Grace Paley: Ungeheure Veränderungen in letzter Minute. Storys
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Schöffling Verlag FFM 2014
256 Seiten, 19,95 Euro
Ein schillerndes Mütterpanoptikum
Im Dschungel des täglichen Lebens: In ihren Storys taucht die Amerikanerin Grace Paley ein in die verrückte Welt der überforderten Mütter, verantwortungslosen Väter und missratenen Kinder in der amerikanischen Unterschicht.
Die Amerikanerin Grace Paley schreibt so dicht und unvermittelt über die ganz normal verrückte Welt der überforderten Mütter, verantwortungslosen Väter und missratenen Kinder, dass man ihr gebannt in ihre schillernden Geschichten folgt. Die sie in schnörkellos realistischer Sprache erzählt und im derben Alltagsdasein oder in verdrehten Träumereien ansiedelt.
Den Leser erwartet keine geschliffene Prosa im herkömmlichen Sinn, obgleich zu schreiben, wie Grace Paley es tut, gewiss nicht weniger Schliff erfordert. Denn ihre oft schnoddrigen Sätze, scheinbar dahingeschludert, treffen akkurat ins Ziel, die Wahrheit des Lebens aufzuzeigen.
Auch der neue Erzählband "Ungeheure Veränderungen in letzter Minute" ist ein Ereignis. Und genau um solche Veränderungen geht es. Um die Sehnsucht und die Hoffnung, im letzten Moment dem eigenen Schlamassel zu entkommen. Wie die Heldin der Titelgeschichte, die aus dem Unfug ihres Lebens - unehelich im fortgeschrittenen Alter ein Kind zu bekommen - mit anderen Frauen ein Sozialprojekt aufbaut, das noch Jahre später in Fachzeitschriften erwähnt wird.
Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren und 2007 in Vermont gestorben, wusste, wie es zugeht im Dschungel des täglichen Lebens. Jahrelang habe sie, sagte sie einmal, auf Spielplätzen und in Schultreffen herumgesessen - da habe sie nur zuhören müssen.
Frauen sind die Heldinnen von Grace Paley
Sie hat gut zugehört. Hat mit Wonne und Scharfsinn die Diskrepanz aufgezeigt zwischen der jiddischen und der amerikanischen Welt der Einwanderer und ihrer Kinder, und hat die Turbulenzen des Lebens in der amerikanischen Unterschicht beobachtet und erzählt.
Denn diese Frau, als Schriftstellerin von Kollegen wie Philip Roth oder Donald Barthelme bewundert und gefördert, war auch eine politische Aktivistin. Die gegen den Vietnamkrieg protestierte und für soziale Gerechtigkeit und immer für die Rechte der Frauen.
Frauen sind ihre Heldinnen. Die, auch wenn sie selbst eher lasterhaft als göttinnengleich sind, versuchen, die Familien zusammenzuhalten, während die Männer haltlos dahintaumeln.
Faith ist eine davon. Einmal sitzt sie in einem Baum im Central Park. Dreieinhalb Meter über den anderen betrachtet sie von oben ihre Mitmütter. Die eine in Kaschmir, die andere in einem Baumwollrock "aus Leichentuchresten zu bestimmt nicht mehr als 14 Cent der Meter". Die eine "ein breiter Lastkahn", die nächste mit einem Wortschatz, der komplett nutzlos ist für ein moralisch aktives Leben. Ein Mütterpanoptikum – mit hinzutretenden Vätern.
Und für Faith so deprimierend, dass sie alles ändert in ihrem Leben: Job, Frisur und Gedanken. Sagt sie. Und fabelt zugleich mit fast hörbarem Kichern davon, wie fad es sicher wäre dort im Land der tiefen Gefühle und der Vernunft.
Man kann Paleys menschenkluge Geschichten, die daherkommen wie Slapstick-Getöse, kaum nacherzählen. Es sind die lichthelle Ironie, der furchtlose Witz, die menschenfreundliche Melancholie und die freche Unschicklichkeit, die den Geist dieser Storys ausmachen.