organisatoren erfahren von dem Plan erst, als das Konzert bereits läuft. Sie reden auf Springsteens Manager ein, der den Star schließlich zwischendurch von der Bühne holen muss.
"Und dann mussten wir das Wort 'Mauern' ändern in Barrieren, 'in der Hoffnung, dass alle Barrieren fallen'", erinnert sich später Springsteens Westberliner Chauffeur, George Kerwinski, an die Zensur. Kerwinski muss damals dem Weltstar die neue Vokabel schnell noch einbläuen: "Und er hat immer wiederholt: Barrieren, Barrieren – okay, okay, okay!"
Trotz des – verbalen – Wegfalls der Mauer: Die Botschaft kommt bei den Fans an. Denn Bruce Springsteen hat sein Konzert auch noch mit dem Song "Badlands" begonnen – Ödland, was als DDR-Metapher aufgefasst werden kann. Journalist Kirschbaum, der seit 1989 in Deutschland lebt, bilanziert:
"Ich bin der Meinung, dass dieses Konzert dazu beigetragen hat, dass die Mauer gefallen ist 16 Monate später. Wenn man die Gesichter sieht von den jungen DDR-Bürgern im Publikum und das vergleicht mit den Gesichtern von den jungen DDR-Bürgern, die 16 Monate später durch die Mauer gelaufen sind, kommt man zu dem Ergebnis: Das sind die gleichen Leute, das ist die gleiche Euphorie, das ist das gleiche Gefühl: Das kann nicht wahr sein, was passiert!"
Ein Nagel im Sarg der DDR
Wissenschaftler interpretieren das Event vor dreißig Jahren ähnlich. So betrachtet auch Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin das Springsteen-Konzert als einen Sargnagel in Honeckers Sozialismus: "Es hat mit Sicherheit dazu beigetragen, diese Stimmung, die 1988 war und die sich '89 dann in den großen Demonstrationen sich artikuliert hat, diese Stimmung erheblich zu verstärken, dass hier was passieren muss."
Einige Zeitzeugen widersprechen hingegen – wie der Fernsehmoderator Cherno Jobatey, der damals als Zeitungsredakteur über das Konzert berichtete. Jobatey meint, dem freiheitsliebenden Rock-Publikum sei es weniger darum gegangen, die Mauer einzureißen, als sich gegenseitig abzuschleppen. Für Forscher Staadt kein Widerspruch:
"Das ist immer so bei Rockkonzerten. Aber insgesamt, wenn man das sieht, was sich da abgespielt hat, ist das ein Bild der DDR-Jugend, die deutlich Signale setzt: Wir sind anders!"