Die erwähnten Titel:
Khaled Hosseini: Am Abend vor dem Meer, S. Fischer
Christian Torkler: Der Platz an der Sonne, Klett-Cotta
Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten, Eichborn
Hugo Boris: Die Polizisten, Ullstein
Michael Kleeberg: Der Idiot des 21. Jahrhunderts, Galiani
Francesca Melandri: Alle, außer ich, Wagenbach
Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich, Aufbau
Wenn Flüchtlinge zum Romanstoff werden
Seit Jahren kreisen die großen gesellschaftspolitischen Debatten um Flucht, Vertreibung, Integration. Und das schlägt sich auch in der Literatur nieder: In diesem Herbst kommen besonders viele Neuerscheinungen zum Thema auf den Markt.
War es nach der erste Flüchtlingswelle, also nach dem berühmten Sommer 2015 eher das lebensbedrohliche Abenteuer der Flucht selbst, das sich in Sachbüchern, aber auch in Romanen und Erzählungen niederschlug, so ist das Thema inzwischen in der Mitte und in der Tiefe der Gesellschaft angekommen.
Autorinnen und Autoren hatten inzwischen offenbar Gelegenheit, mehr zu beobachten, Erfahrungen zu machen, Begegnungen zu haben und nachzudenken. Und worum geht es am Ende bei alledem, bei all den Fragen der Flucht, der Vertreibung, der Abwehr, der Gastfreundschaft, der Fremdheit, des Vertrauens: Es geht am Ende nur um eines, einzig und allein um die existenzielle Frage der Identität, existenziell für jedes Individuum, nicht minder existenziell für jede Gesellschaft. Und das ist genau der Sturm, der gerade tobt. Dessen Hintergründe bilden sich in diesen Romanen ab.
Große Gesellschaftsanalysen brauchen zeitlich mehr Abstand
Die Romane des Herbstes 2018 gehen da tiefer als die des Herbstes 2015. Und mancher, etwa der große west-östliche Identitätsroman "Der Idiot des 21. Jahrhunderts" von Michael Kleeberg (Galiani) oder Hugo Boris' aus dem Französischen übersetzte Abschiebungsroman "Die Polizisten" (Ullstein) hat eine Entstehungsgeschichte, die länger zurückreicht als in den Sommer 2015.
Andere, etwa Timur Vermes in seinem viel besprochenen "Die Hungrigen und die Satten" oder auch Khaled Hosseini in "Am Abend vor dem Meer" oder Christian Torkler in "Hier ist noch alles möglich" loten die Grenze zwischen Gesellschaftsanalyse und Satire aus. – Vielleicht ist das ja immer so: dass kurzfristig die Satire der griffigste literarische Weg ist, die am schnellsten greifende Technik der erzählenden Gesellschaftsanalyse darstellt, während große Gesellschaftsanalysen in Romanform, wie wir sie aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kennen, vielleicht mehr Abstand brauchen?
Wie tief und direkt das Thema Flucht ins Herz unserer Identität reicht, zeigt eine Publikation im Beck Verlag: "Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen", von Johann Hinrich Claussen.
Flucht und Migration auch im Film
Übrigens vollzieht sich dieselbe motivische Bewegung, die sich in der Romanproduktion ausmachen lässt, im Beriech der Filmproduktion, betrachtet man zum Beispiel als Gradmesser den die Berlinale der letzten Jahre: Den Wettbewerb hat im Februar 2016 mit Gianfranco Rosis "Fuocoammare" ein Dokumentarfilm über Lampedusa gewonnen.
Und auch hier tauchen immer mehr Flüchtlings- und Vertreibungsgeschichten im Programm auf, auch hier immer reflektierter – wie zum Beispiel im diesjährigen Wettbewerb mit Christian Petzolds "Transit", der einen Flucht-Roman aus den 40er-Jahren in ästhetisch völlig neuartiger, gewagter und viel diskutierter Aktualisierung mit der moralischen Konfliktlinie von heute sozusagen gleichsetzt.
Rückkehr zu historischen Stoffen
Und wo wir dabei sind: Noch eine Parallele lässt sich in den Entwicklungen von Kino und Literatur in den letzten Jahren sehr deutlich erkennen: Die (offene, endlich gestellte, drängende, nicht zu umgehende) Frage nach der Identität führt reflexartig und womöglich zwangsläufig zu einer Erkundung der Vergangenheit – der eigenen, der der eigenen Gruppe, des Volkes, der Nation oder der der anderen.
Und tatsächlich lässt sich in den deutschen Verlagsprogrammen in den letzten Jahren ganz klar eine Rückkehr zu historischen Stoffen ausmachen, wie sie lang verpönt waren. Dasselbe gilt für die Kinoprogramme, konkret etwa der Berlinale-Wettbewerb, in dem nicht zufällig im Jahrgang 2017 neben dem Eröffnungsfilm "Django" (Django Edwards und die Sinti und Roma im Dritten Reich) Filme wie "Der junge Karl Marx" oder "Viceroy's House" ("Der Stern von Indien") über die Unabhängigkeit Indiens und die Gründung Pakistans reüssierten.