Buch: "Todesursache: Flucht"

Die Menschen hinter den Zahlen sichtbar machen

Tausende von Schwimmwesten, die von Flüchtlingen genutzt wurden, stapeln sich auf einer Wiese auf Lesbos. Im Vordergrund ein schmutzig-rosa Kinderschuh.
Eine Szene aus Lesbos in Griechenland: ein rosa Kinderschuh steht einsam auf einer Wiese, im Hintergrund stapeln sich von Flüchtlingen genutzte Schwimmwesten. © dpa picture alliance / Zuma Press
Anja Tuckermann im Gespräch mit Moderator Axel Rahmlow |
Es ist eine klare Absage an einen aktuellen Zustand: Ein Autorenkollektiv hat für "Todesursache: Flucht" Biografien von Geflüchteten recherchiert. Für Herausgeberin Anja Tuckermann ist das Buch eine Zeichen gegen die "tödliche Gleichgültigkeit".
In den vergangenen 25 Jahren sind mehr als 35.000 Menschen auf der Flucht nach Europa oder nach ihrer Ankunft in Europa gestorben: auf dem Meer, in Lastwagen, an Grenzzäunen. Und laut dem europaweiten Netzwerk UNITED For Intercultural Action sind dies nur die belegten Todesfälle.
Weil diese Zahl sehr abstrakt ist, hat sich ein Autorenkollektiv zusammengetan, um die Schicksale dieser Toten zu personalisieren. Die Autoren verfassten das nun vorgestellte Buch: "Todesursache: Flucht". Darin ist eine Liste, die jedem dieser 35.000 Menschen einen Platz gibt, 337 Seiten lang. Die meisten Plätze sind Platzhalter ohne Namen, einige allerdings hat das Autorenkollektiv recherchiert und für das Buch aufgeschrieben.

70 der vielen Tausenden identifiziert

Für die Schriftstellerin Anja Tuckermann, eine der Herausgeberinnen, ist dieses Buch vor allem gerade jetzt sehr wichtig. Schließlich habe sich an der Todesgefahr für die Menschen auf dem Mittelmeer nichts geändert: "Es geht weiter, es sterben Menschen." All diesen Menschen wollen die Autorinnen des Buchs einen konkreten Namen geben, auch wenn es sehr schwer sei, die vielen tausenden Opfer zu identifizieren: "Wir haben mit Geflüchteten gesprochen, die haben uns die Namen ihrer Toten genannt und die haben wir dann eingefügt."
Porträtfoto von Anja Tuckermann und Kristina Milz
Anja Tuckermann und Kristina Milz haben das Buch "Todesursache: Flucht" herausgegeben.© Kerstin Land
Insgesamt seien für das Projekt 70 Tote recherchiert worden und für viele von ihnen seien Porträts verfasst worden: "Das heißt, man erkennt den Menschen hinter den Zahlen, ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Talente und zum Teil eben auch, was sie mitgemacht haben, bis sie dann schließlich doch gestorben sind", sagt die Autorin im Deutschlandfunk Kultur. So hätten die Autoren mit einem jungen Somali gesprochen, der konkret das Schicksal beschrieb von 19 Toten, die mit ihm meist in Gefangenschaft in Libyen waren: "Einer von ihnen hat sich den Aufsehern in den Weg gestellt, als die Aufseher die Frauen holen wollten, um sie zu vergewaltigen: Den haben sie erschossen."

Ignorieren der Fluchtkatastrophe

Die Autoren sprechen in einem der ebenfalls in dem Buch publizierten Essays von einer "tödlichen Gleichgültigkeit" und meinen damit die Haltung vieler Europäer gegenüber den Gefahren und gegenüber den Schicksalen der Flüchtlinge. Diese Gleichgültigkeit sei aber nur einer der Gründe für das Schweigen und Ignorieren dieser Fluchtkatastrophe in weiten Teilen Europas: "Es gibt eine Mehrheit, die ziemlich entsetzt ist, und die sich ohnmächtig fühlt, dass jetzt keine Seenotrettung mehr stattfindet, und es gibt bei anderen aber auch einige Ressentiments." Für die Menschen, die nach ihrer Flucht nun hier in Europa, in Deutschland, lebten, brauche es nicht Unsicherheit, ob sie auch hier bleiben könnten, sondern Stabilität, dass sie sich hier in Europa nun auf ein sicheres Leben verlassen könnten.
(sru)

Kristina Milz & Anja Tuckermann (Herausgeber): Todesursache: Flucht - Eine unvollständige Liste
Verlag Hirnkost, Berlin 2018, 400 Seiten, 3,99 Euro

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