Brüchige Schönheit

Von Margarete Blümel |
Bis vor hundert Jahren war Kalkutta die Perle Indiens. Doch obwohl Kalkutta inzwischen als chaotische und heruntergekommene Stadt gilt, sehen zahlreiche Investoren auch ihr Potenzial. Vielleicht, weil die Produktionskosten dort deutlich niedriger sind als in West - oder Südindien.
In der U-Bahn-Station Park Street in Kalkutta geht ein kleiner Junge seiner Arbeit nach. Vor etwa drei Stunden hat er sich an seinem angestammten Platz auf einer der Stufen unterhalb des Eingangs niedergelassen, sein Harmonium ausgepackt und die Spendenschale zu seinen Füßen deponiert. Jetzt, kurz nach elf Uhr vormittags, ist das Metallschälchen immer noch leer. Unverdrossen singt der Kleine weiter.

Wahrscheinlich findet er keinen besseren Ort. Den hier sticht der höchstens Zwölfjährige der Polizei nicht ins Auge. Hier gibt es keinen Ladenbesitzer, der an ihm Anstoß nehmen könnte. Hier lebt er. Wenn er abends die paar Stufen zum Ausgang hoch nimmt, hat er es nicht mehr weit bis zu seiner Nische am Rand des Bürgersteigs. Ganz in der Nähe gibt es einen Hydranten, an dem er sich waschen kann. Die anderen Pflasterschläfer kennt er und muss sich daher keine allzu großen Sorgen um seine Habe machen. Außerdem gibt es in der belebten Region rund um Kalkuttas Park Street viele Restaurants und Imbiss-Stände. Da fällt für ihn, der nicht wählerisch sein kann, immer etwas ab.

Für einen Armen, der sein Dasein in Kalkutta fristet, sind das eine Menge Pluspunkte auf einmal.

Mehr als vierzehn Millionen Menschen leben heute in der Metropole Kalkutta. Etwa fünf Prozent von ihnen gehören zum gehobenen Mittelstand, einige wenige sind reich. Geschätzte zwanzig Prozent leiden keinen Hunger, haben eine feste Unterkunft und können ihre Miete bezahlen. Die meisten aber blicken jeden Tag aufs Neue in den Abgrund. Ein Überlebenskampf, dem viele Bewohner mit einer für die Stadt typischen Mixtur aus Optimismus, Kreativität, Humor und Verzweiflung begegnen. Sie leben in einer Großstadt, die bei ihrer Gründung auf eine Million Menschen zugeschnitten war und die bis heute, trotz des offenkundigen Elends und der schlechten Infrastruktur, ein Bevölkerungsmagnet geblieben ist.

"Wir mögen diese Stadt - sehr sogar. Und wenn sie noch so überfüllt ist und ihre Straßen dermaßen verstopft sind. Wir sind stolz auf Kalkutta. Fragen Sie mich nicht, warum, aber da spielen eine ganze Menge an Gefühlen eine Rolle."

So will es ein anderer, älterer Passant allerdings nicht ausdrücken.

"Ich frage Sie: Wie kann man Kalkutta gern mögen? Es ist hoffnungslos hier! Ich lebe nun schon seit langem in Kalkutta. Wenn ich diese Stadt mag, dann nur, weil ich mich im Lauf der Zeit an all das hier gewöhnt habe."

Kalkutta ist die Hauptstadt Westbengalens, eines Bundesstaates im Osten Indiens. Tag für Tag treffen neue Migranten aus dem benachbarten Bangladesch im aus ihrer Sicht verheißungsvollen Westbengalen ein. Auch aus den angrenzenden indischen Nachbar-Bundesstaaten strömen von Hoffnung erfüllte Menschen in die Stadt. Heute gehört Westbengalen zu einem der am dichtesten bevölkerten Landstriche Indiens. Vor allem Kalkutta platzt aus allen Nähten. Etwa zwei Drittel seiner Bewohner leben in Slums, unter Plastikplanen am Straßenrand oder gänzlich ohne jeden Schutz gegen Wind und Wetter auf der Straße.

Von morgens bis abends steht der Verkehr auf den Straßen Kalkuttas kurz vorm Kollaps. Daran hat auch die U-Bahn nicht viel geändert. Sie deckt nur wenige Ziele in der Stadt ab. Überdies ist sie für viele Bewohner unerschwinglich, weshalb die meisten mit dem Bus vorlieb nehmen. Auch wenn das bedeutet, stundenlang, von einer Dieselwolke eingenebelt, im Stau verharren zu müssen.

Und dann gibt es noch die Rikscha – Läufer.

Unter der unbarmherzigen Sonne, während der Regenfälle im Monsun, von morgens bis in die Nacht hinein stehen sie in der Deichsel, laufen, nicht selten barfuß, über die Straßen. In den Augen vieler Touristen menschliche Lastentiere, die Frondienst verrichten. Weil sie das nicht unterstützen wollen, verzichten sie auf ihre Dienste. Eine Haltung, die den Rikschazieher Kumar Das nicht freut. Denn die Konkurrenz unter den Rikschaläufern ist groß und seine Kollegen sind genauso hungrig wie er. Auch sie haben in den Dörfern Indiens Frauen, Kinder, unverheiratete Schwestern oder kranke Eltern haben, die auf die Überweisung aus Kalkutta warten.

"Ich habe nur dieses eine Hemd. Wenn es schmutzig ist, wasche ich es am Abend, um es morgens zur Arbeit wieder anziehen zu können. Geld? Habe ich so gut wie gar keins. Mein Leben steht unter einem schlechten Stern. Wir Rikschamänner führen ein miserables Dasein."

"Die bis vor kurzem amtierenden Kommunisten wollten das Rikscha-Ziehen in Kalkutta verbieten, um den Läufern ihre Menschenwürde zurückzugeben. Aber davon können wir uns nicht ernähren", sagt Kumars Kollege Krishna Bharadvaj. Wahrscheinlich werde auch die neue Regierung, die vor ein paar Monaten ins Amt gekommen sei, irgendwann einmal davon anfangen. Aber dann verlaufe alles, wie gehabt, im Sande.

"Politik ist ohnehin nichts für jemanden wie mich. Ich halte mich da raus. Was kann ich dabei gewinnen? Wir hatten hier auch einmal eine Gewerkschaft, die nur für uns, nur für die Rikschaläufer, zuständig war. Es hat sich trotzdem nichts daran geändert, dass die Besitzer der Rikschas uns ausbeuten. Und es wird sich auch nichts daran ändern. Nicht in diesem, nicht im nächsten Leben! Es ist vielleicht schade, dass ich so denke. Aber, nein, wirklich: Für Leute wie mich hat Politik einfach keinen Sinn."

Krishna Bharadvaj ist vierundsiebzig Jahre alt. Er hat ein verschlissenes Hüfttuch um seine Körpermitte gewunden. Darüber trägt er eine Art Rippenshirt, das weiß gewesen sein muss, bevor der Dreck aus den Auspuffrohren der Busse, Taxis und Privatwagen es mit einer immergrauen Tünche überzogen hat. Die dicke Hornhaut unter Krishnas Füßen ersetzt die Schuhe. Immer wieder hat Krishna mit seinen Kollegen darüber gesprochen, warum ihr Beruf abgeschafft werden soll: Die Politiker schämten sich, glaubt ein Freund, weil das altertümliche Rikscha-Ziehen Westbengalen rückständig erscheinen ließe. Und: Sie seien zu langsam und hielten da, wo Autos und Busse womöglich gerade einmal voran kämen, den Verkehr auf.

"Ich habe mir von Anfang an eine andere Arbeit gewünscht. Aber, wer wird mir die geben? Toll hörte sich das an, was die Politiker damals sagten: Wir sollten einen neuen, besseren Job bekommen und hunderttausend Rupien zusätzlich. Nur, wo ist dieses Geld? Ich bin vielleicht alt. Trotzdem wünschte mir auch jetzt noch eine andere Arbeit. Aber es ist nichts in Sicht."


Seit nunmehr fünfzig Jahren stellt sich der Rikscha-Läufer morgens ab sieben in der Nähe des Basarviertels in die Deichsel, um mit Einkaufskörben beladene Hausfrauen in Saris, Kinder in Schuluniformen und Büroangestellte in Tuchhosen mit Bügelfalte zu ihrem Ziel zu bringen.

Abends gegen acht, sagt Krishna, stelle er die Rikscha neben seinem Laden ab. Der Vierundsiebzigjährige zeigt erst auf den Bürgersteig vor ihm, dann auf ein Bündel, das ein Bekannter tagsüber gegen ein kleines Entgelt im Auge behält. Darin enthalten sind Götterbildchen, Rattenfallen und einzelne Zigaretten, die Krishna bis kurz vor Mitternacht verkauft. Danach schnürt er seine Sachen zusammen, bindet sich den Sack fest um die Brust und legt sich an Ort und Stelle schlafen.

"Ich lebe seit meiner Kindheit auf dieser Straße. Hier verkaufe ich meine Waren, koche eine Kleinigkeit für mich und esse schließlich. Meine Familie wartet jeden Monat auf mein Geld. Ein Zimmer kann ich mir nicht erlauben."

In Kalkutta stehen an jeder Kreuzung Verkehrspolizisten. Manchmal lassen sie die Rikschaläufer unbehelligt ihrer Wege ziehen. Oft genug aber versuchen sie, ihr mageres Gehalt zu deren Lasten aufzubessern. Sie erfinden Regeln, die ihr jeweiliges Opfer übertreten haben soll. Sie drohen, ein vorgeblich nicht verkehrstüchtiges Gefährt zu beschlagnahmen. Aus der Schlinge kommt der Betroffene nur, indem er eine Strafe zahlt. Bar an den Polizisten und ohne Quittung.

"Die Regierung sieht unsere Rikschas ebenfalls nicht gern. Das nutzen die Polizisten aus. Manchmal steckt der Rikscha-Besitzer auch jemandem an höherer Stelle etwas zu. Dann wird es eine Weile ruhiger. Natürlich haben wir hin und wieder auch unangenehme Kunden, die den Preis drücken wollen. Doch die Polizisten - die sind wirklich ein Fluch! Haben wir auch nur einen von denen gegen uns, sind wir verloren. Wenn sie uns nicht behelligen, ist erst mal alles gut!"

Das Schicksal, den Vertretern des Gesetzes oder auch Angestellten von Ämtern und Behörden ausgeliefert zu sein, teilen die Rikschaläufer mit den Straßensängern, die Straßensänger mit den Händlern und die Händler mit ihren Kunden.

Mit all ihren Kunden. Auch mit denen, die einigermaßen wohlhabend sind. Denn Korruption ist in Kalkutta gang und gäbe. Keine Anlaufstelle, an die sich jemand wenden könnte. Kein Ausweg - außer dem - manches Mal sehr tiefen - Griff ins Portemonnaie. Der Geschäftsmann Roy Chatterjee weiß deshalb sehr genau, was eine gute Regierung in Westbengalen anders machen müsste.

"Wir brauchen eine verantwortungsbewusste Führung. Und dann? - Bessere Straßen. Und noch etwas, womit ich mich jeden Tag meines Lebens hier herumschlagen muss: Ein Verkehrsmanagement, das diese Bezeichnung auch verdient. Außerdem muss die Polizei für das, was sie tut und was sie unterlässt, verantwortlich gemacht werden. Auch sollte natürlich jeder, der hier lebt, zumindest das zum Leben Notwendigste besitzen. Aber vor allem brauchen wir eine verantwortungsbewusste, unbestechliche Führung."

Roy Chatterjee hat es eilig. Er will in den Tollygunge Club am anderen Ende der Stadt, um dort mit Freunden Golf zu spielen und den Abend mit ein paar Gläsern Whisky zu beschließen. Leute wie Roy Chatterjee leben in Kalkutta in feinen Enklaven. Sie haben Gärtner, Chauffeur, Hausangestellte, I-Pods und Internetzugang rund um die Uhr.

Für Kalkuttas aufstrebende Mittelschicht wurde Salt Lake City geschaffen, ein chices Geschäftsviertel mit Hotels und Banken, durch und durch geplant und gut an den internationalen Flughafen angebunden. Die Diskrepanz sei enorm, sagt der Bankangestellte Shankar Viswanathan. Denn in keiner anderen Stadt Indiens sei das Elend größer und sichtbarer als in Kalkutta. Im Grunde sei alles noch ganz so, wie es die ehemaligen Kolonialherren zurückgelassen hätten. Das Schienennetz, die Wasserversorgung und die Entsorgung des Abwassers - heute sei all das in Kalkutta unzureichend, wenn nicht gar katastrophal.

"In erster Linie hat hier in Bengalen die Landbevölkerung von der ehemaligen kommunistischen Regierung profitiert: Die Leute auf den Dörfern bekamen entweder neues Land zugesprochen oder sie erhielten - zu günstigen Bedingungen - größere Parzellen zur Pacht. Alles in allem haben sich damit die Lebensbedingungen der Menschen in den Dörfern deutlich verbessert. In Kalkutta dagegen ist davon nichts zu sehen."

Die Millionenmetropole Kalkutta mit ihren maroden Häusern und riesigen Slums gilt als Symbol des Scheiterns der vor kurzem abgewählten Kommunisten. Ganze Häuser sind komplett verfallen. Doch selbst dort, in halbwegs trockenen Nischen und abenteuerlich abgestützten Kellerkammern, haben Einzelne, manchmal sogar ganze Familien, Unterschlupf gefunden. Kostenlos ist das nicht. Die Besitzer der Gemäuer haben ihre Leute, die auch hier regelmäßig Mietgeld eintreiben. Wer nicht zahlen kann, muss gehen. An Bewerbern für derartige Behausungen herrscht kein Mangel.

Im Hinterhof eines dreistöckigen Mietshauses fegt ein alter Mann den Boden. In einem Baum über ihm tobt eine Horde Affen durchs Geäst, um einander schließlich, ohne ein Zeichen der Ermüdung, mit den meterlangen Luftwurzeln zu bewerfen. Ringsum, wie beinahe überall in Kalkutta, von Blei und Schmutz gefärbte Gebäude in diversen Stadien des Verfalls. Häuser, in deren Hinterhöfen alte Bäume mit ihren Ästen in die Zimmer greifen.

Mohini Shrivastav hat für romantische Regungen oder Neigungen zur Ästhetik in ihrem Dasein keinen Platz. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den vier Kindern in einem Elendsviertel in der Nähe des großen Kalitempels. Die sechsköpfige Familie teilt sich ein Zimmer. Ein tröpfelnder Wasserhahn und die nahe gelegene chronisch verstopfte Latrine werden von etwa vierzig weiteren Menschen benutzt.

Der Slum, in dem die Shrivastavs leben, ist offiziell registriert. Mit Hilfe der Weltgesundheitsorganisation wurden in vielen der rund fünftausend registrierten Slums Kalkuttas bessere Möglichkeiten zur Abfallbeseitigung geschaffen. Straßenbeleuchtung, Abwasserkanäle und Toiletten wurden installiert. All das wird mehr oder weniger regelmäßig kontrolliert und instand gehalten.
Für Mohini Shrivastav dennoch ein Fortschritt.

"Lange Zeit war das Trinkwasser, das aus den Leitungen kam, absolut ungenießbar. Es schillerte in allen Farben und schmeckte bitter. Vor allem Kinder bekamen davon Durchfall. Wir haben deswegen an viele Türen klopfen müssen und wurden dauernd vertröstet. Dann hatte ein Nachbar die Idee, an die Zentralregierung in Delhi zu schreiben. Ich glaube, die Götter wollten uns für unsere Beharrlichkeit belohnen! Denn kurz darauf trafen große Tankwagen mit Trinkwasser ein. Einige Tage später wurden die Wasserleitungen überprüft und ein paar Rohre ausgetauscht. Ob es nun der Brief war oder ob nicht doch eher die Götter ein Einsehen hatten - wir haben nicht aufgegeben und zumindest dieses eine Mal hat sich das gelohnt."

Im Gegensatz zu solchen registrierten Slums sind Kalkuttas ungezählte illegale Ansiedlungen ein völlig rechtloser Raum. Die Bewohner stehen dort unter dem Diktat einer Art Mafia, die von ihnen Schutzgeld eintreibt. Solange das Elendsviertel nicht wieder abgerissen wird, etwa, weil das Gelände bebaut werden soll, dürfen die zahlenden Mieter in den Hütten und Verschlägen wohnen bleiben. Forderungen können sie nicht stellen. Sie müssen mit dem vorlieb nehmen, was vorhanden ist.

Mohini Shrivastav hat sich daran gewöhnt, dass es nie ganz leise wird, wenn mehr als tausendfünfhundert Menschen auf kleinstem Areal zusammenleben. Dass es keine Intimsphäre gibt, keine Möglichkeit, mit sich oder mit dem Partner allein zu sein. Mohini zeigt auf die Ansammlung von Hütten, die sich schräg gegenüber unter der Sonne ducken. Auf die Jungen, die gleich dahinter vom Dach einer Baracke farbige Drachen in die Luft entlassen. Und auf den kleinen Bolzplatz zur Rechten, der im Moment von ein paar Ziegen abgeweidet wird.

Das, was sie hier habe, sei dennoch besser, als in einem unregistrierten Slum zu wohnen. Oder unter Plastikplanen an irgendeiner Straße. Wo es niemanden bekümmere, ob man nun tot sei oder lebendig.

"Selbst wenn wir hier weg wollten - wohin könnten wir schon gehen? Wir sollten dankbar sein, denn wir haben es besser als viele, viele Andere in dieser Stadt. Wir haben ein Dach über dem Kopf, trinkbares Wasser und sogar Strom! Wenn mein Mann eine bessere Arbeit bekommt, wollen wir uns einen kleinen Fernseher anschaffen. Das Schicksal hat es für uns vorgesehen, an diesem Ort zu leben. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Also bleiben wir hier."