Schostakowitsch als Fußball-Fan
Die russische Geschichte durch das Brennglas Fußball betrachtet - das bieten Buch und Ausstellung "Russkij Futbol" im Deutsch-Russischen Museum in Berlin. Wer wusste schon, dass der Komponist Schostakowitsch Zerstreuung bei Spielen von Zenit Leningrad fand.
Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert Halbzeit, ohne deutsche Mannschaft, aber mit dem Gastgeber: Russland trifft am Sonntag im Achtelfinale auf den Favoriten Spanien. Die WM war lange umstritten, doch dabei ging etwas unter: Russland blickt auf eine Fußballtradition von fast 120 Jahren. Eine Ausstellung bietet nun einen historischen Streifzug mit erstaunlichen Verbindungen.
"Gipfel der Freude" ist keine Sinfonie, sondern ein Fußballspiel
Die siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch ist legendär. Komponiert während der deutschen Belagerung Leningrads, dort aufgeführt am 9. August 1942. Von Musikern, die unter Hunger und Krankheiten litten. Schostakowitsch gilt in Russland als einer der wichtigsten Komponisten überhaupt. Für die einen war er Vorzeigekünstler des Staates, für die anderen war er nicht sowjetisch genug. Was weit weniger bekannt ist: In diesem politischen Spannungsfeld suchte Schostakowitsch Ablenkung durch Fußball. Das amerikanische "Time-Magazin" zitiert ihn in einer Reportage 1942:
"Der Gipfel der Freude ist nicht der Moment, wenn man mit einer Sinfonie fertig ist, sondern wenn du heiser bist vom Rufen, deine Hände vom Klatschen brennen, deine Lippen trocken sind und du einen Schluck von deinem zweiten Bier nimmst, nachdem du mit 90.000 anderen Zuschauern darum gekämpft hast, den Sieg deiner Lieblingsmannschaft zu feiern."
Plakat-Ausstellung im Comicstil an 25 Orten
Fußball als Brennglas auf die russische Geschichte. Diesen Anspruch erheben die Herausgeber Martin Brand, Stephan Felsberg und Tim Köhler mit ihrem Buch "Russkij Futbol". Begleitet von einer Plakatausstellung im Comicstil. Der Berliner Illustrator Thomas Gronle hat Persönlichkeiten gezeichnet, die für unterschiedliche Epochen stehen. So verkörpert Dmitri Schostakowitsch die Brüche der 1930er und 1940er-Jahre. In seinem Ballett "Das goldene Zeitalter" gewinnt ein Fußballteam gegen Faschisten. Auf der anderen Seite wurde seine Musik als "volksfremd" bezeichnet. Schostakowitsch suchte Zerstreuung bei Spielen von Zenit Leningrad. Der Osteuropa-Forscher Martin Brand:
"Wenn ich das deuten sollte, würde ich sagen, ist es wahrscheinlich die Flucht aus diesem unglaublichen Druck, dem er ausgesetzt ist als bekannter Künstler. Zum einen, eine staatstragende Rolle zu spielen. Zum anderen aber auch immer wieder auf der Abschussliste zu stehen. Da ist für ihn, glaube ich, der Fußball eine Welt gewesen, in die er sich flüchten konnte."
Martin Brand hat für die Ausstellung lesenswerte Kurzbiografien geschrieben. Und Thomas Gronle fügte die Protagonisten in seinen Zeichnungen stets in einen politischen Kontext ein. So interpretiert er Schostakowitsch als nachdenkliches Genie am Klavier, im Hintergrund eine Stadiontribüne, gerahmt von einem Porträt Stalins. Die Herausgeber von "Russkij Futbol" hätten in ihrem Buch gern mehr russische Autoren zu Wort kommen lassen, doch das stellte sich als Schwierigkeit heraus. Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, weiß warum:
"Es ist ja ein merkwürdiger Zustand, dass es eine etablierte Sportgeschichtsschreibung in Russland eigentlich nicht gibt, sondern dass sich in der Hauptsache Sportjournalisten, ehemalige Sportler oder ehemalige Funktionäre mit der Sportgeschichte beschäftigen."
"Abhängigkeit des russischen Fußballs von der Politik"
Die Annäherung zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, später der Kalte Krieg, die Perestroika oder der staatlich gestützte Kapitalismus der Oligarchen – "Russkij Futbol" verdichtet die Auswirkungen auf den Fußball. Der Sporthistoriker Diethelm Blecking hat sich ausgiebig mit der sowjetischen Fußballgeschichte beschäftigt:
"Was interessant ist, ist die absolute Abhängigkeit des russischen Fußballs von der Politik. Absolute Politisierung. Und ganz klare Anweisungen von oben, die befolgt werden: gegen wen du spielen darfst, gegen wen du nicht spielen darfst. Dass aber auf der anderen Seite auch die sowjetische Führung immer dafür gesorgt hat, dass ihre Spieler auftraten als Botschafter einer besseren Welt. Es gab da also keine Spiele, die nicht besonders beobachtet worden wären."
Die Ausstellung "Russkij Futbol" wird zurzeit an 25 Standorten gezeigt, unter anderem im Deutsch-Russischen Museum in Berlin und einer Schule in Moskau. Doch sie ist auch in Vereinsheimen und Jugendeinrichtungen zu Gast. Die Herausgeber möchten Menschen jenseits der akademischen Nische erreichen. Der Fußball macht es ihnen leicht.