Bruno Preisendörfer: "Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen."
Galiani-Verlag, Berlin
266 Seiten, 20 Euro
Die begrenzte Sichtweite der Visionäre
Vor 60 Jahren ging man noch mit Schiefertafeln in den Unterricht, heute sind schon Grundschulkinder kleine Meister im Umgang mit Smartphones: Der Medienwandel schreitet mit hoher Geschwindigkeit voran. Bruno Preisendörfer hat darüber ein persönliches Buch geschrieben.
Frank Meyer: Der Berliner Publizist und Schriftsteller Bruno Preisendörfer ist Jahrgang 1957. Als er zur Schule gegangen ist, hatte er anfangs noch eine Schiefertafel in der Schulmappe, wie die Schulkinder im 19. Jahrhundert. Heute schreibt Bruno Preisendörfer natürlich auch am Computer, und über solche Verwandlungen zum Beispiel seiner Schreibgeräte hat er jetzt ein Buch geschrieben. Willkommen, Herr Preisendörfer!
Bruno Preisendörfer: Guten Tag!
Meyer: Die Schiefertafel und der Griffel dafür aus Ihrer Kindheit – ist das noch da? Hören Sie noch die Geräusche, die der Griffel macht auf der Tafel?
Preisendörfer: Ja. Die Tafel selbst hat nicht überlebt, die ist irgendwann zerbrochen und wurde dann entsorgt. Aber das Geräusch höre ich noch sehr deutlich. Hauptsächlich gar nicht das von dem Griffel. Denn so eine Tafel musste man ja abwischen und da gab es so Schwammdosen. Und die mussten natürlich nass sein, und wenn sie dann trocken waren, dann hat sich der Schwamm unter den Rand der Dose zurückgezogen, was dann zu schrecklichen, schrillen Kratzgeräuschen auf der Schiefertafel geführt hat. Und die gellen mir heute noch in den Ohren. Es gibt ja Sachen, die hört man immer, so lange man auch leben mag.
Ein Korrekturgedächtnis von einer Zeile
Meyer: Sie erzählen dann, mit welchen Schreibwerkzeugen Sie im Lauf Ihres schreibenden Lebens gearbeitet haben. Irgendwann kam die Schreibmaschine, dann die elektronische Schreibmaschine, Ihr erster Computer … Was war der größte technologische Sprung in Ihrer Schreibgeschichte?
Preisendörfer: Der große technologische Sprung war natürlich der Sprung von der elektronischen Schreibmaschine, die ein Korrekturgedächtnis von einer Zeile hatte - wenn man die Zeile gewechselt hat, war das weg -, hin zum Computer. Das war natürlich schon eine großartige Sache. Ich glaube, in meinem Fall insofern auch besonders wichtig, weil man grob zwei Typen von Autoren unterscheiden kann. Die einen denken erst und schreiben dann. Die anderen schreiben erst und denken dann. Ich gehöre zur zweiten Sorte. Das heißt, man muss sehr viel korrigieren. Früher, als ich mit der Hand oder mit der Schreibmaschine geschrieben habe, war das ein Chaos. Beim Computer ist das natürlich handwerklich sehr viel einfacher.
Heute rechnet man Epochen in Jahren
Meyer: Sie haben sich neben den Schreibwerkzeugen auch Tonträger angesehen: Bildspeicher, Telefone, auch andere Mediensysteme. Wieso wollten Sie überhaupt solche Geschichten über solche Verwandlungen erzählen?
Preisendörfer: Der geschichtsphilosophische Hintergrund, wenn man es hochtrabend ausdrücken will, war die Tatsache, dass die Entwicklung der Technik und in dessen Folge auch die soziale Entwicklung in den letzten zwei, drei Jahrzehnten sich in einer Geschwindigkeit vollzogen hat, wie nie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte – man muss es wirklich so dramatisch sagen. In der Bronzezeit haben Entwicklungen hunderte und aberhunderte von Jahren gedauert. Jetzt rechnen wir so zusagen die Epochen – von denen man eigentlich gar nicht mehr reden kann – in Jahren.
Das hat mich fasziniert, weil darum sozusagen ein ganzer Reigen von Erfahrungen tanzt. Manchmal auch mit viel Ärger. Und das fand ich faszinierend, weil man dann merkt, dass Versprechungen nicht eingehalten werden. Wenn man auf den Markt geht und sagt, hier, die VHS-Kassette, da könnt ihr euch Videotheken anlegen, da habt ihr die Filme für alle Zeiten. Bumm, 20 Jahre später gibt es gar keine Geräte mehr, mit denen ich eine VHS-Kassette abspielen kann.
Das sind natürlich Effekte, die Rückstöße haben auf die eigene Gegenwart. Da kann man lernen: Hoppla, vor zehn Jahren, kann ich mich noch erinnern, war es so und so. Und jetzt wird mir das und das erzählt – wie ist es denn in zehn Jahren in der Zukunft? Dieser Vorgang hat mich interessiert.
Kein nostalgischer Rückblick
Meyer: Ein Effekt dieses rasanten Medienwandels ist ja auch, wie stark man selbst altert, also wie einen die Medien quasi überholen. Dazu haben Sie am Anfang Ihres Buches gleich ein sehr schönes Zitat aus Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis" gestellt. Ein Teil des Zitats lautet: "Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge." Gibt es denn Tage, an denen Sie das so empfinden?
Preisendörfer: Ja, das merkt man manchmal. Das hat aber alles auch ein bisschen was mit Selbstironie zu tun. Ich lege sehr viel Wert darauf, dass es kein nostalgischer Blick ist: "Früher war alles besser" oder "die Jugend von heute". Diesen Blick kann ich nicht ausstehen, das ist papperlapapp. Das ist nicht meine Perspektive.
Trotzdem ist es ja so, und auch das ist neu in der Geschichte der Menschheit, dass so etwas wie Lebenserfahrung entwertet wird. Jedenfalls in diesen Bereichen, in anderen existenziellen menschlichen Bereichen vielleicht nicht. Früher hat ein Handwerker an seinen Lehrling die handwerkliche Erfahrung eines ganzen Berufslebens weitergegeben. Heute ist das nichts mehr wert, weil sich die Dinge so schnell ändern, sodass die Jungen vorne sind und die Alten müssen technisch von den Jungen lernen.
Auch das ist natürlich ein faszinierender Vorgang. Manchmal tut das auch ein bisschen weh, und man ist ja müde und matt. Aber andererseits hält das natürlich auch auf Trab. Mitunter ist es auch lustig. Wenn ein Zehn- oder Elfjähriger fragt, sag mal, Opa, wie seid ihr eigentlich ins Internet gekommen, als es noch keine Computer gab? So eine Situation ist natürlich Wahnsinn.
Veraltete Zukunftsversprechen
Meyer: Sehr schön ist in Ihrem Buch zu lesen von den Dingen, die damals, als sie aufkamen, ganz tolle, heiße, neue Geschichten waren, und die uns heute hoffnungslos altmodisch vorkommen. Das macht auch den Charme Ihres Buches mit aus, fand ich. Frühe Fernsehtechnik zum Beispiel. Als die aufkam, gab es den Ferndirigenten und den Zauberschalter.
Preisendörfer: "Ferndirigent" ist ein West-, "Zauberschalter" ist ein Ostprodukt, also ein DDR-Produkt. Beide Gerätschaften, die übrigens von der heutigen Optik oder von den altmodischen Fernbedienungen – die sehen ja heute auch ein wenig anders aus –, also von den ersten Fernbedienungen gar nicht so weit weg waren.
Damit konnte man sozusagen ohne Aufstehen das Fernsehgerät oder auch die Musiktruhe bedienen. Allerdings nicht per Funk oder Bluetooth oder solche verrückte Sachen, sondern die waren verkabelt. Die waren per Kabel mit dem Gerät verbunden. Dadurch konnte man Veränderungen vornehmen, ohne den Sessel verlassen zu müssen. Das war alles wahnsinnig teuer. Es waren Statusdinger. Damit konnte man richtig renommieren und konnte sagen, du mit deiner ollen Musiktruhe, aber ich habe hier den Ferndirigenten.
Interaktives Fernsehen per Klospülung
Meyer: Schön auch, dass Sie in ihrem Buch den Blick auch auf die östliche Technikgeschichte, also der DDR zum Beispiel, richten. Das hat man sonst ja eher selten. Noch eine faszinierende Neuheit von gestern in ihrem Buch aus der Zeit von 1970 herum: Interaktives Fernsehen mithilfe von Klospülungen und Wasserhähnen. Wie ging das denn?
Preisendörfer: Ja, das war Wahnsinn. Wenn man sich das heute vor Augen führt, mit der Besessenheit von Nachhaltigkeit, die ja richtig ist, dann fällt man wirklich um. Es gab Fernsehshows, wo dann Familien oder Städte Wettkämpfe gemacht haben, sportiv, irgendwelche verrückten Spiele. Und das Publikum sollte dann entscheiden, wer gewonnen hat.
Wie macht man das? Man hat eine gewisse Region ausgesucht, die Regionen konnten sich auch bewerben, das war im Vorfeld dann schon ein bisschen Theater. Und in dieser Region gab es dann zum Beispiel die Möglichkeit, in einem Zeitfenster von ein paar Minuten Wasser zu verbrauchen. Und das Wasserwerk in der Region konnte das messen. Wenn dann 5.000 Leute in Castrop-Rauxel aufs Klo rennen und spülen, dann merke ich das ja, und damit kann ich dann sagen: Jetzt ist die Familie A dran – spül, spül. Und die Fans von Familie B - spül, spül. Und mit dieser Methode hat man interaktiv dann das Publikum beteiligt – verrückt.
Die Angst vor den neuen Medien
Meyer: Interaktivität durch Klospülung. Das ist wirklich eine tolle Geschichte aus Ihrem Buch. Fernsehen ist ja sowieso interessant, weil es da auch Parallelen gibt zu dem, was wir heute erleben. Fernsehen wurde ja lange Zeit als die große Kulturzerstörungsmaschine angesehen. In unserer Gegenwart sagt man das das heute, zu Recht oder Unrecht, zum Beispiel über die sozialen Medien. Was hat man denn alles befürchtet, als das Fernsehen jung war, was das über uns bringen könnte?
Preisendörfer: Man hat befürchtet, dass die Menschen in ihrer Fantasie verarmen, dass die Menschen passiv werden, also das Couch-Potato-Problem, dass die Menschen süchtig werden, dass die Menschen ihre anderen Aktivitäten, auch außerhäusliche Aktivitäten zurückfahren, um vor dem Schirm zu sitzen und sich passiv bespielen zu lassen. Das waren und sind alles hysterische Ängste, die aber ja nicht grundlos sind.
Interessant ist nur die Struktur, wie die vorgebracht werden. Als im 18. Jahrhundert die Unterhaltungsromane aufblühten, als der literarische Markt sich entwickelte, gab es Warnungen vor der Leseseuche, die eins zu eins strukturell ähnlich sind oder entsprechend den Warnungen vor dem Fernsehen. Man braucht bei diesen alten Texten nur das Wort "Roman" durch "Fernsehen" zu ersetzen, dann hat man einen aktuellen Text. Und jetzt hat man natürlich nicht mehr das Fernsehen, sondern das Internet oder Social Media, und alle paar Wochen kommt eine neue Studie, dass die Jugend fünf Stunden mit den sozialen Medien befasst ist. Das muss man gelassen sehen, ohne es zu ignorieren. Das wegzuwischen, ist natürlich auch falsch, meiner Meinung nach.
Auch Visionäre liegen mal falsch
Meyer: Interessant ist ja auch der Blick zurück: Wie wurde früher über die Zukunft gedacht? Da haben Sie auch einige sehr interessante Punkte. Zum Beispiel, als das Internet aufkam, hat Microsoft-Pionier Bill Gates gesagt, das World Wide Web sei nicht mehr als ein Hype. Womit er natürlich sehr grundsätzlich daneben lag. Irgendwie ist es ja auch tröstlich, herauszufinden, dass auch Visionäre wie Bill Gates so daneben liegen können.
Preisendörfer: Auch Visionäre haben nur eine begrenzte Sichtreichweite. Und Visionäre sind oft auf ein bestimmtes Thema fokussiert. Das heißt, die sind oft am wenigsten zu etwas in der Lage, wenn das eigene Themenfeld verlassen wird. Ein anderes Beispiel ist Steve Ballmer. 2007, als das erste IPhone kam, hat er sich kaputt gelacht. Kann man auf YouTube angucken - "Das soll ein Telefon sein? Das benutzt kein Mensch!" Wahnsinn. Was für eine Fehleinschätzung.
Und das wiederholt sich. Das ist keine besondere Borniertheit von Bill Gates gewesen, sondern das ist so ein Grundsatz, dass gerade Leute, die sehr weit vorn sind, dann plötzlich das Neue, was nicht auf Ihrer Spur liegt, gar nicht denken und wahrnehmen können.
Mehr Gelassenheit im Umgang mit dem Medienwandel
Meyer: Ich habe den Eindruck, Herr Preisendörfer, dass Ihnen die Beschäftigung mit diesem rasanten Wandel vor allem in der Medientechnik mehr Gelassenheit geschenkt hat.
Preisendörfer: Wenn man das alles durcharbeitet und nacherinnert und natürlich auch ein bisschen nachrecherchiert, dann kommt so eine gewisse Selbstironie auf und auch so eine gewisse Gelassenheit. Ich sagte es ja schon. Das ist gut gesehen. Was aber nicht heißt, dass es wurschtig sein muss. Man kann ja eine Gelassenheit in der Analyse haben, ohne so eine beliebige – ich drücke mich drastisch aus – abgefuckte Wurschtigkeit an den Tag zu legen. Das wäre natürlich auch nicht adäquat.
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