Åsne Seierstad: Einer von uns - Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik
Kein & Aber, 2016, 544 Seiten
Vom "Loser" zum Massenmörder
Anders Breivik schien ein normaler Schüler zu sein, doch zu Hause quälte er Ratten. Seine psychisch kranke Mutter schrie: "Ich wünschte, Du wärest tot." In "Einer von uns" begibt sich die norwegische Journalistin Asne Seierstad auf die Spuren des Massenmörders.
Utøya, die kleine Insel etwa 30 Kilometer nordwestlich von Oslo am 22. Juli 2011: Schüsse sind zu hören, ein Polizist schreit "Raus hier, schnell". Andres Breivik ermordet 69 Menschen im Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation, zuvor hat eine von ihm gebaute Bombe im Osloer Regierungsviertel acht Menschen getötet.
Für viele Norweger sind diese Morde nach wie vor unfassbar, unbeschreiblich sind sie nicht! Auch wenn die Lektüre des Buches "Einer von uns" in Teilen schwer fällt, am schwersten gleich zu Beginn: Da schildert Åsne Seierstad das Sterben der jungen Menschen so eindringlich, als liege man selbst neben ihnen, hinter Felsen verkrochen und doch nicht sicher vor Breivik, als sei man selbst dessen nächstes Opfer.
"Ich wünschte, Du wärest tot!"
Seierstad ist Journalistin. Sie hat in Afghanistan, Tschetschenien oder im Irak Schreckliches erlebt und darüber berichtet. In den "Fall Breivik" ist sie unmittelbar nach der Tat "eingestiegen", hat akribisch recherchiert und erzählt "die Geschichte eines Massenmörders" packend in einer Mischung aus "True Crime" und Dokumentation, geht ein auf die Fragen, die noch immer alle bewegen. Vor allem diese: Hätte die Bombe und hätten die Morde verhindert werden können? Wer ist dieser Breivik, wie wurde er zum Monster?
Seierstad beschreibt seine ersten Lebensjahre: Nach der frühen Scheidung der Eltern in einem "guten" Viertel Oslos aufgewachsen, aber bei einer psychisch kranken Mutter, die den Jungen anschrie: "Ich wünschte, Du wärest tot." Da war Breivik gerade vier Jahre alt. Psychologen rieten, ihren Sohn in ein Heim zu geben. Aber das passiert nicht. Es passiert gar nichts.
"Wir reden hier über jemanden, der in der sehr frühen Kindheit große Probleme hatte. Aber dann sind die Probleme plötzlich verschwunden? Man kann also nicht sagen, ein Lehrer hätte etwas merken müssen oder ein Nachbar. Generell heißt das aber, wir müssen uns mehr um Kinder und Jugendliche kümmern und solche, die auf dem falschen Weg sind."
Denn ihre Recherchen ergaben, dass Breivik sehr wohl "anders" war. Er hatte Ratten als Haustiere und quälte sie. Er suchte Anschluss in unterschiedlichen Cliquen, unter anderem bei Graffitisprayern, war Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei - und passte doch nirgendwo richtig hinein, blieb immer der "Loser", der Außenseiter, der als junger Erwachsener wieder bei der Mutter einzog und sich jahrelang in Computerspielen verlor, der dann einen abgelegenen Hof mietete, dort die Bombe baute und die Morde plante.
Er blieb der Außenseiter, der "Loser"
Warum hat das niemand bemerkt? Warum hat man den kleinen Anders nicht seiner Mutter weggenommen? Und später, als er losschlug: Warum hat ihn die Polizei nicht früher gestellt? Weil viele versagt haben, so Seierstad: "Das hat mein Land erschüttert, aber nicht in seinen Grundfesten."
"Norwegen hat sich verändert, ja, wir wurden angegriffen und sind plötzlich verwundbar. Es hat sich gezeigt, dass wir nicht so perfekt waren, wie wir immer dachten. Und dann sind wir auch verletzt. Es gibt jetzt diese tiefe Wunde. Aber andererseits ist das Land stark und das ändert sich nicht durch die Taten eines Mannes."
Und in Seierstads Augen findet Norwegen gerade wieder zur alten Stärke zurück. Als Beweis nennt sie den aktuellen Prozess "Breivik gegen den Staat", den er zunächst teilweise gewonnen hat mit seiner Klage gegen die aus seiner Sicht und auch aus Sicht des Gerichtes "unmenschliche" Isolationshaft. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt, aber allein die Tatsache, dass man dem schlimmsten Verbrecher des Landes diese Klagemöglichkeit gibt, zeugt für die Autorin von der Überlegenheit des norwegischen Staates und Rechtsstaates.
"Die Justiz hat nicht versagt"
"Ich habe den Prozess eine Woche lang verfolgt und gedacht: Ja, das ist okay. Am 22. Juli 2011 hat unsere Polizei versagt, aber die Justiz jetzt eben nicht. Weder im ersten Prozess gegen Breivik, noch im aktuellen Verfahren. Norwegen will nicht wegen eines Extremisten die Gesetze ändern. Wir wollen ihn nicht schlechter behandeln als andere und das tun wir auch nicht."
Zumal sie davor warnt, Breiviks Einfluss auf die rechtsextreme Szene zu überschätzen. Für Åsne Seierstad bleibt er ein schrecklicher, aber eben ein Einzeltäter. Sie hat keine Angst vor einem neuen Utøya.
"Er hat wohl nicht die Fähigkeit, Nachahmer zu inspirieren. Ja, am Anfang gab es viele Fans, vor allem in Osteuropa - und die offene Unterstützung führender russischer Rechtsextremisten. Das hat es aber im Westen Europas nie gegeben. Was er getan hat, war einfach zu extrem."