Bryan Stevenson: Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA
Piper Verlag, München 2015
416 Seiten, 20 Euro
Plädoyer für die Menschlichkeit
Der US-Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson hat allein im Bundesstaat Alabama 100 Todeskandidaten vor der Hinrichtung gerettet. Er sagt: Die meisten Opfer der US-Justiz sind arm, wenig gebildet - und schwarz. Stevensons Buch ist eine bedrückende Anklage gegen Rassismus, Polizeigewalt und Justizwillkür.
Einige Fakten: In den Vereinigten Staaten landet jeder dritte Afro-Amerikaner irgendwann im Gefängnis. Die Regierung gibt pro Jahr 80 Milliarden Dollar für Haftanstalten aus. 2015 wurden in den USA im Schnitt mehr als zwei Menschen pro Tag von der Polizei erschossen. Opfer dabei waren vor allem schwarze Bürger. Gemessen am Bevölkerungsanteil, doppelt so oft wie Weiße.
Im Buch des schwarzen Anwalts Bryan Stevenson geht es um die Todesstrafe – den extremsten Fall einer Staatsgewalt, die den Rachegedanken vor alle anderen Arten von Strafe und einer möglicherweise folgenden Resozialisierung stellt.
In "Ohne Gnade" schildert Stevenson seinen Kampf gegen ein unmenschliches System:
"Jeder von uns ist mehr als seine schlimmste Tat. Meine Arbeit mit den Armen und Inhaftierten hat mich gelehrt, dass das Gegenteil von Armut nicht Reichtum ist: Das Gegenteil von Armut ist Gerechtigkeit."
2,3 Millionen Menschen sind in den USA inhaftiert
Nirgendwo ist ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung hinter Gittern als in den USA. Anfang der Siebzigerjahre zählte man in den Vereinigten Staaten rund 300.000 Häftlinge, heute sind es 2,3 Millionen. Sechs Millionen Menschen sind nur zur Bewährung auf freiem Fuß. Stevenson, der sich seit Anfang der Achtzigerjahre darauf konzentriert, Todeskandidaten das Leben zu retten, schildert ergreifende Schicksale. Dabei geht die Schilderung der letzten Minuten oft an die Grenze des Erträglichen:
"Die Gefängnisbeamten schlossen die Elektroden falsch an, weshalb der Stromstoß nicht die vorgesehene Spannung erreichte. Als der Strom nach langen und quälenden Minuten schließlich abgeschaltet wurde, war Mr. Dunkins noch am Leben. (…) Die Beamten warteten eine Weile, bis der Körper sich, 'abgekühlt hatte'. (…) Sie schlossen (die Elektroden) erneut an, und diesmal gelang die Tötung."
Vom Rechtssystem zerstört
Einige Klienten kann Stevenson aus dem Todestrakt retten. Zum Beispiel Walter McMillian, wenn man so will, die Hauptfigur des Buches. Der Vorwurf, er habe 1987 in Alabama eine weiße Frau ermordet, war derart absurd konstruiert, dass McMillian schließlich freigesprochen wurde. Allerdings erst nach einem sechs Jahre währenden Kampf seines Anwalts und anderer Helfer – einem Kampf, den McMillian juristisch zwar für sich entschied – für den er aber einen hohen Preis zahlte. Das System hat ihn nicht getötet, aber es hat ihn zerstört. Walter McMillian starb 2013 einsam und verwirrt in einer sozialen Einrichtung.
"Die rassistischen Zurücksetzungen und Demütigungen wirken auf Dauer zersetzend. Als Schwarzer wird man dauernd verdächtigt, beschuldigt, misstrauisch beobachtet, für schuldig befunden und sogar gefürchtet. Die Bürde, die Schwarze damit zu tragen haben, lässt sich nur verstehen, wenn wir uns gründlich mit der Geschichte des Rassenunrechts auseinandersetzen."
Rassistische Lynchmorde als Vorläufer der modernen Todesstrafe
Genau daran fehlt es bis heute in den USA – trotz aller Fortschritte, trotz der Erfolge der Bürgerrechtsbewegung, trotz eines schwarzen Präsidenten. Stevensons Buch, das sich angesichts einer Vielzahl eindringlich geschilderter Fälle wie ein Roman liest, gleicht einer Folie, vor deren Hintergrund eine leider noch lange nicht beendete Geschichte abläuft.
"Der Rassenterror der Lynchmorde war in vieler Hinsicht der Vorläufer der modernen Todesstrafe. Die Vereinigten Staaten entschieden sich auch deshalb für die 'legalen' Hinrichtungen, um die gewalttätige Energie der Lynchjustiz zu kanalisieren und weißen Südstaatlern zu signalisieren, dass die Schwarzen am Ende mit ihrem Tod büßen würden."
Auch der Autor selbst ist vor Anfeindungen und Übergriffen nicht sicher. Diskriminierung, willkürliche Kontrolle und Auseinandersetzungen mit rassistischen Richtern gehören zu Bryan Stevensons Tagesgeschäft. Stevenson erhält verzweifelte Anrufe aus Todeszellen, er appelliert an ignorante Politiker und er setzt sich mit überforderten Justizangestellten auseinander.
Drastische Strafen gegen Behinderte und Jugendliche
Unter den Opfern des Systems, das er anprangert, sind auch geistig Behinderte und Jugendliche.
"Sie waren verurteilte Kinder, die lebendig in Erwachsenengefängnissen begraben und vergessen wurden und ohne Hilfe durch Angehörige und Anwälte in einer gefährlichen (...) Welt um ihr Überleben kämpfen mussten."
Immerhin setzte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten seit 2002 einige Grenzen: Geistig Behinderte und Minderjährige dürfen nicht mehr hingerichtet werden, zu lebenslänglich verurteilte Jugendliche haben ein Recht auf Haftprüfung und vorzeitige Entlassung.
Der Anwalt ist Freund und Tröster – bis zur letzten Minute
Denen, die Stevenson auf ihrem letzten Gang begleitete, hilft dies nicht mehr. Dennoch ist er ihnen mehr als nur Rechtsbeistand. Er ist Freund und Tröster, der trotz aller dunklen Wege ein Licht der Hoffnung verkörpert.
Einen Mann, für den er sich vergeblich eingesetzt hatte, zogen die Justizbeamten zu den traurigen Klängen des Spirituals "The Old Rugged Cross" aus seinen Armen.
Einhundert Verurteilte konnte der Bürgerrechtsanwalt Stevenson allein in Alabama vor der Hinrichtung bewahren. In den Jahren 2013 und 2014 vergingen achtzehn Monate ohne dass die Todesstrafe vollzogen wurde.
Es fällt schwer, nach Lektüre dieses Buches angesichts der wiederkehrenden Polizeigewalt gegen schwarze Amerikaner an Zufall zu glauben. Davor die Augen zu verschließen, hilft Niemandem. Nicht den Opfern, nicht den Tätern, und nicht denen, die die Vereinigten Staaten mögen und das Land verstehen wollen.
"Ohne Gnade" ist nicht nur spannende Lektüre. Es ist Gesellschaftsanalyse, es ist ein Auf- und Hilfeschrei, es ist nicht zuletzt der Beweis, dass Menschlichkeit immer eine Alternative ist.