Bruder Esel
Rund 130 Tierarten werden in der Bibel erwähnt. Als Gefährten und Freunde des Menschen. Als Nutztiere, die die ihm die Arbeit erleichtern. Aber auch als bedrohliche Wesen, die Furcht einflößen und Respekt gebieten. Die Tiere werden oft zu Symbolen menschlichen Verhaltens stilisiert.
"Wir Menschen neigen ja nach wie vor dazu, Tieren Eigenschaften beizulegen: Menschen und Tiere haben Eigenschaften. Bernhard Grzimek, der große Zoologe, man kennt ihn vielleicht noch aus dem Fernsehen, hat ja versucht, uns das abzuerziehen. - Also, das Schwein, das wissen wir heute, ist nicht schmutzig, sondern es suhlt sich im Dreck, um sich damit zu schützen. – Aber trotzdem tun wir das ja, wir möchten ja in Tieren auch etwas sehen!"
Klaus Fitschen, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig.
"Der Mensch hat sich auch im alten Israel in der Nähe der Tiere gewusst. Das heißt, die Vertrautheit zwischen den Tieren und den Menschen war hoch. Und die Abhängigkeit vom Tier auch. Der Mensch musste die Tiere schon deshalb respektieren, weil sie für das Leben und den Unterhalt der Seinen gelegentlich von ausschlaggebender Bedeutung waren."
Arndt Meinhold, Professor emeritus für Altes Testament der Universität Halle-Wittenberg.
"Im Buch der Sprüche steht, ich glaube, 12, Vers 10 ist das:"
"Der Gerechte kennt den Bedarf seines Nutzviehs. Aber dort, wo beim normalen Menschen Erbarmungs-Empfindungen sind, ist es bei den Frevlern grausam."
Laut Bibel, Buch Genesis, hat Gott alles "Gewürm, das auf Erden kriecht", dazu alles Vieh und die Tiere des Feldes am selben Tag wie den Menschen erschaffen. Meinholdt:
"Wenn die am selben Tag geschaffen sind, wusste man, dass der Zusammenhang enorm ist, wesensmäßig ist."
Aber wie weit geht diese - alttestamentlich bezeugte - "wesensmäßige Verbindung" zwischen Mensch und Tier? Darf der Mensch Tiere töten, um ihr Fleisch zu essen? Vielleicht sogar, weil Tiere keine Seele haben, wie Thomas von Aquin behauptet hat ? - Da gehen die Meinungen der Christen weit auseinander, sagt Klaus Fitschen:
"Ja. Unsere religiösen Diskussionen darüber sind sehr verschieden. Das Ganze ist natürlich immer eine Hypothese. Wir können nur als selbst reflektierende Wesen davon ausgehen, dass wir eine Seele haben, und dass diese Seele in gewisser Weise der Träger unseres Lebens ist. Mehr kann man dazu kaum sagen. Und man wird die Debatte auch wenig an der Seelenvorstellung festmachen können. Denn welches Tier hat nun eigentlich eine Seele? Hat die Ameise eine Seele oder das Schwein? Und bis zu welcher Entwicklungsstufe gibt es eine Seele oder nicht? - Unwägbare Debatten!"
Wie dem auch sei:
"Füllet die Erde und machet sie Euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht … "
… heißt es im Ersten Buch Mose. – Damit, so Arndt Meinhold, ist auf alle Fälle nicht gemeint, dass der Mensch mit seinen tierischen Gefährten schalten und walten kann, wie es ihm beliebt.
"Auf keinen Fall Willkür! Wie das lange Zeit in der evangelischen und auch katholischen Theologie gehalten wurde: 'Macht Euch die Erde untertan!', hieß in diesem falschen Verständnis: 'Beutet sie aus!' - Heißt im richtigen Verständnis: 'Pflegt sie so, dass sie Gewinn abwirft und erhalten bleibt!' Ohnehin weiß man, dass man die Natur nicht verbessern kann, sondern dass die Natur vollkommen ist."
Am Anfang der Zeit, im Garten Eden, so will es der biblische Mythos, lebten Menschen und Tiere in einem friedlichen Miteinander. – Paradiesische Zustände!
"'Paradies' ist das falsche Wort dafür, weil: Paradies ist ein spätes persisches Wort, 'Pardes', und meint sozusagen den Baum-Garten, also den parkähnlichen Garten. Aber der Gottes-Garten, der ist zu bebauen! Und zu bewahren vom Menschen, wie es da heißt, und darin soll sozusagen der Mensch seine Existenz entfalten."
Aber dieser Mensch tut nicht, was Gott ihm aufgetragen hat. – In den poetischen Bildern der Bibel ist es ein Tier, die Schlange, das den Menschen anstachelt, Gottes Gebot in den Wind zu schlagen:
"Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott, der Herr, gemacht hatte."
"Es ist das klügste unter den Tieren, wie es heißt, also kein satanisches Wesen, ein tierisches Wesen, also, ein dem Menschen ähnliches Wesen. Und ich würde denken: ein aus dem Menschen und seinem Wollen heraus gedachtes Wesen. Als Gegenüber, das ihm die Verlockungen seiner selbst präsentiert."
Fitschen: "Die christliche Tradition ist sich auch nicht einig, ob die Schlange nun ein böses Tier ist. Spätere haben gesagt, sie ist vielleicht sogar das Tier der Aufklärung, das den Menschen dazu bringt, sich selber zu erkennen. In jedem Fall sagt ja Jesus, man soll klug sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben."
Die Schlange im Buch Genesis, so Arndt Meinhold, ist ein Symbol. Ein Symbol für die innerseelischen Kräfte des Menschen. Für seine Neugier. Seinen Freiheitsdrang. Seine Lust am Widerspruch und Widerstand. Für sein Bedürfnis, eigene Wege zu gehen, um am Ende klug zu werden. Wenn auch durch Schaden und durch Leiden. Das ist der Preis.
"Die Schlange ist sowohl lebensfördernd als auch lebensschädigend. Das macht sie zu einem Phänomen, das nicht nur negativ besetzt sein kann."
Fitschen: "Die positive Bewertung der Schlange kennen wir bis heute! Wenn wir vor einer Äskulap-Apotheke stehen, haben wir dort den Äskulap-Stab mit der Schlange … "
Meinhold: " … weil ihr Gift in bestimmter minimaler Dosierung zur Gesundung des Menschen dienen kann."
Fitschen: "Der Schlage werden also ganz unterschiedliche Eigenschaften beigelegt, das ist im Übrigen bei ganz vielen Tieren so. Tiere sind etwas ambivalentes, insofern taugen sie auch als Symbole für den Menschen, der ebenfalls ein solches Wesen ist: gut wie böse."
Auch dem Löwen, er wird in der Bibel öfter erwähnt als jedes andere wilde Tier, schreibt der jüdisch-christliche Mythos höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen zu. - Zunächst:
"Der Löwe ist das Tier der Macht. Er ist stark, er symbolisiert die Kraft."
Meinhold: "Beim Löwen liegt völlig auf der Hand, dass Stärke, Majestät und Gefahr die Hauptkategorien sind, die mit ihm verbunden werden. Beim Löwen können auch Belege beigebracht werden, wo Gott selbst als Löwe auftritt: Hosea 5 Vers 14, da agiert Gott als Löwe gegen sein eigenes Volk."
"Denn ich bin für Ephraim wie ein Löwe und für das Haus Juda wie ein junger Löwe. Ich - ich zerreiße sie und gehe davon. Ich schleppe sie weg und niemand kann sie retten."
Beim Propheten Hosea gibt es auch ein poetisches Bild, da streitet Gott wie ein Löwe für sein Volk. Er sammelt die verstreuten Israeliten:
"Alsdann wird man dem Herrn nachfolgen, und er wird brüllen wie ein Löwe. Und wenn er brüllen wird, so werden zitternd herbeikommen seine Söhne von Westen her."
Aber nicht nur Gott wird in der Bibel mit dem Löwen assoziiert, sondern auch Israels Völkerstämme:
Fitschen: "Wenn man an das Alte Testament denkt: 'der Löwe Juda' … "
Meinholdt: "Also, Juda ist der Stamm, aus dem David kommt, der Stamm, aus dem Jesus kommt."
"Juda du bist’s! Dich werden Deine Brüder preisen. Deine Hand wird Deinen Feinden auf dem Nacken sein. Vor Dir werden Deines Vaters Söhne sich verneigen. Juda ist ein junger Löwe. Wer will ihn aufstören?"
Während der Löwe manchmal als ein Tier beschrieben wird, das Furcht und Schrecken verbreitet, ein andermal als eines, das Erfurcht und Zuneigung verdient, sprich: jenseits von gut und böse verortet ist, wird ein anderes Raubtier – der Wolf nämlich – in der Bibel gewöhnlich mit Abscheu betrachtet und mit den Attributen des Bösen belegt.
"Reißlustig, blutgierig, rücksichtslos, hart, verbrecherisch, könnte man beinah sagen."
Es gibt nur eine Stelle in der hebräischen Bibel, da wird der Wolf als ein fürsorgliches Tier beschrieben. Am Ende des Ersten Buch Mose segnet der sterbende Jacob seine Söhne, auf dass sie zu starken Stammvätern des Volkes Israel heranwachsen mögen. Über seinem jüngsten Sohn Benjamin spricht Jacob den folgenden Segen:
"Benjamin ist ein Wolf, der zu reißen pflegt. Am Morgen gewöhnlich Beute frisst und bis zum Abend Beutegewinn auszuteilen pflegt."
"Eine Sensation im Alten Testament! Weil nur dieser eine Spruch den Wolf positiv kennzeichnet. - Ein israelischer Spezialist für Zoologie der alten Welt, Felix, hat in einem Lexikon geschrieben, dass der Wolf lange Strecken gehe und Gerissenes auf diesen Strecken auch auf der Schulter transportiere. Es ist wahrscheinlich so, dass er mit der Schnauze das Gerissene packt und sich über die Schulter wirft und dann wahrscheinlich losmarschiert, bis er seine Nachkommen oder andere an diesem Raub teilhaben lässt."
Über den Heiligen Franz von Assisi gibt es die folgende Legende:
"Zu Franziskus Zeiten wird die italienische Stadt Gubbio immer wieder von einem hungrigen Wolf heimgesucht, der alles angreift, was ihm schwach erscheint: Lämmer, Kinder, Bettler, alte Leute. Franziskus trifft den Übeltäter auf Beutezug und stellte ihn zur Rede: 'Bruder Wolf, ich möchte, dass zwischen Dir und den Einwohnern von Gubbio Frieden herrscht!' - Der Wolf: 'Aber ich habe Hunger!' – 'Bruder Wolf, wenn Du Dich änderst, wirst Du in Gubbio ein glückliches Leben haben!' Seit diesem Tag bringen Gubbios Bewohner dem Tier regelmäßig zu fressen – und der Wolf lässt sie in Ruhe."
"Es wird die Lanze dafür gebrochen, dass der Wolf das menschliche Mitleid verdient und nicht nur die Verfolgung. Und es wird auch als Kindergeschichte erzählt. Dass die Kinder Erbarmen lernen und Angst verlieren. Ohne dass jetzt Leichtsinn einsetzt. Und dass man dem Wolf Bedürftigkeiten auch zuerkennt."
Beim Heiligen Franziskus gibt es übrigens nicht nur einen "Bruder Wolf", es gibt auch einen "Bruder Esel".
Fitschen: "Franz von Assisi hat seinen störrischen, widerspenstigen Körper als 'Bruder Esel' bezeichnet. Der Asket macht ja die Erfahrung, dass sein Körper störrisch ist. Er will ihn zähmen, er will ihn eigentlich loswerden, und der Körper bockt und will nicht, er geht seinen eigenen Weg, was uns ja manchmal auch auffällt. - Der Esel ist natürlich auch Träger der Würde: Maria und Joseph reiten auf dem Esel nach Ägypten! Wer mal im Orient war, weiß aber, dass der Esel niedrige Tätigkeiten ausführen muss. Und insofern ist der Esel eben tauglich für beides."
"Du, Tochter Zion, freue Dich sehr.
Und Du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, Dein König kommt zu Dir,
ein Gerechter und ein Helfer, arm –
und reitet auf einem Esel,
auf einem Füllen der Eselin."
… heißt es im Alten Testament bei Sacharja. – Ein messianisches Friedensreich kommt auf Israel zu, weiß der Prophet: Der Herrscher dieses Reiches wird sich nicht um irdische Güter scheren. Und daran wird man ihn erkennen: Er hat sich einen Esel zum Reittier gewählt. Dieses Prophetenwort ist wohl einer der Gründe dafür, dass Jesus von Nazareth, der geglaubte Messias der Christen auf einem Esel in Jerusalem Einzug hält. So steht es jedenfalls im Markus-Evangelium. Auch bei Matthäus und bei Lukas.
Das Reittier weltlicher Fürsten zu Jesu Zeiten war eben nicht der Esel, sondern das Kamel oder (von kriegerischen Herrschern bevorzugt) das Pferd. - Arndt Meinhold:
"Das ist sicher Absicht, dass das bescheidenere, das stillere Tier genommen wird, das eher häusliche Tier: der Esel. Das hatten so gut wie alle, die irgendwas bewältigen wollten in der Landwirtschaft. Es ist in der Metaphorik auch das Tier, auf das Verlass ist. Und das lange trägt. Und lange aushält."
Verlässlichkeit, Friedfertigkeit, Stärke - und Gleichmut im Leiden. Das alles sind Eigenschaften, die von den Israeliten auch einem anderen Tier zugesprochen werden, nämlich dem Lamm. Ein rechter Diener Gottes, so ein Wort des Propheten Jesaja, ist mit den "Tugenden" eines Lammes gesegnet:
"Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf."
Das Lamm ist das klassische Opfertier im Alten Testament – ein vollkommenes, ein reines Geschöpf. Als "rein" unter den Säugetieren galten den Israeliten übrigens alle Wiederkäuer mit gespaltenen Hufen:
"Und da war naheliegend, dass für die einfachen Menschen das Lamm, überhaupt Schaf und Ziege als Kleinvieh, Opferfähigkeit bedeutet. Und folglich auch verzehrt werden durften."
Das Bild vom Lamm, das geopfert wird auf dem Altar des HERRN, auf dass Jahwe einem die Sünden vergebe – dieses Bild war wohl jedem Israeliten geläufig. Darum haben es die Apostel Jesu Christi, Petrus und Paulus, in ihren Episteln verwandt, um die Bedeutung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus dem eigenen, dem jüdischen Volk verständlich zu machen. – Im ersten Brief des Petrus heißt es:
"Wisset, dass Ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seit von Eurem eitlen Wandel (…) , sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes."
Die Geschichte der jüdisch-christlichen Beschäftigung mit dem Leben der Tiere und der Vergleich mit dem Menschenleben ist mit dem Neuen Testament nicht zu Ende. Aus spätantiker Zeit ist uns ein bedeutendes Werk der christlichen Tiersymbolik überliefert: der sogenannte "Physiologus". Bis ins ausgehende Mittelalter war dieses Werk als eine Art "Volksbuch" in der gesamten christlichen Welt verbreitet. – Klaus
Fitschen:
"Der 'Physiologus' ist ein Buch, dessen Frühformen wohl auf das Jahr 200 nach Christus zurückgehen. Es handelt sich um Sammlungen von Geschichten, von Deutungen von Tieren, die im Laufe der Überlieferungsgeschichte auch ganz unterschiedlich zusammengestellt worden sind. Der 'Physiologus' tut das eigentlich, was die antike Rhetorik will: nämlich belehren, erbauen und zu etwas motivieren. Er belehrt, das tut er mit Hilfe von Tierbildern und Eigenschaften, die Tieren zugeschrieben werden. Er erbaut, indem er lustige Dinge erzählt, und er soll natürlich dazu bewegen, etwas zu tun!"
"Vom Biber. Es gibt ein Tier, das heißt Biber, ganz sanft und friedfertig. Wenn der Biber vom Jäger verfolgt wird und weiß, dass er gefangen wird, beißt er seine Hoden ab und wirft sie dem Jäger hin. – Auch Du, Glaubender, gib auch Du dem Jäger, was ihm zusteht. Der Jäger ist der Teufel! Und was ihm gehört, ist Unzucht, Ehebruch und Mord. Derartiges schneide aus und gib es dem Teufel. So wird er Dich loslassen … "
… heißt es im "Physiologus", Kapitel 23. Das Buch handelt übrigens nicht nur von wirklichen Tieren, sondern auch von sagenhaften: vom Vogel Phönix, von Sirenen und Kentauren. Hier trifft man also Fabelwesen aller Art, die wir aus den Mythen des alten Ägypten und der griechischen Antike kennen.
"Der 'Physiologus' nimmt diese Deutungen auf und verchristlicht sie. Das ist natürlich der Versuch, in einer ganz bestimmten Umgebung sprachfähig zu sein. Deshalb hat man den 'Physiologus' häufig nach Alexandria verfrachtet und gesagt: In dieser Stadt, wo es so viele Religionen gibt, römisch, griechisch, orientalisch, jüdisch, dann auch christlich, da passt dieser Text besonders gut hin. Er versucht, aufgrund geläufiger Bilder die christliche Botschaft auf unterhaltsame und belehrende Art und Weise zu vermitteln."
"Vom Kentaurus. Es gibt Leute, die versammeln sich mit der Gemeinde. Dort sehen sie so aus als seien sie fromm, ohne dass sie daraus aber irgendeine Tugend ableiten. In der Gemeinde benehmen sie sich wie Menschen, wenn sie aber fern von der Gemeinde sind, werden sie zu Tieren! – In gleicher Weise haben auch die Kentauren oben die Gestalt eines Menschen und unten die eines Esels. - Gib also acht! Denn es verderben schlechte Beispiele leicht die guten Sitten."
Die Protagonisten des "Physiologus" begegnen uns noch heute, wenn wir mit aufmerksamen Blicken durch mittelalterliche Kathedralen streifen. Zum Beispiel in der großen Stiftskirche St. Cyriakus zu Gernrode im Harz. Dort kann man wundervolle Wandreliefs bestaunen voller Löwe und Bären, Greifenvögeln und Kentauren.
Klaus Fitschen, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig.
"Der Mensch hat sich auch im alten Israel in der Nähe der Tiere gewusst. Das heißt, die Vertrautheit zwischen den Tieren und den Menschen war hoch. Und die Abhängigkeit vom Tier auch. Der Mensch musste die Tiere schon deshalb respektieren, weil sie für das Leben und den Unterhalt der Seinen gelegentlich von ausschlaggebender Bedeutung waren."
Arndt Meinhold, Professor emeritus für Altes Testament der Universität Halle-Wittenberg.
"Im Buch der Sprüche steht, ich glaube, 12, Vers 10 ist das:"
"Der Gerechte kennt den Bedarf seines Nutzviehs. Aber dort, wo beim normalen Menschen Erbarmungs-Empfindungen sind, ist es bei den Frevlern grausam."
Laut Bibel, Buch Genesis, hat Gott alles "Gewürm, das auf Erden kriecht", dazu alles Vieh und die Tiere des Feldes am selben Tag wie den Menschen erschaffen. Meinholdt:
"Wenn die am selben Tag geschaffen sind, wusste man, dass der Zusammenhang enorm ist, wesensmäßig ist."
Aber wie weit geht diese - alttestamentlich bezeugte - "wesensmäßige Verbindung" zwischen Mensch und Tier? Darf der Mensch Tiere töten, um ihr Fleisch zu essen? Vielleicht sogar, weil Tiere keine Seele haben, wie Thomas von Aquin behauptet hat ? - Da gehen die Meinungen der Christen weit auseinander, sagt Klaus Fitschen:
"Ja. Unsere religiösen Diskussionen darüber sind sehr verschieden. Das Ganze ist natürlich immer eine Hypothese. Wir können nur als selbst reflektierende Wesen davon ausgehen, dass wir eine Seele haben, und dass diese Seele in gewisser Weise der Träger unseres Lebens ist. Mehr kann man dazu kaum sagen. Und man wird die Debatte auch wenig an der Seelenvorstellung festmachen können. Denn welches Tier hat nun eigentlich eine Seele? Hat die Ameise eine Seele oder das Schwein? Und bis zu welcher Entwicklungsstufe gibt es eine Seele oder nicht? - Unwägbare Debatten!"
Wie dem auch sei:
"Füllet die Erde und machet sie Euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht … "
… heißt es im Ersten Buch Mose. – Damit, so Arndt Meinhold, ist auf alle Fälle nicht gemeint, dass der Mensch mit seinen tierischen Gefährten schalten und walten kann, wie es ihm beliebt.
"Auf keinen Fall Willkür! Wie das lange Zeit in der evangelischen und auch katholischen Theologie gehalten wurde: 'Macht Euch die Erde untertan!', hieß in diesem falschen Verständnis: 'Beutet sie aus!' - Heißt im richtigen Verständnis: 'Pflegt sie so, dass sie Gewinn abwirft und erhalten bleibt!' Ohnehin weiß man, dass man die Natur nicht verbessern kann, sondern dass die Natur vollkommen ist."
Am Anfang der Zeit, im Garten Eden, so will es der biblische Mythos, lebten Menschen und Tiere in einem friedlichen Miteinander. – Paradiesische Zustände!
"'Paradies' ist das falsche Wort dafür, weil: Paradies ist ein spätes persisches Wort, 'Pardes', und meint sozusagen den Baum-Garten, also den parkähnlichen Garten. Aber der Gottes-Garten, der ist zu bebauen! Und zu bewahren vom Menschen, wie es da heißt, und darin soll sozusagen der Mensch seine Existenz entfalten."
Aber dieser Mensch tut nicht, was Gott ihm aufgetragen hat. – In den poetischen Bildern der Bibel ist es ein Tier, die Schlange, das den Menschen anstachelt, Gottes Gebot in den Wind zu schlagen:
"Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott, der Herr, gemacht hatte."
"Es ist das klügste unter den Tieren, wie es heißt, also kein satanisches Wesen, ein tierisches Wesen, also, ein dem Menschen ähnliches Wesen. Und ich würde denken: ein aus dem Menschen und seinem Wollen heraus gedachtes Wesen. Als Gegenüber, das ihm die Verlockungen seiner selbst präsentiert."
Fitschen: "Die christliche Tradition ist sich auch nicht einig, ob die Schlange nun ein böses Tier ist. Spätere haben gesagt, sie ist vielleicht sogar das Tier der Aufklärung, das den Menschen dazu bringt, sich selber zu erkennen. In jedem Fall sagt ja Jesus, man soll klug sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben."
Die Schlange im Buch Genesis, so Arndt Meinhold, ist ein Symbol. Ein Symbol für die innerseelischen Kräfte des Menschen. Für seine Neugier. Seinen Freiheitsdrang. Seine Lust am Widerspruch und Widerstand. Für sein Bedürfnis, eigene Wege zu gehen, um am Ende klug zu werden. Wenn auch durch Schaden und durch Leiden. Das ist der Preis.
"Die Schlange ist sowohl lebensfördernd als auch lebensschädigend. Das macht sie zu einem Phänomen, das nicht nur negativ besetzt sein kann."
Fitschen: "Die positive Bewertung der Schlange kennen wir bis heute! Wenn wir vor einer Äskulap-Apotheke stehen, haben wir dort den Äskulap-Stab mit der Schlange … "
Meinhold: " … weil ihr Gift in bestimmter minimaler Dosierung zur Gesundung des Menschen dienen kann."
Fitschen: "Der Schlage werden also ganz unterschiedliche Eigenschaften beigelegt, das ist im Übrigen bei ganz vielen Tieren so. Tiere sind etwas ambivalentes, insofern taugen sie auch als Symbole für den Menschen, der ebenfalls ein solches Wesen ist: gut wie böse."
Auch dem Löwen, er wird in der Bibel öfter erwähnt als jedes andere wilde Tier, schreibt der jüdisch-christliche Mythos höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen zu. - Zunächst:
"Der Löwe ist das Tier der Macht. Er ist stark, er symbolisiert die Kraft."
Meinhold: "Beim Löwen liegt völlig auf der Hand, dass Stärke, Majestät und Gefahr die Hauptkategorien sind, die mit ihm verbunden werden. Beim Löwen können auch Belege beigebracht werden, wo Gott selbst als Löwe auftritt: Hosea 5 Vers 14, da agiert Gott als Löwe gegen sein eigenes Volk."
"Denn ich bin für Ephraim wie ein Löwe und für das Haus Juda wie ein junger Löwe. Ich - ich zerreiße sie und gehe davon. Ich schleppe sie weg und niemand kann sie retten."
Beim Propheten Hosea gibt es auch ein poetisches Bild, da streitet Gott wie ein Löwe für sein Volk. Er sammelt die verstreuten Israeliten:
"Alsdann wird man dem Herrn nachfolgen, und er wird brüllen wie ein Löwe. Und wenn er brüllen wird, so werden zitternd herbeikommen seine Söhne von Westen her."
Aber nicht nur Gott wird in der Bibel mit dem Löwen assoziiert, sondern auch Israels Völkerstämme:
Fitschen: "Wenn man an das Alte Testament denkt: 'der Löwe Juda' … "
Meinholdt: "Also, Juda ist der Stamm, aus dem David kommt, der Stamm, aus dem Jesus kommt."
"Juda du bist’s! Dich werden Deine Brüder preisen. Deine Hand wird Deinen Feinden auf dem Nacken sein. Vor Dir werden Deines Vaters Söhne sich verneigen. Juda ist ein junger Löwe. Wer will ihn aufstören?"
Während der Löwe manchmal als ein Tier beschrieben wird, das Furcht und Schrecken verbreitet, ein andermal als eines, das Erfurcht und Zuneigung verdient, sprich: jenseits von gut und böse verortet ist, wird ein anderes Raubtier – der Wolf nämlich – in der Bibel gewöhnlich mit Abscheu betrachtet und mit den Attributen des Bösen belegt.
"Reißlustig, blutgierig, rücksichtslos, hart, verbrecherisch, könnte man beinah sagen."
Es gibt nur eine Stelle in der hebräischen Bibel, da wird der Wolf als ein fürsorgliches Tier beschrieben. Am Ende des Ersten Buch Mose segnet der sterbende Jacob seine Söhne, auf dass sie zu starken Stammvätern des Volkes Israel heranwachsen mögen. Über seinem jüngsten Sohn Benjamin spricht Jacob den folgenden Segen:
"Benjamin ist ein Wolf, der zu reißen pflegt. Am Morgen gewöhnlich Beute frisst und bis zum Abend Beutegewinn auszuteilen pflegt."
"Eine Sensation im Alten Testament! Weil nur dieser eine Spruch den Wolf positiv kennzeichnet. - Ein israelischer Spezialist für Zoologie der alten Welt, Felix, hat in einem Lexikon geschrieben, dass der Wolf lange Strecken gehe und Gerissenes auf diesen Strecken auch auf der Schulter transportiere. Es ist wahrscheinlich so, dass er mit der Schnauze das Gerissene packt und sich über die Schulter wirft und dann wahrscheinlich losmarschiert, bis er seine Nachkommen oder andere an diesem Raub teilhaben lässt."
Über den Heiligen Franz von Assisi gibt es die folgende Legende:
"Zu Franziskus Zeiten wird die italienische Stadt Gubbio immer wieder von einem hungrigen Wolf heimgesucht, der alles angreift, was ihm schwach erscheint: Lämmer, Kinder, Bettler, alte Leute. Franziskus trifft den Übeltäter auf Beutezug und stellte ihn zur Rede: 'Bruder Wolf, ich möchte, dass zwischen Dir und den Einwohnern von Gubbio Frieden herrscht!' - Der Wolf: 'Aber ich habe Hunger!' – 'Bruder Wolf, wenn Du Dich änderst, wirst Du in Gubbio ein glückliches Leben haben!' Seit diesem Tag bringen Gubbios Bewohner dem Tier regelmäßig zu fressen – und der Wolf lässt sie in Ruhe."
"Es wird die Lanze dafür gebrochen, dass der Wolf das menschliche Mitleid verdient und nicht nur die Verfolgung. Und es wird auch als Kindergeschichte erzählt. Dass die Kinder Erbarmen lernen und Angst verlieren. Ohne dass jetzt Leichtsinn einsetzt. Und dass man dem Wolf Bedürftigkeiten auch zuerkennt."
Beim Heiligen Franziskus gibt es übrigens nicht nur einen "Bruder Wolf", es gibt auch einen "Bruder Esel".
Fitschen: "Franz von Assisi hat seinen störrischen, widerspenstigen Körper als 'Bruder Esel' bezeichnet. Der Asket macht ja die Erfahrung, dass sein Körper störrisch ist. Er will ihn zähmen, er will ihn eigentlich loswerden, und der Körper bockt und will nicht, er geht seinen eigenen Weg, was uns ja manchmal auch auffällt. - Der Esel ist natürlich auch Träger der Würde: Maria und Joseph reiten auf dem Esel nach Ägypten! Wer mal im Orient war, weiß aber, dass der Esel niedrige Tätigkeiten ausführen muss. Und insofern ist der Esel eben tauglich für beides."
"Du, Tochter Zion, freue Dich sehr.
Und Du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, Dein König kommt zu Dir,
ein Gerechter und ein Helfer, arm –
und reitet auf einem Esel,
auf einem Füllen der Eselin."
… heißt es im Alten Testament bei Sacharja. – Ein messianisches Friedensreich kommt auf Israel zu, weiß der Prophet: Der Herrscher dieses Reiches wird sich nicht um irdische Güter scheren. Und daran wird man ihn erkennen: Er hat sich einen Esel zum Reittier gewählt. Dieses Prophetenwort ist wohl einer der Gründe dafür, dass Jesus von Nazareth, der geglaubte Messias der Christen auf einem Esel in Jerusalem Einzug hält. So steht es jedenfalls im Markus-Evangelium. Auch bei Matthäus und bei Lukas.
Das Reittier weltlicher Fürsten zu Jesu Zeiten war eben nicht der Esel, sondern das Kamel oder (von kriegerischen Herrschern bevorzugt) das Pferd. - Arndt Meinhold:
"Das ist sicher Absicht, dass das bescheidenere, das stillere Tier genommen wird, das eher häusliche Tier: der Esel. Das hatten so gut wie alle, die irgendwas bewältigen wollten in der Landwirtschaft. Es ist in der Metaphorik auch das Tier, auf das Verlass ist. Und das lange trägt. Und lange aushält."
Verlässlichkeit, Friedfertigkeit, Stärke - und Gleichmut im Leiden. Das alles sind Eigenschaften, die von den Israeliten auch einem anderen Tier zugesprochen werden, nämlich dem Lamm. Ein rechter Diener Gottes, so ein Wort des Propheten Jesaja, ist mit den "Tugenden" eines Lammes gesegnet:
"Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf."
Das Lamm ist das klassische Opfertier im Alten Testament – ein vollkommenes, ein reines Geschöpf. Als "rein" unter den Säugetieren galten den Israeliten übrigens alle Wiederkäuer mit gespaltenen Hufen:
"Und da war naheliegend, dass für die einfachen Menschen das Lamm, überhaupt Schaf und Ziege als Kleinvieh, Opferfähigkeit bedeutet. Und folglich auch verzehrt werden durften."
Das Bild vom Lamm, das geopfert wird auf dem Altar des HERRN, auf dass Jahwe einem die Sünden vergebe – dieses Bild war wohl jedem Israeliten geläufig. Darum haben es die Apostel Jesu Christi, Petrus und Paulus, in ihren Episteln verwandt, um die Bedeutung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus dem eigenen, dem jüdischen Volk verständlich zu machen. – Im ersten Brief des Petrus heißt es:
"Wisset, dass Ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seit von Eurem eitlen Wandel (…) , sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes."
Die Geschichte der jüdisch-christlichen Beschäftigung mit dem Leben der Tiere und der Vergleich mit dem Menschenleben ist mit dem Neuen Testament nicht zu Ende. Aus spätantiker Zeit ist uns ein bedeutendes Werk der christlichen Tiersymbolik überliefert: der sogenannte "Physiologus". Bis ins ausgehende Mittelalter war dieses Werk als eine Art "Volksbuch" in der gesamten christlichen Welt verbreitet. – Klaus
Fitschen:
"Der 'Physiologus' ist ein Buch, dessen Frühformen wohl auf das Jahr 200 nach Christus zurückgehen. Es handelt sich um Sammlungen von Geschichten, von Deutungen von Tieren, die im Laufe der Überlieferungsgeschichte auch ganz unterschiedlich zusammengestellt worden sind. Der 'Physiologus' tut das eigentlich, was die antike Rhetorik will: nämlich belehren, erbauen und zu etwas motivieren. Er belehrt, das tut er mit Hilfe von Tierbildern und Eigenschaften, die Tieren zugeschrieben werden. Er erbaut, indem er lustige Dinge erzählt, und er soll natürlich dazu bewegen, etwas zu tun!"
"Vom Biber. Es gibt ein Tier, das heißt Biber, ganz sanft und friedfertig. Wenn der Biber vom Jäger verfolgt wird und weiß, dass er gefangen wird, beißt er seine Hoden ab und wirft sie dem Jäger hin. – Auch Du, Glaubender, gib auch Du dem Jäger, was ihm zusteht. Der Jäger ist der Teufel! Und was ihm gehört, ist Unzucht, Ehebruch und Mord. Derartiges schneide aus und gib es dem Teufel. So wird er Dich loslassen … "
… heißt es im "Physiologus", Kapitel 23. Das Buch handelt übrigens nicht nur von wirklichen Tieren, sondern auch von sagenhaften: vom Vogel Phönix, von Sirenen und Kentauren. Hier trifft man also Fabelwesen aller Art, die wir aus den Mythen des alten Ägypten und der griechischen Antike kennen.
"Der 'Physiologus' nimmt diese Deutungen auf und verchristlicht sie. Das ist natürlich der Versuch, in einer ganz bestimmten Umgebung sprachfähig zu sein. Deshalb hat man den 'Physiologus' häufig nach Alexandria verfrachtet und gesagt: In dieser Stadt, wo es so viele Religionen gibt, römisch, griechisch, orientalisch, jüdisch, dann auch christlich, da passt dieser Text besonders gut hin. Er versucht, aufgrund geläufiger Bilder die christliche Botschaft auf unterhaltsame und belehrende Art und Weise zu vermitteln."
"Vom Kentaurus. Es gibt Leute, die versammeln sich mit der Gemeinde. Dort sehen sie so aus als seien sie fromm, ohne dass sie daraus aber irgendeine Tugend ableiten. In der Gemeinde benehmen sie sich wie Menschen, wenn sie aber fern von der Gemeinde sind, werden sie zu Tieren! – In gleicher Weise haben auch die Kentauren oben die Gestalt eines Menschen und unten die eines Esels. - Gib also acht! Denn es verderben schlechte Beispiele leicht die guten Sitten."
Die Protagonisten des "Physiologus" begegnen uns noch heute, wenn wir mit aufmerksamen Blicken durch mittelalterliche Kathedralen streifen. Zum Beispiel in der großen Stiftskirche St. Cyriakus zu Gernrode im Harz. Dort kann man wundervolle Wandreliefs bestaunen voller Löwe und Bären, Greifenvögeln und Kentauren.