Bruno Latour und Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“

Kriegszone Ökologie

05:44 Minuten
Das Bildcover zeigt die Illustration eines kaktusförmigen Gebildes, aus dem Blüten, technische Geräte und Fäuste erwachsen.
© Suhrkamp

Nikolaj Schultz, Bruno Latour

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs

Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein MemorandumSuhrkamp, Berlin 2022

93 Seiten

14,00 Euro

Von Arno Orzessek |
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Es steht übel um unsere Erde. Das wissen alle. Trotzdem tut sich offenbar nicht genug. Nur eine „ökologische Klasse“ kann die fatale Lage ändern, glauben Bruno Latour und Nikolaj Schultz. Ihr Büchlein, unkonkret und radikal zugleich, öffnet Horizonte.
Sie kennen das: Unzählige Bücher zur Umwelt- und Klimakrise bersten vor unheilvollen Zahlen, Daten und Fakten. Der im vergangenen Oktober verstorbene Bruno Latour und Nikolaj Schultz präsentieren überhaupt keine.
Ihre Frage lautet: „Unter welchen Bedingungen könnte die Ökologie die Politik um sich herum organisieren, statt nur eine Bewegung unter anderen zu sein?“ Die Antwort im Stil eines feurigen Manifests in 76 Punkten ist zugleich radikal und unkonkret, aber öffnet Horizonte.
Bisher, so Latour und Schultz, hätte politische Ökologie es nur geschaffft, „die Menschen in Panik zu versetzen und diese gleichzeitig […] zum Gähnen zu bringen.“ Allein eine „ökologische Klasse“ könne das Blatt noch wenden, indem sie angesichts fundamentaler Krisen – Erderwärmung, Corona, Ressourcenschwund etc. – einer „neuen Kosmologie“ den Weg bereitet: „Auf einmal ist die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gilt; sie besitzt uns.“ Oha!

Wider das Primat der Produktion

Verblüffend vage bleibt, wie die ökologische Klasse (ÖK) konkret aussieht, wer dazu gehört, wie sie sich organisiert. Latour/Schultz skizzieren die ÖK vor marxistischem Hintergrund in entfernter Analogie zur bürgerlichen Klasse und zur Arbeiterbewegung. So wirkungsmächtig wie diese einst waren, müsse die neue Klasse werden – jedoch im Zeichen der „Bewohnbarkeit“ der Erde Entscheidendes besser machen.

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Das heißt: Weg mit dem Primat der „Produktion“ (alias 'Wachstum') und der Analyse aller menschlichen Verhältnisse unter diesem Primat. Bedeutet auch: Verteilungsfragen, Hauptstreitpunkte im Sozialismus und Liberalismus, stehen zurück. Die „Welt, in der wir leben“, müsse in einen Ausgleich mit der „Welt, von der wir leben“, gebracht werden – sonst ist die Bewohnbarkeit dahin.

Honigseim für die Letzte Generation

Großzügig erteilen Latour/Schultz der ökologischen Klasse allerlei Lizenzen und Befugnisse. Nur sie könne heute den „Sinn“ von Geschichte definieren, ähnlich wie einst Moderne und Fortschritt Sinn versprachen. Die ÖK sei nämlich „rationaler“ als alle anderen Klassen, „weil sie weiter blickt, weil sie mehr Werte berücksichtigt, weil sie bereit ist, an mehreren Fronten für sie zu kämpfen“. Ökologie und Zivilisation seien schlicht „gleichbedeutend“.
Das klingt wie Honigseim für die "Letzte Generation", die bei der Lektüre des Buches allerdings lernen würde, wie komplex die „Wende“ samt der Überwindung der affektiven Beharrungskräfte im Konsumkapitalismus tatsächlich ist.

Der Name einer Kriegszone

Latour/Schultz schwanken zwischen suggestiver Zuversicht und ausgenüchtertem Realismus. Schlicht „teuflisch“ finden sie die passive Haltung, die sich in dem Hölderlin-Satz ausdrückt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Die ÖK ist für sie bislang „so etwas wie der neue dritte Stand: ein Nichts mit dem Ehrgeiz, das Ganze zu sein.“ Sie müsse nun im Kampf der Ideen die Hegemonie erringen, die „illusorische“ Globalisierung so hart bekämpfen wie den reaktionären Rückzug in nationalstaatliche Gehäuse (die EU kommt gut weg) und sich auch der emotionalen Kraft des Religiösen versichern.
Wird es eine solche Klasse je geben? Das könne man „in einem dichten Nebel nur erahnen“, geben Latour und Schultz zu. Vorläufig bleibe die politische Ökologie „der Name einer Kriegszone“.
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