Teßmann/Sen: "Denkfabrik Nachwuchsfußball"

Spielfreude first

07:22 Minuten
Nachwuchsfußballer im Zweikampf um den Ball
In ihrem Buch „Denkfabrik Nachwuchsfußball. Wie können wir es besser machen?“ schauen die Autoren Gora Sen und Leo-Jonathan Teßman z.B. auf die Nachwuchsarbeit bei Hertha BSC. © Imago / Eibner
Von Thomas Wheeler · 12.02.2023
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Zwei desaströse Weltmeisterschaften und eine enttäuschende Europameisterschaft: Der deutsche Fußball steckt in der Krise. Gora Sen und Leo-Jonathan Teßmann gehen in ihrem Buch der Frage nach, was der Nachwuchsfußball hierzulande besser machen kann.
Am 13. Juli 2014 wird das DFB-Team im legendären Maracana-Stadion in Rio de Janeiro zum vierten Mal Fußball-Weltmeister. Ein Land feiert und versinkt in Glückseligkeit. Nach den katastrophalen WM-Turnieren 2018 und 2022 und der enttäuschenden Europameisterschaft 2021 ist die überschwängliche Freude von einst längst in Ernüchterung umgeschlagen.

Teßmanns Erfahrung beim Hertha-Nachwuchs

Leo-Jonathan Teßmann hat viele Jahre erfolgreich in den Nachwuchsmannschaften von Hertha BSC gespielt – er sagt:
„Wir haben seit einigen Jahren eine ähnliche Krisensituation wie vor der Jahrtausendwende. Mit dem Unterschied, dass damals die Lösung war, mehr Ressourcen in den Nachwuchs reinzustecken. Und das ist jetzt nicht die Lösung, weil wir investieren unheimlich viel Geld, unheimlich viel Zeit in den Nachwuchsfußball. Nur der Ertrag lässt zu wünschen übrig.“

Karriereende mit 20 Jahren

Teßmann träumte von einer Profikarriere. Doch in der U19 stagnierte seine Entwicklung. Daraufhin wechselte er zu Hansa Rostock. Als er realisierte, dass er niemals Profi werden würde, beendete er mit 20 Jahren seine Karriere.
„Im letzten Jahrzehnt hat sich der Anteil der U23-Spieler in der Bundesliga nicht verändert, aber der Anteil ausländischer U23-Spieler davon ist massiv in die Höhe gestiegen - und der Anteil der deutschen U23-Spieler massiv runtergegangen. Ich glaube, dass uns dort in der Betrachtung des Talents so ein bisschen die Langfristigkeit fehlt. Wir gucken viel mehr auf den Istzustand, als auf das Potenzial, was der Spieler vielleicht mit sich bringt." 
Nach seinem Karriereende als Fußballer setzt Leo-Jonathan Teßmann andere Schwerpunkte. Aktuell studiert der 26-jährige Sportwissenschaftler Medizin. Mit Gora Sen kam er über die gemeinsame Arbeit am Buch „Denkfabrik Nachwuchsfußball – wie können wir es besser machen?“ intensiv in Kontakt. 

Wir würden sagen, wenn wir es nicht so streng auf den Erfolg ausrichten, dann sind wir eigentlich schon auf Kurs in Richtung der richtigen Antworten. Das ist vielleicht ein bisschen die große Geißel im deutschen Fußball, dass es die einzig wirklich stabile Tradition ist, die wir haben, erfolgreich zu sein und zu gewinnen. Also Punkt eins ist vollen Fokus auf Individualität. Zunächst mal eine enge Verbindung zwischen Spieler und Ball herstellen.

Gora Sen

Was sich sehr gut in der Spielform Funino erlernen lässt. Eine Kleinfeldvariante mit vier Toren ohne Torhüter. Der DFB will ab der Saison 2024/25 den bisherigen Ligabetrieb bis zur E-Jugend durch dieses Spielmodell ersetzen.

Sen arbeitet als DFB-Scout

„Das führt dann dazu, dass im Grunde genommen durch die kleinen Mannschaften jeder am Spiel teilnehmen kann. Wir müssen allen die Möglichkeit geben, soviel Beteiligung wie möglich erreichen zu können. Und wir werden in sechs bis acht Jahren völlig andere Fußballer haben, weil die, wenn sie früh anfangen in diesem Alter von fünf bis zehn Jahren, einfach so viel mehr Kontakte und so viel individuelles Geschehen gehabt werden, dass das darüber gar nicht mehr versaut werden kann.“
Gora Sen hatte mit dem Fußball bereits zahlreiche Berührungspunkte. Seit sechs Jahren arbeitet der 52-Jährige an einer privaten reformpädagogischen Schule. Dort verfolgen seine Kollegen und er einen spielorientierten polysportiven Ansatz. Außerdem ist er beim DFB als Scout in der Talentidentifikation beschäftigt.

Wie der Straßenfußball helfen könnte

Bei der Entwicklung kreativer Spielformen könne auch das Wiederbeleben des Straßenfußballs helfen, so Leo-Jonathan Teßmann. Das Spiel auf dem Bolzplatz wieder zu stärken und es auch in die organisierte Fußballwelt miteinzubeziehen, wäre ein Gewinn:
„Ich glaube, Berlin hat so um die 5000 Bolzplätze, und die sind zum größten Teil der Zeit leer, weil das Leben heute viel institutioneller geprägt ist. Dieses kreative, freie Spielen geht irgendwie verloren. Das heißt Kindergarten, Schule und Vereine zusammendenken, was den Sport angeht und dort Zeiträume schaffen, in denen das möglich ist.“

Bundesweit etwa 60 Nachwuchsleistungszentren

Wenn sich ein talentierter Junge im deutschen Fußball weiterentwickeln möchte, kann er dies – bei entsprechender Eignung -  in einem der bundesweit etwa 60 Nachwuchsleistungszentren, die auch Akademien genannt werden.  
„Das ist sicherlich ein Problem, dass Du als heutiger Akademiespieler nur bedingt das wahre Leben kennenlernst, zumindest viele andere Facetten des Lebens nicht kennenlernst. Das zeigt sich dann auch im Umgang mit Konflikten, im Umgang mit Problemen.“
„Im Umgang mit Alltag. Also quasi das Leben leben mit den ganzen Herausforderungen, die ja gar nicht so herausfordernd sind, wenn Du es jeden Tag machen würdest. Aber dir wird sehr viel abgenommen.“

„Es gilt einfach, die Kinder dazu zu bringen, dass selbst zu erleben, an der eigenen Haut sozusagen zu spüren, was es heißt, Verantwortung übernehmen zu müssen.“  

Trainer mit prägender Rolle

Auf diesem Weg übernehmen Trainer eine prägende sportliche und pädagogische Rolle. Wobei Leo-Jonathan Teßmann und Gora Sen dafür plädieren, im deutschen Fußball die Unterschiede zwischen Trainer und Coach stärker herauszuarbeiten und deutlicher voneinander zu trennen.
„Die Tradition bei uns in Deutschland ist eigentlich, dass wir hier immer vom Trainer reden. Wenn man sich aber den Trainer anschaut, dann ist der Trainer im Grunde genommen, derjenige, der die Organisation der Dinge im Blick hat.“

Die Bedeutung von Spaß und Freude am Spiel

Es ist nicht unwichtig, wer dir da gegenübersteht. Du bist interessiert an den Kindern, mit denen du da arbeitest - und diese Art, das ganze Erleben, also das Training und den Wettkampf. All das sind Dinge, die müssen begleitet werden. Diese Rolle werden eher durch Coaches übernommen. Und das ist bei uns total unterentwickelt.“
Reformen im Nachwuchsfußball halten Gora Sen und Leo-Jonathan Teßmann nur dann für zielführend, wenn sich diese nicht mehr vordergründig am Ergebnis- und Erfolgsdenken orientieren. Sondern vielmehr durch den Spaß und die Freude am Spiel. Sollte sich der DFB für diesen Weg entscheiden, so ihr Fazit, könne davon der gesamte deutsche Fußball profitieren.

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