Ungleichbehandlung der Brust

Freie Oberkörper für alle - oder für niemanden?

07:50 Minuten
Digitale Illustration in grünen Pastellton: Zu sehen ist eine weibliche antike Skulptur mit bedeckter Brust und einer pinken Sonnenbrille am Rande eine Swimmingpools.
Die Freibäder schließen. Aber einige Fragen, die Oberkörper und Brust betreffen, bleiben offen. © Getty Images / iStockphoto / akinbostanci
Von Johanna Tirnthal |
Audio herunterladen
Dürfen weiblich gelesene Personen bald oben ohne baden, ohne Probleme befürchten zu müssen? Viele Menschen fordern mehr Freiheit für Oberkörper auch in anderen öffentlichen Räumen – und andere das Abschaffen bisheriger männlicher Brustprivilegien.
Fahrraddemo in Berlin im Sommer 2021. Ein paar Hundert Aktivist*innen radeln übers Tempelhofer Feld, viele Männer im BH und die Frauen – oben ohne. Die Demo war eine Reaktion auf einen Fall wenige Tage zuvor: Eine Frau ohne Oberteil war von der Polizei von einem Wasserspielplatz verwiesen worden. Die Gruppe, die immer wieder zu solchen Demos aufruft, heißt „Gleiche Brust für alle“.
„Das ist ein Zusammenschluss von Aktivist*innen in vielen Städten Deutschlands – Berlin, Dresden, Göttingen, Augsburg, Heidelberg und noch viele weitere. Was wir gemeinsam betreiben, ist eine Petiton auf change.org“, erklärt Jori. „Ich bin 34 Jahre alt. Das Thema liegt mir schon lange am Herzen, weil ich das schon mein ganzes Leben sehr ungerecht finde.“
Es geht um eine Ergänzung des Verbotes der Ungleichbehandlung.

„Was wollen wir? Gleiche Brust für alle möchte, dass bundesweit in Ergänzung zu Artikel 3 des Grundgesetzes sowie der lokalen Kleiderordnungen eine konkrete Regelung geschaffen wird, die eine explizite Erlaubnis beinhaltet, dass alle Personen unabhängig des Geschlechts sich gleichermaßen ohne Einschränkungen mit freiem Oberkörper bewegen dürfen.“

Auszug aus der Petition von „Gleiche Brust für alle“

Ich treffe Jori in der hellen Kanzlei eines Berliner Anwalts. Jori ist nicht die Frau, die vom Berliner Wasserspielplatz geflogen ist – aber Jori hat ein ähnliches Anliegen.

Ungleichbehandlung der Brust in der Reha

„Ich war im Frühjahr in einer Reha-Einrichtung, wegen eines Bandscheibenvorfalls, und sollte dort unter anderem Übungen im Wasser machen – und wurde davon ausgeschlossen, weil ich dort ohne Oberteil hingegangen bin, was ungerecht und doch sehr konsternierend für das Jahr 2022“, erzählt Jori.
Jori ist nichtbinär, möchte sich also weder dem männlichen dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Ich frage, welche Pronomen ich später benutzen darf.“ Ich benutze alle, am liebsten wild durcheinander gewürfelt“, so die Antwort.
Okay. Also: Gemeinsam mit seinem Anwalt Georg Fähle versucht Jori, Gleichbehandlung für ihre Brust zu erkämpfen.
„Ich wurde angesprochen, ob in diesem Fall juristisch etwas möglich ist. Ich sehe, dass da etwas möglich ist“, erklärt er.

Hier wird auch noch dazukommen, dass das Bundesverfassungsgericht 2017 mit der Entscheidung zum dritten Geschlecht auch noch mal ganz klar gesagt hat, dass von den Menschen nicht erwartet werden kann, sich geschlechtlich einzuordnen, gegenüber anderen Personen, dem Staat – letztlich sind das öffentliche Einrichtungen.

Georg Fähle, Anwalt

Forderung nach Schmerzensgeld

Wie die Badeanstalt, die Jori vom Reha-Schwimmen ausgeschlossen hat. Er wird Schmerzensgeld fordern, notfalls vor Gericht. Schließlich hat sie wegen der Ungleichbehandlung der Brust eine medizinische Leistung nicht erhalten.
Aber was ist überhaupt die rechtliche Grundlage, eine Brust in der Öffentlichkeit zu verbieten?
„Das wäre halt §118 Ordnungswidrigkeitengesetz und dann gibt es einen strafrechtlichen Ansatzpunkt, das ist der 183a StGB“, erklärt Georg Fähle. „Hier würde es tatsächlich um ein sexuelles Verhalten gehen. Das wäre die ‚Erregung öffentlichen Ärgernisses‘. Hier wird man wohl sagen können, dass das bloße Zeigen des nackten Körpers für sich genommen noch keine sexuelle Handlung ist.“
Was den Ordnungswidrigkeiten-Paragrafen zur Belästigung betrifft, argumentiert Georg Fähle mit dem geänderten Sittengefühl – und eben mit dem Grundgesetz: Paragraf 3 müsste eigentlich verbieten, Brüste ungleich zu behandeln.

Debatte nicht auf Bäder beschränken

Wichtig wäre mir noch, dass sich diese Debatte nicht auf Badeeinrichtungen zuspitzt, weil es gibt noch viele andere Orte im öffentlichen Raum, wo es normal ist, männlich gelesene Oberkörper mit flachen Brüsten zu sehen. Aber sobald sich eine runde Brust dazwischen tut, wird das immer noch als Stein des Anstoßes gesehen – und da müsste auch noch viel mehr getan werden.

Jori, Aktivist*in

Die Normen und Gesetze, was das betrifft, sind weniger alt, als wir denken. So wurde zum Beispiel Oberkörperfreiheit für Männer in den USA erst 1936 legalisiert. 1934 war Clark Gables nackter Oberkörper im Film „Es geschah in einer Nacht“ noch ein Skandal.
1935 mussten 42 Männer in Atlantic City insgesamt 87$ Strafe bezahlen, weil sie oben ohne waren – die Stadtbeamten postulierten damals: „We’ll have no gorillas on our beaches“.
Ein Ort, an dem heute wieder über männliche Oberkörperfreiheit diskutiert wird, sind Musikfestivals.

Brust-Kontroverse beim Fusion Festival

Das Thema führte 2018 zu einer Debatte auf dem Fusion Festival, bei dem jährlich 80.000 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern zusammenkommen. Ich habe darüber mit Andrea und Eule aus der Festival-Organisation gesprochen.
„Es sind in einzelnen Crews Schilder aufgetaucht, oder am Tresen, wo draufstand: „No Shirt No Service‘“, erzählt Andrea.
Eule ergänzt: „Das hat sich am Anfang beschränkt auf Bars, wo klar war, ‚No Shirt No Service‘ heißt, du bekommst hier, wenn du ein männlich gelesener Cis-Mann bist, ohne Shirt nichts zu trinken.“
Cis-Mann – das bezeichnet jemand, der sich dem Geschlecht zugehörig fühlt, das bei der Geburt zugeschriebenen wurde. Die lateinische Vorsilbe „cis“ bedeutet „diesseits“ – im Gegenteil zu „trans“, was „jenseits“ oder „darüber hinaus“ bedeutet.
Auf dem Fusion-Festival wurden Eule und Andrea von der Aktion überrascht, sie war nicht intern abgesprochen. Hinter der Idee stehen mehrere Gründe. Einerseits bedeutet ein Festival volle Tanzflächen und schwitzende Körper: Da kann es schon mal unangenehm sein, wenn viele oben ohne sind und man ständig mit der nackten, schwitzenden Haut der anderen in Kontakt kommt.

Unreflektierte Privilegien der Männer

Andrea nennt einen weiteren Grund: „Es gibt Menschen mit Gewalterfahrungen, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, für die triggert das einfach auch bestimmte Erlebnisse oder Situationen. Das ist mit einer der Gründe.“
Es geht den No-Shirt-No-Service-Aktivist*innen darum, dass Männer ihre Privilegien reflektieren sollen: Frauen können nicht einfach so oben ohne auf einer Party herumlaufen, ohne sexualisiert zu werden. Das heißt: Männer würden sie, ob bewusst oder unbewusst, begaffen.
Eule erklärt: „Wir wollen, dass alle sich frei fühlen können, unabhängig von ihrem Geschlecht, auf der Fusion nackt rumzulaufen – und sich wohlzufühlen. Wenn das für Einzelne dann nicht möglich ist, dann muss man das Problem analysieren und muss überlegen, was ist zu tun. Aber: Das Shirt, hatten wir ja am Ende der Diskussion, das Shirt ist nicht das Problem, und vor allem: Das Shirt löst nicht das Problem.“
Das ist auch Joris Meinung: „Ich denke, dass alle dieselben Freiheiten genießen sollten. Aber wenn ich das für mich beanspruche, dann sollte es logischerweise für alle anderen auch gelten.
Mehr zum Thema